Читать книгу Der Zigeuner und die Jungfrau - D. H. Lawrence - Страница 8
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ОглавлениеEs war kurz vor der Teestunde. Zur Seite des kurzen Fahrweges, der vom Hause zum Heckentor führte, waren die Schneeglöckchen schon heraus, und auf der nassen Grasfläche, die sich zum Fluß hin senkte, arbeitete der Gärtner an den runden, feuchten Blumenbeeten. Am Heckentor vorüber führte die weißliche schlammige Fahrstraße, um dann fast unmittelbar auf die steinerne Brücke zu münden und jenseits des Flusses in einem Bogen zu dem enggedrängten, steinernen, rauchigen Hochlandsdorfe hinanzuklettern: es hockte auf steiler Höhe über den düsteren Steinbrüchen, auf die Yvette durch das schmale Tal hinabsah, und deren schlanke Schornsteine hoch und gerade aufragten.
Das Pfarrhaus lag auf dem einen Ufer der Papple in dem ziemlich engen Tal, das Dorf auf dem anderen Ufer des raschfließenden Stromes, über dem Tal und ein Stück weiter flußabwärts. Hinter dem Pfarrhause stieg der Hügel steil an, und die Landstraße verschwand in einem Gehölz düsterer kahlstämmiger Lärchen. Unmittelbar gegenüber dem Pfarrhause, auf dem anderen Ufer, stieg die Böschung schroff und buschig an zu den kahlen Wiesen am Hügelhang; noch weiter bergaufwärts stand Wald, da und dort unterbrochen von grauem Felsgestein.
Von dieser Ecke des Hauses konnte Yvette freilich nur die Landstraße sehen, die einen Bogen um die Mauer mit der Lorbeerhecke beschrieb, dann zur Brücke hinabführte und jenseits um die Bergschulter herum, hinter den Steinmauern der abschüssigen Felder, den ersten harten Häuserklumpen des Dorfes Papplewick erreichte.
Immer verweilte Yvette zögernd am Fenster auf dem Treppenabsatz, immer meinte sie, irgend etwas müßte doch einmal auf der Straße von Papplewick her zu Tal kommen. Oft kam ein Karrenwagen oder ein Auto oder eine Lore mit Steinen oder ein Arbeiter oder jemand von den Dienstboten. Niemals aber kam Einer am Flusse daher, der ›trali-trala‹ sang. Die Trali-trala-Tage waren, so schien es, dahin.
Diesmal aber war es anders; diesmal kam, um die Biegung der weißgrauen Landstraße, zwischen den Grasstreifen und den niedrigen Steinmauern, ein guter Rotschimmel wacker und munter herabgeschritten; der Lenker des leichten Karrenwagens, den er zog, war ein Mann mit einer Kappe auf dem Kopfe. Der Mann hielt sich mit lässigen Körperbewegungen auf dem schwankenden Karren im Gleichgewicht, indessen das Pferd im stummen düsteren Dämmerlicht des Nachmittags zu Tal schritt. Hinten aus dem Karren ragten lange Staubbesen aus Ried und Federn hervor und nickten auf ihren Rohrstielen.
Yvette stand dicht am Fenster; sie ließ die Vorhänge hinter sich zusammenfallen und umklammerte ihre nackten Oberarme mit den Händen.
Am Fuße des Abhanges, vor der Brücke, schlug das Pferd einen munteren Trab an. Der Karren ratterte über die Steinbrücke, die Besen wedelten und wehten durcheinander, der Karrenlenker, mit lässig schwingenden Bewegungen des Oberkörpers, saß wie schlafend. Es war ein Bild, wie man es wohl im Traum erblickt.
Als indessen der Wagen von der Brücke kam und an der Mauer des Pfarrhauses dahinfuhr, sah der Mann auf zu dem düsteren Steingebäude, das am Fuße des Hügels stand, als hätte es sich von der Straße dahin zurückgezogen. Yvettes um die Arme geklammerte Hände machten eine rasche Bewegung. Und ebenso rasch wurde, als er sie unter dem Mützenschirm hinweg erspäht hatte, sein tiefdunkles Räubergesicht wach und belebt.
