Читать книгу Der Zigeuner und die Jungfrau - D. H. Lawrence - Страница 6

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Inhaltsverzeichnis

Der nächste Tag war trübe und bedrückend grau, und die Straßen waren fürchterlich, denn es hatte seit Wochen geregnet; dennoch fuhr das junge Volk los, wie es geplant war, und zwar ohne Großmuttchens Brief mitzunehmen. Die Beiden entwischten, als die alte Dame nach dem Frühstück langsam die Treppenreise in ihr Zimmer machte. Um keinen Preis hätten sie bei Lady Louth Besuch gemacht. Die Witwe des geadelten Doktors, übrigens ein durchaus harmloses Geschöpf, war eine verhaßte Plage in ihrem Leben geworden.

Sechs junge Empörer waren sie, und sie saßen recht hochnäsig in dem Wagen, der durch den spritzenden Kot sauste. Aber auch ein wenig ratlos und verlegen sahen sie aus. Wenn man es recht bedachte, so gab es eigentlich gar nichts, wogegen sie sich hätten auflehnen können – für keinen von ihnen. Sie waren so ganz und gar frei in ihrem Tun und Lassen. Ihre Eltern ließen sie fast völlig tun, was ihnen beliebte. Da gab es keine Fesseln zu sprengen, da gab es kein Gefängnisgitter zu durchsägen und keinen Riegel zu brechen. Sie hatten den Schlüssel zu ihrem Leben in der eigenen Hand. Und schlenkerten damit umher, ohne ihn verwenden zu können.

Es ist so sehr viel leichter, Gefängnisriegel zu sprengen, als unentdeckte Tore ins Leben aufzuschließen. Das junge Volk pflegt die Wahrheit dieses Satzes mit einigem Ärger zu erfahren. Gewiß, da war Großmuttchen; aber – armes altes Großmuttchen, man konnte doch wohl schließlich nicht zu ihr sagen: »Du bist alt genug geworden; nun leg dich hin und stirb!« Wenn sie auch eine rechte alte Plage war – sie tat doch Niemandem jemals wirklich etwas zuleide. Es war nicht anständig, sie zu hassen.

Da fuhren nun also die Sechs und versuchten sich recht großartig und selbständig zu gebärden. Infolgedessen konnten sie natürlich gar nichts weiter tun, als im Wagen sitzen und eine Menge Abschätziges über andere Leute reden und ein bißchen spielerische Liebelei treiben, auf eine törichte Art, die eigentlich ziemlich langweilig war. Hätten sie wenigstens ein paar ›strenge Verbote‹ gehabt, die sich übertreten ließen! Aber nichts dergleichen war vorhanden: abgesehen allenfalls von dem nicht mitgenommenen Brief an Lady Louth, aber da war die Billigung des Pfarrers zu erwarten, denn er stand dem Familienprunkstück ebenfalls ablehnend gegenüber.

Sie sangen, ein bißchen durcheinander, die neuesten angeblich komischen Schlager, indessen sie durch die verdrossen aussehenden Dörfer fuhren. Im großen Park war das Wild in Rudeln bis dicht an die Straße herangekommen, Damhirsche und Rehe; sie ruhten im trüben Nachmittagsdämmer unter den Eichen an der Straße, als suchten sie den Anreiz menschlicher Gesellschaft.

Auf Yvettes Verlangen mußte der Wagen halten: sie wollte aussteigen und zu den Tieren reden. So stapften die Mädchen in ihren hohen Russenstiefeln durch das nasse Gras, indessen die Tiere ihnen mit großen, furchtlos erwartungsvollen Augen entgegenblickten. Der Hirsch trottete davon, ohne Hast, den Kopf, der das schwere Geweih trug, in den Nacken geworfen. Die Hindin aber, mit den großen Ohren wedelnd (ihre halberwachsenen Jungtiere waren um sie versammelt), blieb ruhig auf ihrem Platz unter dem Baume liegen, bis die Mädchen ganz dicht herangekommen waren; dann schritt sie leichtfüßig davon, den Schwanz von den gefleckten Flanken hebend. Die Kälber trotteten flink hinterdrein.