Vor dem weißen Gittertor hielt er, immer noch zu Yvettes Fenster hinaufspähend, mit plötzlichem Ruck an; indessen Yvette, die immer noch ihre kalten, rotgefrorenen Oberarme fest umklammert hatte, immer noch gedankenverloren starr auf ihn herabsah.
Er gab mit einem raschen Ruck des Kopfes ein Zeichen und lenkte sein Pferd sorgsam von der Straße auf den Rasen. Dann schlug er, mit einer flinken und geschmeidigen Bewegung, das Segeltuchverdeck des Karrenwagens zurück, holte verschiedene Gegenstände hervor, nahm zwei oder drei von den Ried- oder Truthahnfederbesen heraus, bedeckte den Wagen wieder und wandte sich dem Hause zu. Er sah zu Yvette hinauf, als er die weiße Pforte öffnete.
Sie nickte ihm zu; dann rannte sie hastig ins Badezimmer, um ihr Kleid anzuziehen. Hoffentlich, dachte sie, habe ich so undeutlich genickt, daß er nicht genau weiß, ob ich genickt habe oder nicht. Und schon hörte sie, wie draußen Rover, der närrische alte Köter, sein tiefes heiseres Heulen ausstieß, und wie der dumme junge Trixie mit spitzem Gekläff dazwischenfuhr.
Yvette und das Hausmädchen kamen im gleichen Augenblick vor der Wohnzimmertür an.
»Ist das der Mann, der Besen verkaufen will?« fragte Yvette. »Dann lassen Sie nur.« Und sie öffnete die Tür. »Tante Cissie, draußen ist ein Mann, der Besen verkaufen will. Soll ich hingehen?«
»Was für ein Mann denn?« fragte Tante Cissie, die mit dem Pfarrer und der Mater beim Tee saß: denn die Schwestern waren diesmal vom Teetisch verbannt.
»Ein Mann mit einem Wagen«, sagte Yvette.
»Ein Zigeuner«, sagte das Hausmädchen.
Natürlich stand Tante Cissie sofort auf. Den Zigeuner mußte sie sich ansehen.
Er stand vor der Hintertür, am Fuße des steilen dunklen lärchenbestandenen Hügels. Die langen Staubwedel hielt er mit zierlicher Bewegung in der einen Hand, aus der anderen hingen etliche Gegenstände aus blankem Kupfer und Messing herab: eine Pfanne, ein Leuchter, Teller aus gehämmertem Kupfer. Der Mann sah sauber und gutgehalten, fast etwas stutzerhaft aus mit seiner dunkelgrünen Kappe und seinem zweireihigen grüngewürfelten Rock. Sein Auftreten aber war gedämpft und sehr gelassen: bei alledem war ein Hauch von Herablassung und Zurückhaltung darin.
»Heute etwas gefällig, meine Dame?« sagte er und sah Tante Cissie mit seinen schwarzen verschlagenen forschenden Augen an; seiner Stimme aber gab er einen sehr ruhigen, fast zärtlichen Klang.
Tante Cissie sah, wie hübsch er war; sie sah den biegsamen Bogen seiner Lippen unter dem schmalen schwarzen Schnurrbart; und schon war sie halb gewonnen. Hätte der Mann in seinem Benehmen auch nur die leiseste Spur von Gewaltsamkeit oder Zudringlichkeit gezeigt, so hätte sie ihm verächtlich die Tür vor der Nase zugeschlagen. Aber er brachte es fertig, in seine männliche Haltung eine so sachte und geschickte Andeutung von Unterwürfigkeit zu legen, daß sie zu zögern begann.
»Der Leuchter ist entzückend!« sagte Yvette. »Haben Sie den selbst gemacht?«
Und sie sah zu ihm auf, mit ihren unbefangenen, kindhaften Augen, die ebenso doppeldeutig zu blicken vermochten wie die seinen.
»Ja, meine Dame.« Eine Sekunde lang erwiderte er ihren Blick, und sie sah in seinen Augen wieder den Ausdruck unverhüllten Verlangens, der wie ein Zauber auf sie wirkte und ihr den Willen raubte. Ihr zartes Gesicht sah aus, als sänke sie in Schlaf.
»Er ist furchtbar hübsch«, murmelte sie geistesabwesend. Tante Cissie begann um den Leuchter zu feilschen; es war eine kurze, dicke Kupferröhre, die sich aus einer zweiteiligen Schale erhob. Mit geduldiger Zurückhaltung ging der Mann auf Tante Cissies Fragen ein; für Yvette, die nachdenklich am Türrahmen lehnte und zusah, hatte er keinen Blick.
»Wie gehts Ihrer Frau?« fragte sie plötzlich, als Tante Cissie ins Haus gegangen war, um den Leuchter dem Pfarrer zu zeigen und ihn zu fragen, ob das Stück den geforderten Preis wert war.
Der Zigeuner sah Yvette gerade in die Augen, und ein kaum merkliches Lächeln kräuselte seine Lippen. Seine Augen lächelten nicht mit: der Ausdruck des Begehrens in ihnen härtete sich zu starrem Glanz.
»Es geht ihr gut. Wann kommen Sie wieder zu uns herauf?« sagte er leise in einem vertraulichen Ton, der wie ein Streicheln war.
»Oh, ich weiß nicht«, sagte Yvette gedankenlos.
»Sie kommen Freitags, wenn ich da bin«, sagte er.
Yvette sah über seine Schulter hinweg ins Leere, als hätte sie nichts gehört. Tante Cissie kam zurück, in der Hand den Leuchter und das Geld, mit dem sie ihn bezahlen wollte. Yvette wandte sich gleichgültig ab, trällerte eine ihrer bruchstückhaften Melodieen und zog sich mit der ihr eigenen Rücksichtslosigkeit von der ganzen Sache zurück.
Dennoch stellte sie sich an das Treppenfenster, um ihn fortgehen zu sehen; und diesmal verbarg sie sich. Sie wollte wissen, ob der Mann wirklich irgendwelche Macht über sie hatte. Aber sehen sollte er sie jetzt nicht.
Sie sah ihm nach, wie er zum Heckentor hinab und dann zu seinem Wagen ging, mit seinen Besen und Pfannen. Er verstaute die Pfannen und Besen sorgsam im Karren und zog das Verdeck darüber. Dann, mit einem langsamen mühelosen Schwung seiner geschmeidigen Lenden, war er auf dem Karren und ließ die Zügel leicht auf den Rücken des Pferdes niederwippen. Schon hatte der Rotschimmel den Wagen hinweggezogen, die Räder ächzten bergan, und der Zigeuner war fort, ohne sich noch einmal umzusehen. War dahin wie ein Traum, der nichts als ein Traum war und doch ein Bann, den sie nicht abschütteln konnte.
›Nein, er hat keine Macht über mich, gar keine‹, sagte sie zu sich selbst: und sie sagte es ehrlich enttäuscht, denn es war ihr Wunsch, daß Irgendwer oder Irgendetwas Macht über sie gewinnen möchte.
Dann ging sie nach oben, um mit der bleichen und überreizten Lucille zu reden und sie zu schelten, weil sie sich durch nichts und wieder nichts dermaßen hatte aus der Fassung bringen lassen.