»Sind sie nicht furchtbar süß? Sieh mal, wie zierlich!« rief Yvette. »Ich möchte nur mal wissen, wie sie so behaglich in dem feuchten Grase liegen können.«

»Na, manchmal müssen sie sich ja wohl hinlegen, denk ich mir«, meinte Lucille. »Und unter den Bäumen ist es ganz hübsch trocken.« Sie besah sich das niedergedrückte Gras an der Stelle, wo die Tiere gelegen hatten.

Yvette ging hin und legte die Hand ins Gras, um zu erproben, wie es sich anfühlte.

»Ja –,« sagte sie zweifelnd, »ich glaube, es ist ein bißchen warm.«

Das Wild hatte sich in ganz geringer Entfernung wieder zum Rudel gesammelt und stand reglos im trüben Nachmittagsdämmer. Fern, am Fuße der grasigen und bewaldeten Hügelhänge, jenseits des rasch strömenden Flusses und des Geländers, das die Brücke säumte, hockte das mächtige herzogliche Schloß; aus ein paar Schornsteinen stieg bläulicher Rauch. Dahinter hoben sich purpurne Wälder.

Die Mädchen klappten die Pelzkragen ihrer Mäntel bis zu den Ohren auf und standen, mit den langen Armen schlenkernd, in stummer Betrachtung; ihre großen Russenstiefel schützten sie vor der Nässe des Grases. Das große Haus hockte vierkantig und gelblichgrau drunten. Ganz nahe bei ihnen, unter den alten Bäumen, stand da und dort in kleinen Rudeln das Wild. Und das Ganze war unendlich still, unendlich schlicht – und traurig.

»Ich möchte wohl mal wissen, wo der Herzog jetzt ist«, sagte Ella.

» Hier jedenfalls nicht«, sagte Lucille. »Der ist gewiß irgendwo im Ausland, wo die Sonne scheint.«

Von der Straße her rief die Hupe, und sie hörten Leos Stimme:

»Kommt doch, Jungens! Wenn wir noch auf den Head fahren und unten in Amberdale Tee trinken wollen, wirds hohe Zeit!«

Sie pferchten sich wieder in den Wagen, mit eiskalten Füßen, und fuhren los – durch den Park, vorüber am stumm ragenden Spitzturm der Kirche, hinaus durch das große Tor, über die Brücke, in das große, feuchte, steinerne Dorf Woodlinkin, das am Flusse lag. Von da ab ging es lange Zeit durch die schlammige und feuchte Dunkelheit des Tales, oft an steil aufragenden nackten Felsen dahin: zur einen Seite der Straße das brodelnde Wasser, zur anderen jähe Felsen oder düstere Bäume.

Schließlich, im Dunkel von Bäumen, die sich tief über die Straße neigten, ging es bergauf, und Leo ging auf den zweiten Gang zurück. Langsam und mühevoll kletterte der Wagen durch den weißlichgrauen Schlamm, in das steinerne Dorf Bolehill, das am Felshang hing; dann im Bogen um das alte Kreuz mit den Stufen davor: es stand an der Stelle, wo die Straße sich gabelte; vorüber an den niedrigen Häusern, aus denen ein wundervoller Duft von heißem Teekuchen kam; weiter, immer bergan, unter tropfenden Bäumen und vorüber an zerklüfteten, mit Farnkraut bewachsenen Abhängen – immer bergan. Schließlich verengte sich die Schlucht, die Bäume hörten auf, die Abhänge zur Rechten und zur Linken waren nun mit dürftigem, trübsinnigem Grase bewachsen; niedrige, aus rohen Steinen gefügte Mauern schlossen die Straße ein. Sie kamen auf den Kamm des Head.

Alle hatten schon seit einer Weile geschwiegen. Zu beiden Seiten der Straße zog sich ein Grasstreifen dahin; dann kam eine niedrige Steinmauer und die geschwungene Bogenlinie des Gipfels. Darüber der tiefhängende Himmel.

Unter dem tiefhängenden grauen Himmel, auf der kahlen Gipfelstraße lief der Wagen dahin.

»Soll ich mal einen Augenblick halten?« rief Leo.

»Oh ja!«

Und abermals kletterten die Mädchen aus dem Wagen, um einen Rundblick zu tun. Der Gipfel des Berges war ihnen seit langem vertraut. Und doch – wenn man auf den Head kam, mußte man einen Rundblick tun.