»Was erreichst du denn damit, daß du der Mater sagst, sie soll den Mund halten!« meinte sie lehrhaft. »Natürlich, Jedem soll man das ins Gesicht sagen, wenn er gemein wird. Aber sie meinte es wirklich nicht böse. Nein, das tat sie nicht. Und es tut ihr richtig leid, daß sie so was gesagt hat. Du hast gar keinen Grund, die Geschichte dermaßen aufzupusten. Komm, wir wollen über alle Toppen flaggen und zum Essen hinuntersegeln wie die Herzoginnen. Dann sehen sie, daß wir uns nichts draus machen. Los, komm, Lucille!«
Yvettes ziellos schweifende Lustigkeit, ihre wunderliche, ungreifbar entgleitende Art, einem unangenehmen Erlebnis auszuweichen, hatte etwas Seltsames und Verwirrendes; das war, als legten sich Einem Spinnweben übers Gesicht. Gewiß, die Heiterkeit steckte an. Aber es war dem Anderen dabei zumute, als wanderte er durch Herbstnebel, und der Wind triebe ihm Altweibersommer ins Gesicht. Man wußte nie so recht, woran man mit ihr war.
Aber sie brachte es fertig, Lucille zu überreden, und die Beiden zogen ihre besten Gesellschaftskleider an: Lucille ein grünsilbernes, Yvette ein blaßveilchenfarbenes mit türkisblauem Chenillebesatz. Ein bißchen Rot und Puder, dazu die besten Abendschuhe – und die Gärten des Paradieses begannen zu blühen. Yvette summte vor sich hin und betrachtete sich im Spiegel und setzte das unbefangenste Gesicht auf, das sie zustande brachte – was sie ›wie eine von den jungen Gräfinnen aussehen‹ nannte. Sie hatte eine ganz eigene Art, die Augenbrauen schräg nach oben zu ziehen und die Lippen zu spitzen und scheinbar die Beachtung alles Irdischen gänzlich von sich abzutun und durch die perlfarbenen Wolken ihrer ganz eigenen abgelegenen Welt zu schweben. Es war belustigend und nicht völlig überzeugend.
»Ich bin natürlich schön, Lucille«, sagte sie sanft. »Und du bist ganz einfach entzückend, wenn du ein bißchen vorwurfsvoll aussiehst, so wie jetzt. Du wirkst natürlich viel aristokratischer als ich, mit deiner Nase! Und wenn du diesen vorwurfsvollen Ausdruck in den Augen hast, dann siehst du noch besonders anziehend aus, und dann bist du wunderhübsch – ganz einfach wunderhübsch. Aber ich habe mehr Gewinnendes, auf meine Art, glaub ich. Meinst du nicht auch?« Und sie wandte sich der Schwester zu, völlig unbefangen, schalkhaft und doch undurchschaubar.
Was sie sagte, war durchaus aufrichtig und ehrlich. Sie sprach eben nur aus, was sie dachte. Neben diesen Gedanken aber war ein gänzlich anders geartetes Empfinden in ihr, das nicht minder mächtig war, und das ihre Worte nicht einmal andeuteten: das Empfinden nämlich, daß ein fremder Blick sie betrachtet hatte; nicht ihr Äußeres, sondern ihr Inneres, ihr verborgenes weibliches Selbst. Wenn sie jetzt ihren besten Staat anlegte und so verführerisch wie nur möglich aussehen wollte, so tat sie das alles nur, um die Macht unwirksam zu machen, die der Zigeuner über sie gewonnen hatte, als er sie ansah und sein Blick nicht ihr hübsches Gesicht, nicht ihre Anmut traf, sondern das dunkle bebende mächtige Geheimnis ihrer Unberührtheit.
Als der Gong zum Essen rief, gingen die Beiden aufgeregt zur Treppe; aber sie warteten, bis sie die Stimmen der Herren hörten. Dann ›segelten‹ sie hinunter und ins Eßzimmer: Yvette, mit sorgsamer Hand ihr Kleid glättend, freundlich und ein wenig geistesabwesend lächelnd, in ihrer ungreifbar schweifenden Art; Lucille, scheu und bereit, beim geringsten Anlaß in Tränen auszubrechen.
»Grundgütiger Himmel!« rief Tante Cissie, die ihre dunkelbraune gestrickte Sportjacke auch jetzt keineswegs abgelegt hatte. »Wie seht ihr denn aus? Was habt ihr denn vor?«
»Wir haben vor, mit der Familie zu speisen,« sagte Yvette unbefangen, »und wir haben unsere besten Fahnen gehißt, um den Anlaß würdig zu feiern.«
Der Pfarrer lachte laut, und Onkel Fred sagte:
»Die Familie weiß die hohe Ehre zu schätzen.«
Aber die beiden ältlichen Herren benahmen sich ganz ritterlich, und eben das war es, was Yvette wollte.
»Kommt mal her, laßt mich mal eure Kleider fühlen!« sagte die Mater. »Sind das eure besten? Es ist wirklich ein Jammer, daß ich sie nicht sehen kann!«
»Heute abend, Mater,« sagte Onkel Fred, »müssen wir die beiden jungen Damen zu Tisch führen, um uns der Ehre würdig zu erweisen. Willst du mit Cissie zu Tisch gehen?«
»Natürlich will ich«, sagte Großmuttchen. »Jugend und Schönheit haben den Vortritt.«
»Jedenfalls heute Abend, Mater«, sagte der Pfarrer wohlgelaunt.
Und er bot Lucille den Arm, während Onkel Fred Yvette führte.
Dennoch schleppte die Mahlzeit sich lustlos und langweilig hin. Lucille gab sich Mühe, eine heitere und ungezwungene Unterhaltung zu führen, und Yvette war so liebenswürdig wie nur möglich (in ihrer ungreifbar schweifenden Art, bei der man an Spinnweben denken mußte). In ihrem Unterbewußtsein aber, undeutlich, saß die Frage: Warum kommt es mir vor, als wären wir alle nur vergängliche Einrichtungsstücke? Warum ist nichts wichtig?
Dies war immer der geheime Kehrreim ihrer Gedanken: Warum ist nichts wichtig? Ob sie in der Kirche saß, ob eine Gesellschaft jungen Volkes sie umgab, ob sie in einem der Stadthotels tanzte – immer wieder stieg das Fragenbläschen an die Oberfläche ihres Bewußtseins: Warum ist nichts wichtig?
Es waren genug junge Leute da, die ihr den Hof machten; manche taten es sogar mit Leidenschaft. Aber sie schüttelte alle ungeduldig ab; sie konnte einfach nicht anders. Warum waren sie so belanglos? so aufreizend belanglos?
Sie dachte nicht an den Zigeuner; mit keinem Gedanken. Er war ein völlig bedeutungsloser Zwischenfall. Aber es kam ihr vor, als wäre der kommende Freitag sonderbar wichtig. »Was haben wir für Freitag vor?« fragte sie Lucille. Worauf Lucille antwortete, sie hätten für Freitag gar nichts vor. Und Yvette ärgerte sich.
Der Freitag kam, und sie mußte den ganzen Tag an den Steinbruch droben an der Landstraße auf dem Head denken. Sie wünschte, sie wäre dort. Das war alles, was ihr zum Bewußtsein kam. Sie wünschte, sie wäre dort. Aber es kam ihr nicht einmal entfernt in den Sinn, hinaufzufahren. Außerdem regnete es wieder. Aber indessen sie das blaue Kleid fertig nähte, um es morgen auf der Gesellschaft in Lambley Close tragen zu können, fühlte, ja fühlte sie, daß ihre Seele dort oben war, in dem Steinbruch, mitten zwischen den Wohnwagen, bei den Zigeunern. Es war, als träumte sie, oder als hätte man ihr die Seele gestohlen: sie war nicht mehr in ihrem Körper, in der Hülle, die ihr Körper war. Ihr eigentliches Selbst war weit weg, droben im Steinbruch, bei den Wohnwagen.