Die Hügel glichen den Knöcheln einer Hand; nach der Tiefe zu, zwischen den Fingern, waren die Täler, eng, steil und dunkel. Drunten, ganz tief, qualmte ein Eisenbahnzug, der langsam nordwärts kroch: ein winziges Geschöpf der Tiefenwelt. Wunderlich klang, vom Echo zurückgeworfen, der Lärm der Maschine herauf. Dann kam der dumpfe, altbekannte Ton einer Sprengung in einem Steinbruch.

Leo, unrastig wie immer, trieb zum Aufbruch.

»Wollen wir nicht weiter?« sagte er. »Wie ist's – wir wollten doch zum Tee nach Amberdale runterfahren? Oder wollen wirs mal irgendwo mehr in der Nähe versuchen?«

Nein; alle stimmten für Amberdale, und zwar für den ›Marquis of Grantham‹.

»Schön; und welchen Weg wollen wir auf der Rückfahrt nehmen? Wollen wir über Codnor und Croßhill fahren oder über Ashbourne?«

Das war die Frage, die sich jedesmal erhob. Schließlich wurde beschlossen: die Höhenstraße über Codnor sollte es sein. Mit prachtvollen Schwung sauste der Wagen los.

Nun waren sie auf dem Gipfel der Welt: auf dem Rücken der Faust. Er war kahl, wie ein Handrücken es ist; er war dem Himmel ganz nahe und von einem düsteren, schweren Grün. Wie Adergeflecht zog sich ein Netzwerk alter Steinmauern darüber hin und teilte die Felder, da und dort unterbrochen von den verfallenen Resten alter Bleibergwerke und Gruben. Ein einsam stehendes steinernes Gutshaus streckte sechs kahle spitze Bäume wie Borsten von sich. Fern war ein Dörfchen: ein grauer rauchender Steinhaufen. Auf einigen Feldern grasten düstergraue Schafe, stumm. Kein Ton war zu vernehmen, keine Bewegung zu sehen. Sie waren auf dem Dache Englands, und es war steinern und kahl, wie Dächer nun einmal sind. Fern, tief drunten, lagen die Grafschaften.

»All die Farben in den Grafschaften da unten –!« sagte Yvette zu sich selbst. Hier oben freilich gab's keine Farben. Ein Schwarm Krähen strich aus dem Nichts heran. Sie waren nickend und pickend über ein kahles frischgedüngtes Feld gegangen. Der Wagen lief zwischen den Grasstreifen und Steinmauern der Hochlandstraße dahin, und die Mädchen ließen stumm die Blicke wandern: hinaus über das ferne Netzwerk der Steinmauern unter dem Himmel, hinab zu den Krümmungen der Straße, deren Gefälle den Abstieg in eines der verborgenen Unterweltstäler ankündigte.

Vor ihnen fuhr ein leichter Karren, von einem Manne gelenkt; nebenher trottete eine stämmige ältere Frau, die einen Sack auf dem Rücken trug. Der Mann hatte sie eingeholt und hielt nun mit ihr Schritt.

Die Straße war schmal. Leo ließ heftig die Hupe dröhnen. Der Mann auf dem Wagen sah sich um; die Frau trottete stetig und rasch weiter, ohne auch nur den Kopf zu wenden.

Yvettes Herz tat einen Sprung. Der Mann auf dem Wagen war ein Zigeuner: einer von der schwarzen, ganz und gar unbekümmerten, hübschen Art. Er blieb auf seinem Karren sitzen, wandte sich und starrte unter dem Schirm seiner Mütze hervor die Insassen des Autos an. Seine Haltung war nachlässig, sein Blick unverschämt in seiner Gleichgültigkeit. Unter seiner schmalen, geraden Nase wuchs ein dünner schwarzer Schnurrbart; um den Hals trug er ein großes rot und gelb gemustertes seidenes Taschentuch. Jetzt sagte er ein Wort zu der Frau. Sie blieb eine Sekunde lang stehen, auf stämmigen Beinen, um sich umzudrehen und die Insassen des Wagens zu betrachten, der nun ganz dicht herangekommen war. Leo ließ abermals die Hupe dröhnen, mit gebieterischem Nachdruck. Die Frau, die ein grau und weiß gestreiftes Tuch um den Kopf geschlungen trug, wandte sich mit einer entschiedenen Schwankung, um wieder mit dem Karren Schritt zu halten; der Lenker hatte sich, auch er, wieder zurechtgerückt und hob die Zügel an, mit einer Bewegung seiner locker gehaltenen schmalen Schultern. Aber er wich nicht von der Straße.