Am anderen Tage, auf der Gesellschaft, hatte sie keine Ahnung, daß sie Leo auf begeisternde Art auszeichnete. Sie hatte auch keine Ahnung, daß sie ihn der gemarterten Ella Framley ausspannte. Das kam ihr erst zum Bewußtsein, als sie ihr Pistazieneis aß; da sagte er nämlich:
»Warum verloben wir uns eigentlich nicht, Yvette? Ich glaube wirklich, daß wir beide großartig zueinander paffen. Wirklich.«
Leo war ein bißchen unfein, aber gutmütig und reich. Yvette fand ihn ganz lieb und nett. Aber verloben –? Was für ein ausgefallener Unsinn! Fast hätte sie gesagt: Willst du dich nicht mit einem Exemplar meiner seidenen Unterwäsche verloben?
Laut und in erstauntem Ton sagte sie: »Aber ich dachte doch, du wolltest dich mit Ella –?«
»Tja. Das hätt ich ja vielleicht auch getan, wenn du nicht wärst. Aber seit damals, als die Zigeuner da oben euch wahrsagten, hab ich immer denken müssen, daß kein Anderer zu dir paßt als ich, und daß keine Andere zu mir paßt als du.«
»So was –!« sagte Yvette, überwältigt von fassungslosem Staunen. »So was –!«
»Ist dir nicht auch ein bißchen so zumute gewesen?« fragte er.
»So was –!« Yvette schnappte noch immer nach Luft, lautlos, wie ein Fisch.
»Dir ist auch ein bißchen so zumute gewesen, nicht?« fragte er.
»Wieso? Inwiefern?« fragte sie rasch, wie erwachend.
»Ich meine: Du hast doch auch das Gefühl, daß ich für dich – ich meine, daß du für mich – –«
» Was für ein Gefühl? – daß wir uns verloben sollen, meinst du? Was? Ich? Nein! Wie kommst du denn auf so was?! Noch nicht mal im Traum ist mir etwas so Unmögliches eingefallen.«
Sie sagte es mit ihrer gewohnten achtlosen Aufrichtigkeit, ohne auch nur die geringste Rücksicht auf seine Empfindungen zu nehmen.
»Wieso denn nicht? Weshalb denn nicht?« fragte er ein bißchen gekränkt. »Ich meinte, du dächtest wie ich?«
»Hast du das tatsächlich geglaubt?« staunte sie atemlos, mit der sanften, ganz mädchenhaften, achtlosen Aufrichtigkeit, der sie ihre Bewunderer und ihre Feinde verdankte. Vor diesem unverkennbar vollkommenen Staunen blieb ihm nichts weiter übrig, als dazustehen und verärgert die Daumen zu drehen.
Die Musik setzte ein, und sie fühlte seinen Blick.
»Nein, ich will nicht mehr tanzen«, sagte sie. Und sie reckte sich auf und ließ den Blick ein wenig hochmütig in die Runde schweifen, als wäre Leo gar nicht vorhanden. Es lag etwas wie ein Hauch verwirrten Staunens auf ihrer Stirn, und wer ihr weiches verschleiertes unberührtes Gesicht sah, mochte sich wirklich an das Schneeglöckchen gemahnt fühlen, das ihres Vaters gefühlsselige Phantasie erdacht hatte.
»Aber du sollst natürlich tanzen«, sagte sie und wandte sich ihm mit einer Herablassung zu, die sehr jugendlich wirkte. »Hol dir eine Tänzerin, damit du zu deinem Recht kommst.«
Er stand auf, ärgerlich, und ging durch den Saal.
Sie blieb zurück, mit sanftem und fernem Lächeln, und überließ sich ihren verwunderten Gedanken. Auf alles Andere wäre sie eher gefaßt gewesen als auf einen Antrag Leos. Überhaupt – Verlobung? Unvorstellbar, an wen sie auch denken mochte. Gütiger Himmel, nein, etwas Unmöglicheres konnte es überhaupt gar nicht geben.