Leo ließ die Hupe brüllen, indessen er auf die Bremse trat und der Wagen dicht hinter dem Karren seinen Lauf verlangsamte. Bei dem Lärm wandte sich der Zigeuner und sagte etwas, das sie nicht hören konnten; sein dunkles Gesicht unter der dunkelgrünen Mütze lachte, die weißen Zähne unter dem schmalen schwarzen Schnurrbart blitzten, und er machte eine Bewegung mit der dunklen lässigen Hand.

»Geht doch gefälligst aus dem Wege!« brüllte Leo.

Statt jeder Antwort brachte der Mann das Pferd, das nach dem Straßenrand zu ausbog, mit kundigem Griff zum Stehen. Es war ein tüchtiger Rotschimmel und ein tüchtiger, nett aussehender, dunkelgrün gestrichener Karren.

Der wütende Leo mußte durchbremsen und ebenfalls anhalten.

»Wollen die hübschen jungen Damen nicht ihre Zukunft hören?« fragte der Zigeuner auf dem Karren, und sein ganzes Gesicht lachte – nur die schwarzen aufmerksamen Augen nicht, die von Einem zum Andern wanderten und auf Yvettes zartem jungen Gesicht verweilten.

Eine Sekunde lang begegnete sie den schwarzen Augen: ihrem ganz unverhüllten Suchen, ihrer Unverschämtheit; ihrer vollkommenen Gleichgültigkeit gegen Leute wie Bob und Leo; und ein Feuer sprang auf in ihrer Brust. Sie dachte: »Er ist stärker als ich! Ihm ist alles gleich.«

»Oh ja! ja!« rief Lucille sofort.

»Oh ja!« stimmten die anderen Mädchen ein.

»Na hört mal! Wie lange soll denn das nun wieder dauern?« rief Leo.

»Dauern – ! Dauern – ! Irgendwer muß einem doch immer die Uhr unter die Nase halten!« rief Lucille.

»Na, also wenn es euch egal ist, wann wir nach Hause kommen – mir ist es nicht egal!« sagte Leo heldenhaft.

Der Zigeuner hatte mittlerweile lässig seitwärts auf seinem Karren gesessen und aufmerksam die Gesichter betrachtet. Nun sprang er von der Deichsel herab, mit etwas steifen Knieen. Er mochte etwas über dreißig Jahre alt sein und war gewiß nach den Begriffen seines Volkes ein schöner Mann. Er trug eine Art von Joppe, zweireihig, aus dunkelgrün und schwarz gestreiftem Fries, die nur bis zu den Hüften reichte; ziemlich enge schwarze Hosen, schwarze Stiefel und eine dunkelgrüne Kappe; dazu das breite rot und gelb gestreifte Halstuch. Sein ganzer zigeunerhafter Aufzug wirkte sonderbar elegant und war auch wohl verhältnismäßig kostspielig. Auch sah er hübsch aus, wie er jetzt mit dem ererbten Dünkel der Zigeuner das Kinn an den Kragen preßte und für die Fremden scheinbar keinen Blick mehr hatte, während er seinen guten Rotschimmel von der Straße führte, um den Karren zurückzusetzen.

Erst jetzt sahen die Mädchen, daß hier zur Seite der Straße eine tiefe Einbuchtung war, und daß zwei rauchende Wohnwagen dastanden. Yvette stieg rasch aus. Sie waren plötzlich an einen stillgelegten Steinbruch gekommen, der in den Felshang an der Straßenflanke geschnitten war; und auf diesem unvermittelt aufgetauchten Lagerplatz, der fast wie eine Höhle wirkte, standen drei für den Winter außer Betrieb gesetzte Wohnwagen. Ganz im Hintergrunde war auch eine aus Zweigen gebaute Hütte, die als Stallung für das Pferd diente. Der graue, grobe Felsen hob sich hoch über die Wagen empor und schwang sich im Bogen der Straße zu. Der Boden bestand aus geschichteten Steintrümmern, zwischen denen Gras wuchs. Es war ein wohlgeborgenes, behagliches Winterlager.

Die ältliche Frau mit dem Sack auf dem Rücken war in einen der Wagen gegangen und hatte die Tür hinter sich offen gelassen. Zwei Kinder schoben ihre schwarzen Köpfe durch die Tür und gafften herüber. Der Zigeuner stieß einen kurzen Ruf aus, während er den Karren rückwärts in den Steinbruch schob; worauf ein älterer Mann herauskam, um ihm beim Ausspannen zu helfen.

Nun ging der Zigeuner zu dem am neuesten aussehenden Wohnwagen, dessen Tür geschlossen war, und stieg die Stufen hinan. Ein unter dem Wagen angeketteter Hund bellte. Es war ein weißer, mit leberfarbenen Flecken gesprenkelter Jagdhund. Er stieß ein leises Knurren aus, als Leo und Bob herankamen.

Im gleichen Augenblick erschien in der Tür dieses Wagens eine dunkelhäutige Zigeunerin, die ein hellrotes Tuch um den Kopf und große goldene Ohrringe trug; ihr gefalbelter weiter grüner Rock schwang um ihre Beine, als sie die Stufen herabkam. Ihr kühnes, dunkles, längliches Gesicht war in seiner Art hübsch, wenngleich etwas darin an einen Wolf gemahnte. Man mußte an die kühnen umherziehenden Zigeuner Spaniens denken.

»Guten Morgen, meine Damen und meine Herren«, sagte sie und betrachtete die Mädchen mit ihren kühnen, gierigen Augen. Sie sprach mit der leichten Ungelenkheit fremden Beiklangs.

»Guten Abend!« sagte die Mädchen.

»Welche von den schönen kleinen Damen möchte hören ihre Zukunft? Muß mir dann geben ihre kleine Hand.«

Sie war hochgewachsen, und ihre Art, den Kopf vorzustrecken, hatte etwas Erschreckendes, wie eine Drohung. Ihre Augen wanderten vom einen Gesicht zum andern, sehr lebhaft, mit einem grausamen Forschen, das erspähte, was sie wissen wollte. Jetzt erschien der Zigeuner, offenbar ihr Mann, wieder oben an der Treppe; er rauchte eine Pfeife und hielt ein kleines schwarzhaariges Kind im Arm. So stand er da auf seinen geschmeidigen Beinen und sah sozusagen beiläufig, wie aus einer Ferne, auf die Gruppe herab: wobei er seine langen schwarzen Wimpern von seinen großen hochmütigen unverschämten schwarzen Augen hob. Sein Blick hatte etwas seltsam Durchdringendes. Yvette fühlte es, fühlte es in den Kniegelenken. Sie tat, als beschäftigte sie sich mit dem weißen gelbgefleckten Hund.

»Wieviel verlangen Sie, wenn wir alle uns wahrsagen lassen?« fragte Lottie Framley. Die sechs jungen Christen mit den frischen Gesichtern hielten sich mit deutlichem Zögern von der heidnischen Frau aus geächteter Rasse fern. »Alle miteinander? Damen und Herren – alle?« fragte die Frau mit listigem Blick.

»Nee, ich danke! Macht ihr, was ihr wollt!« rief Leo.

»Ich danke auch«, sagte Bob. »Also – ihr vier Mädels.«

»Die vier Damen?« sagte die Zigeunerin und ließ ihren listigen Blick von einer zur anderen wandern, nachdem sie Bob und Leo gemustert hatte. Und sie war sich schlüssig über ihren Preis. »Jede soll mir geben einen Schieling– und ein bißchen drauf für Glück? ein bißchen drauf!« Sie lächelte auf eine Art, die mehr wolfhaft gierig als schmeichlerisch war, und unter der samtenen Weichheit ihrer Worte war die harte Kraft ihres eisernen Willens spürbar.

»In Ordnung«, sagte Leo. »Einen Schilling pro Kopf. Aber machen Sie's ein bißchen kurz, ja?«

»Ach, du–!« rief Lucille ärgerlich. »Wir wollen doch alles hören!«

Die Frau holte unter einem der Wagen zwei Holzstühle hervor und stellte sie am Rade auf. Dann nahm sie die hochgewachsene dunkle Lottie Framley bei der Hand und bat sie, sich hinzusetzen.