In diesem Augenblick geschah es, daß ein flüchtig aufblitzender Gedanke ihr das Vorhandensein des Zigeuners in Erinnerung brachte. Und sogleich war sie empört. Ausgerechnet Leo! Der –! Niemals!
»Aber warum denn eigentlich?« fragte sie sich und versank wieder in ihr stilles Verwundern. »Warum? Es ist vollkommen unmöglich: vollkommen! Aber warum?«
Die Frage war eine harte Nuß. Sie sah sich die jungen Herren an, wie sie durch den Saal tanzten, mit gespreizten Ellbogen, ausladenden Hüften und elegant betonter Schmalheit der ›Taille‹. Die brachten sie der Lösung der Frage nicht näher. Und doch spürte sie einen regelrechten Widerwillen gegen die gewaltsam betonte Eleganz der schlanken ›Taillen‹ und die ausladenden Hüften, die von den untadelig fallenden Rockkunstwerken ›erster‹ Schneider mit einer so weibisch wirkenden zarten Betonung bedeckt waren.
»Es ist etwas in meinem Wesen, das sie nicht sehen und auch niemals sehen werden«, sagte Yvette erbittert zu sich selbst. Und trotzdem fühlte sie sich erleichtert bei dem Gedanken, daß sie es nicht sahen und nicht sehen konnten. Das Leben wurde dadurch um so Vieles einfacher.
Und wieder sah sie – denn sie gehörte zu den Menschen, die in deutlich vorgestellten Bildern denken – das dunkelgrüne Wollwams des Zigeuners und seine schwarze Hose, sah seine schmalen, gelenkigen Hüften, die so behende waren wie Augen. Das, dachte Yvette, ist es, was ich elegant nenne. Die »eleganten« Tänzer kamen ihr vor wie ausgestopfte Anzüge; ihre Hüften sahen aus wie mit Fett gepolstert. Mit Leo war es genau so. Und er glaubte wunder was für ein guter Tänzer und Herzensbrecher zu sein!
Dann sah sie das Gesicht des Zigeuners: seine gerade Nase, die schlankgeschnittenen beweglichen Lippen, den geraden, unverwandten, deutungsvollen Blick, der wie ein tödlich sicherer Schuß eine verborgene Stelle im innersten Kern ihres Lebens traf.
Erbittert reckte sie sich auf. Wie durfte er es wagen, sie so anzusehen? Ihr wütender Blick ließ ihren Zorn an der Blödheit der hübschen Jünglinge auf der Tanzfläche aus. Wie ich sie verachte! Lachte sie. Mit der Verachtung, die Yvette in diesem Augenblick empfand, mögen wohl die zerlumpten Zigeunerweiber den Männern nachblicken, die keine Zigeuner sind, und die wie die wohlerzogenen Hunde durch die Straßen trotten. Woher, dachte Yvette, sollte aus der Gesellschaft da der recht gestimmte, der einsame und unwiderstehlich lockende Ruf kommen, der zu mir dringen könnte?
Sie hatte kein Verlangen danach, sich einem Haushunde zu gesellen.
Trotzig warf sie den Kopf in den Nacken, ihre zarten Nasenflügel zitterten nervös, ihr weiches braunes Haar umrahmte, eine weiche Umhüllung, ihr zartes blumenhaftes Gesicht; so saß sie und sann. Sie sah so mädchenhaft, so unberührt aus. Und doch gemahnte ein unbenennbarer Zug an die schlanke junge Hexe aus dem Bauernmärchen, von der sich die wohlerzogenen Haushunde von Männern mit scheuer Witterung fernhalten. Es konnte sich mit ihr irgendeine ungemütliche Verwandlung begeben, bevor man wußte, woran man war.
Dies war es, was sie einsam machte, so sehr man sie auch umwarb. Vielleicht machte gerade dieses Umworbenwerden sie nur noch einsamer.
Leo freilich war so etwas wie ein Bullenbeißer unter den Haushunden. Er kehrte nach dem Tanz mit frischem Mut zurück und ging mit Hurra zum Angriff vor.
»Na, jetzt hast du's dir wohl inzwischen ein bißchen überlegt, was?« fragte er und setzte sich neben sie: Leo Wetherell, ein behaglicher, gutgenährter, entschlossener junger Mann. Sie wußte nicht, weshalb es sie so unvernünftig aufbrachte, zu sehen, wie er voll heiteren Selbstvertrauens Platz nahm und seine verläßlichen, wenn auch nicht besonders edelgeformten Beine von sich streckte: wobei er das Beinkleid an den Knieen ein wenig anhob.
»Überlegt –?« sagte sie geistesabwesend. »Was denn?«
»Na, du weißt doch, was ich meine,« sagte er. »Was ist nun: Ja oder nein?«
»Was – ja oder nein?« fragte sie unbefangen.
Im Oberbewußtsein hatte sie das Gespräch tatsächlich vergessen.
»Oh,« sagte Leo und beschäftigte sich abermals mit seiner Bügelfalte, »ich meine unsere Verlobung, das weißt du doch.« Er machte ebensowenig Umschweife wie sie.
»Ach so. Also das ist vollkommen unmöglich«, sagte sie mit einer sanften Freundlichkeit, als handelte es sich um eine flüchtig aufgetauchte Frage unter vielen. »Daran hab ich nicht mal mehr gedacht. Tu mir den Gefallen und verschone mich mit solchem Unsinn! Es ist ja vollkommen unmöglich«, wiederholte sie, wie Kinder eine Redewendung wiederholen.
»Unmöglich? So? Ach –?« sagte er und lächelte sonderbar, als belustigte ihn ihre gelassene, wie aus einer Ferne kommende Feststellung. »Was ist denn dann möglich, wie? Du willst doch wohl nicht als alte Jungfer sterben, was?«
»Ach, das ist mir gleich«, sagte sie geistesabwesend.
»Mir aber nicht«, sagte er.
Sie wandte sich und sah ihn erstaunt an.
»Wieso?« fragte sie. »Was sollte es dir ausmachen, ob ich eine alte Jungfer werde?«
»Aus jedem nur erdenklichen Grunde«, gab er zurück und betrachtete sie mit einem kühnen, vielsagenden Lächeln, das die Absicht hatte, deutlich, sogar sehr deutlich zu sein. Dieses kühne und durchaus eindeutige Lächeln aber traf nicht wie ein Schuß eine tiefverborgene Stelle im innersten Kern ihres Lebens; vielmehr traf es nur ihre Haut, wie ein aufprallender Tennisball, und löste, wie er, nur einen jähen Ärger aus.
»Ich finde dieses ganze Gespräch scheußlich blöd«, sagte sie mit der Heftigkeit eines zornigen Kindes. »Wenn man's genau nimmt, bist du doch mit – mit –« sie schluckte noch rechtzeitig den Namen hinunter – »mit mindestens einem halben Dutzend anderer Mädels verlobt. Was du sagtest, war keine Schmeichelei für mich! Es wäre mir scheußlich, wenn Jemand was davon erführe. – Jawohl, scheußlich! – Ich sage Niemandem was davon, und hoffentlich hast du so viel Verstand, daß du es auch nicht tust. – Da kommt Ella!«
Und ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, glitt sie davon, eine hohe, sanfte Blüte, um sich zu der armen Ella Framley zu gesellen.
Leo schlug sich mit den weißen Handschuhen in die Handfläche.
»Bösartige kleine Katze!« sagte er. Aber er war, wie man weiß, vom Stamme der Bullenbeißer; er hatte es ganz gern, wenn ihm so ein Kätzchen zu Kopf ging. Und er entschloß sich endgültig, sie vor allen anderen Möglichkeiten aufs Korn zu nehmen.