»Ist Ihnen gleich, wenn alle Anderen hören?« fragte sie und sah Lottie neugierig ins Gesicht.

Lottie wurde dunkelrot vor Aufregung, als die Zigeunerin ihre Hand hielt und mit harten, grausamen Fingern über die Innenfläche strich.

»Oh, ja, mir ist es gleich«, sagte sie.

Die Zigeunerin sah aufmerksam in die Handfläche und folgte den Linien der Hand mit ihrem Zeigefinger, der hart und braun war. Aber sie hielt anscheinend auf Sauberkeit.

Und langsam gab sie ihre Wahrsagungen, während die Anderen zuhörten und laut ihre Bemerkungen dazwischenriefen. »Oh, damit ist Jim Baggaley gemeint! Du, das glaub ich nicht! Nein, das stimmt nicht! Eine schöne Frau, die unter einem Baume wohnt? Nanu, wer mag denn das wohl sein?«– bis Leo mit einer männlichen Warnung dazwischenfuhr.

»Hört doch auf, Mädels! Ihr verratet ja alles!«

Lottie, rot und verwirrt, trat zurück, und nun war die Reihe an Ella. Sie benahm sich viel ruhiger und gewitzter und versuchte die orakelhaften Worte zu deuten. Lucille platzte wieder mit ihren Bemerkungen dazwischen: »Na, also so was!« Der Zigeuner oben auf der Wagentreppe stand unerschütterlich, ohne irgendeinen erkennbaren Ausdruck. Aber seine kühnen Augen ließen Yvette keinen Augenblick los; sie fühlte den Blick auf ihrer Wange, auf ihrem Nacken, und sie wagte nicht den Kopf zu heben. Nur Bob Framley sah manchmal zu ihm auf und bekam den gleichen geraden unverwandten Blick der dunklen hochmütigen stolzen Augen in dem hübschen Gesicht als Antwort. Es war ein seltsamer Blick; es waren Augen, die zur Welt der Unterdrückten gehörten: war der Stolz des Geächteten, die halb spöttische Herausforderung des Ausgestoßenen, der die Befolger der Gesetze höhnt und seinen einsamen Weg geht. Während der ganzen Zeit blieb der Zigeuner droben stehen, das Kind im Arm, und sah zu, ohne irgendwie beteiligt zu sein.

Lucille ließ ihre Handlinien deuten: »Sie sind gewesen übers Meer, und dort haben Sie kennen gelernt einen Mann – einen braunhaarigen Mann – aber er war zu alt für Sie – –«

»Na, also so was!« rief Lucille und sah sich nach Yvette um. Aber Yvette hörte kaum zu; sie war geistesabwesend, erregt, war wieder einmal wie unter einem hypnotischen Bann.

»Sie werden heiraten in ein paar Jahren – nicht jetzt, aber in ein paar Jahren – vier vielleicht – und Sie werden nicht sein reich, aber sie werden haben genug – reichlich genug zum Leben – und sie werden wegreisen, einen langen Weg.«

»Mit Mann – oder ohne?« rief Lucille.

»Mit ihm –«

Als die Reihe an Yvette war und die Frau lange Zeit kühn und grausam forschend ihr Gesicht betrachtete, sagte Yvette nervös:

»Nein, ich glaube, ich will mir nicht wahrsagen lassen. Nein, ich will nichts wissen. Wirklich, ich möchte nicht.«

»Sie haben Angst vor etwas?« sagte die Zigeunerin grausam.

»Nein, nicht deshalb–« Yvette wandte sich unruhig hin und her.

»Sie haben ein Geheimnis? Sie haben Angst, daß ich es werde sagen? Kommen Sie – wollen Sie nicht gehen in den Wagen, wo niemand hört?«

Der Ton der Frau hatte etwas seltsam Lockendes und Eindringliches; Yvette war während des ganzen Vorganges unzugänglich und eigensinnig. Auch ihr zartes, schmales junges Gesicht hatte nun diesen Ausdruck des Eigensinns, der es seltsam hart erscheinen ließ.

»Ja«, sagte sie plötzlich. »Ja! Das möchte ich wohl tun!«

»Ach, Unsinn!« riefen die Anderen. »Zier dich doch nicht so!«

»Du, mach das lieber nicht!« rief Lucille.

»Doch!« sagte Yvette in dem trotzigen Ton, den sie zuweilen unvermittelt anschlug. »Ich tus. Ich gehe mit in den Wagen.«

Die Zigeunerin rief dem Manne auf der Treppe etwas zu. Er verschwand für ein paar Sekunden im Innern des Wagens; dann kam er wieder heraus, stieg die Stufen herab, setzte das kleine Kind ab – es stand auf unsicheren Füßen – und nahm es bei der Hand. So schlenderte er, ein wenig stutzerhaft mit seinen blanken schwarzen Stiefeln, seinen engen schwarzen Hosen und seiner enganliegenden Wolljoppe, langsam über den Platz mit dem verdorrten Farnkraut zwischen den Steinen, das watschelnde Kind an der Hand – zu der Asthütte in der Höhle grauen Felsgesteins, wo der ältere Mann eben dem Rotschimmel seine Haferration in die Krippe schüttete. Als der Zigeuner an Yvette vorüberkam, sah er ihr gerade in die Augen, mit seinem unverwandten, kühnen, unverhüllt dreisten Blick – dem Blick des Geächteten. Irgend etwas in ihr wurde hart und wehrte sich gegen diesen Blick. Zugleich war es ihr, als löste sich die ganze Oberfläche ihres Körpers auf und würde zu Wasser. Dabei stellte das unbenennbare harte Etwas in ihr fest, wie klar und untadelig sein Gesicht geschnitten war, wie schön die Linie seiner geraden, schmalen Nase, seiner Wangen, seiner Schläfen war; wie seltsam die dunkle, lockende Anmut seines ganzen Körpers, dessen Linien die graue Wolljacke so deutlich erkennen ließ: eine Anmut, die wie menschgewordene höhnische Herausforderung wirkte.

Als er langsam an ihr vorüberschritt und sich dabei in den geschmeidigen Hüften wiegte, dachte sie abermals: Er ist stärker als ich. Von allen Männern, die mir je begegnet sind, ist dieser eine Einzige stärker als ich – in dem, was meine eigene Kraft ausmacht, in der Art, wie ich das Leben begreife.

So erkletterte sie neugierig hinter der Frau die Stufen des Wagens; der Saum ihres gutsitzenden gelbbraunen Mantels schwang um ihre Beine und gab unter dem blaßgrünen Stoff des Kleides beinahe die Kniee frei. Sie hatte lange, langausschreitende, feingeformte Beine, die eher zu schlank als zu stark waren, und trug Strümpfe aus feiner Wolle mit einem wunderlichen hellen und rehfarbenen Muster: man mußte an die Beine eines anmutigen Tieres denken.

Oben auf der Treppe blieb sie stehen und sah sich nach den Anderen um, freundlich; dabei sagte sie in ihrer unbefangen hochmütigen Art, so beiläufig:

»Ich sorge dafür, daß es nicht lange dauert.«

Der graue Pelzkragen ihres Mantels stand nun offen und ließ ihren zarten schlanken Hals und den blaßgrünen Stoff ihres Kleides sehen; ihr kleiner schmiegsamer gelbbrauner Hut war tief auf die Ohren herabgezogen und umrahmte ihr weiches frisches Gesicht. So wirkte sie: weich und doch irgendwie hochmütig und bedenkenlos. Sie wußte, daß der Zigeuner sich umgewandt hatte, um ihr nachzusehen. Sie sah sehr deutlich die schöne Linie seines braunen Nackens unter dem sorgsam gebürsteten schwarzen Haar. Er blickte hinter ihr her, als sie sein Haus betrat.

Was die Zigeunerin zu ihr sagte, hat niemand je erfahren. Die Anderen fanden, daß es sehr lange dauerte. Aus dem düsteren Tageslicht wurde Dämmerung, und die Luft wurde rauh und kalt. Aus dem Schornstein des zweiten Wohnwagens stieg Rauch; es roch nach kräftigem Essen. Das Pferd war gefüttert und in eine mit Riemen befestigte gelbe Wolldecke gehüllt; fern von der Gruppe standen zwei Zigeuner und unterhielten sich gedämpft. Es lag eine seltsame Stimmung über dem einsamen, verborgenen Steinbruch – Schweigen und Geheimnis.

Endlich öffnete sich die Wagentür, und Yvette kam heraus; sie beugte sich vor und schritt auf langen zauberhaften schlanken Beinen die Stufen herab. Es war eine ehrfürchtige, gebannte Stille um sie her, als sie im Dämmerlicht unter den Anderen erschien.

»Hat's lange gedauert?« fragte sie gedankenlos und ohne Irgendwen dabei anzusehen. Was die Anderen hören wollten, verschwieg sie mit dem sanften, ungreifbar schweifenden Eigensinn, der ihre Art war. »Hoffentlich habt ihr euch nicht gelangweilt! Jetzt freu ich mich aber auf den Tee. Wollen wir fahren?«

»Steigt nur ein!« sagte Bob. »Ich zahle inzwischen.«

Die Zigeunerin kam die Treppe herab; der weite metallisch glänzende Rock aus jadegrünem Alpaka schwang um ihre Beine. Sie richtete sich zu voller Höhe auf: eine hochgewachsene, siegesbewußt blickende Frau mit einem dunklen Wolfsgesicht. Das blaßrote, mit roten Rosen gemusterte Kaschmirtuch um ihren Kopf war zur Seite geglitten und ließ ihr krauses schwarzes Haar sehen. So stand sie im Dämmerlicht und betrachtete die jungen Leute mit kühnem anmaßendem Blick.

Bob steckte ihr zwei halbe Kronen in die Hand.

»Ein klein bißchen mehr, für Glück, für Glück Ihrer jungen Dame«, schmeichelte sie – es klang wie schmeichelndes Wolfswinseln. »Noch ein klein bißchen Silber, zu bringen Glück.«

»Sie haben schon einen Schilling für Glück gekriegt, das langt«, sagte Bob gelassen, während sie zum Wagen gingen.

»Noch ein klein bißchen Silber! Nur ein klein bißchen, für Ihr Glück in Liebe!«

Yvette, mit einer der plötzlichen weitausschwingenden erregenden Bewegungen ihrer langen Schenkel, schwang sich in dem Augenblick herum, als sie in den Wagen stieg; sie ging, den langen Arm ausgestreckt, auf die Zigeunerin zu und steckte ihr etwas in die Hand. Dann kam sie zurück und stieg ein – gebückt, da sie so groß war.

Der Anlasser sirrte einmal, zweimal leidenschaftlich, dann sprang der Motor an. Leo schaltete das Licht ein, und sogleich versank der Steinbruch mit den Zigeunern hinter ihnen in der Schwärze der Nacht.

»Gute Nacht!« rief Yvettes Stimme, als der Wagen anfuhr. Ihre Stimme übertönte als einzige das Geräusch des Motors, lustig und herausfordernd keck in ihrer Achtlosigkeit. Die Scheinwerfer beglänzten mit scharfem Licht die zu Tal führende Steinstraße.

»Yvette, jetzt mußt du uns aber mal erzählen, was sie dir gesagt hat«, rief Lucille, unbekümmert darum, daß Yvette durch ihr Schweigen den Wunsch ausdrückte, nicht gefragt zu werden.

»Oh, nichts – jedenfalls gar nichts Aufregendes«, sagte Yvette mit unechtem Eifer. »Bloß den üblichen alten Quatsch: von einem dunklen Mann, der Glück bedeutet, und von einem hübschen Manne, der Unglück bedeutet; und von einem Todesfall in der Familie, und wenn damit Großmuttchen gemeint ist, dann wäre es ja schließlich nicht so furchtbar schlimm; und ich soll mit dreiundzwanzig Jahren heiraten und einen Haufen Geld kriegen und furchtbar viel Liebe und zwei Kinder. Klingt alles riesig nett, aber ich finde, es ist doch ein bißchen zu viel des Guten, nicht?«

»– und warum hast du ihr noch mehr Geld gegeben?«

»Na, weil es mir eben Spaß machte. Man muß ein bißchen großzügig sein gegen solche Leute – –«

Der Zigeuner und die Jungfrau

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