Читать книгу C -Die vielen Leben des Kohlenstoffs - Dag Olav Hessen - Страница 16
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Die Nachkommen der Nylonstrümpfe
Der Erfolg des Kohlenstoffs als chemischer Partner ist unter anderem dem Umstand geschuldet, dass er sowohl Einzel- als auch Doppel- oder Dreifachbindungen sowie je nach Bedarf auch Kombinationen dieser Verbindungen eingehen kann, solange alle vier Elektronen einen passenden Partner finden. Bei der Kohlensäure hat der Kohlenstoff sich mit einer Doppelbindung an das eine freie Sauerstoffatom gebunden, und an die beiden anderen mit einer Einzelbindung, da diese jeweils noch eine Einzelbindung zum Wasserstoff haben. Beim CO2 existiert eine Doppelbindung zwischen dem C und beiden Sauerstoffatomen. Nun könnte man vermuten, dass es bei Kohlenmonoxid (CO) vier Bindungen gibt, doch stattdessen finden wir hier eine Dreifachbindung, weswegen das Molekül schwach geladen ist. Das trägt dazu bei, dass sich CO unangenehm effektiv an das Hämoglobin der Blutzellen bindet. Weil CO den Konkurrenzkampf gegen O2 in den Blutzellen gewinnt, wirkt es im Gegensatz zu CO2 giftig.
Die Lieblingsposition von C scheint sich in einer Ringstruktur zu liegen, wie wir sie in Graphit, Graphen und Fulleren beobachten können, aber auch in Millionen anderen organischen Strukturen wie DDT. Derartige Kohlenstoffringe sind zentral für alle Lebewesen und sie finden sich auch in zahlreichen synthetischen Komponenten – nicht zuletzt in der Pharmaindustrie. Ungefähr 75 Prozent aller organischen Moleküle enthalten zyklische Verbindungen in der einen oder anderen Form – oft eine Kombination aus verschiedenen Formen. Wenn die Kohlenstoffatome sich in derartigen Familiengruppen zu sechst zusammenfinden, gehen sie oft eine Doppelbindung zu dem einen Nachbarn und eine Einzelbindung zu dem anderen ein – und nur unsere Fantasie kann eingrenzen, Page 53womit sie sich mit ihrer freien, letzten Bindung verknüpfen. Eines der einfachsten Moleküle aus dieser enormen Gruppe ist Benzol, erstmalig beschrieben von August Kekulé im Jahre 1865.
Abbildung 5: Benzol – die rechte, vereinfachte Version ist für die Eingeweihten unter uns.
Auch wenn das Molekül eine einfache Struktur aufweist, so war doch ihre Entdeckung ein Meilenstein der Wissenschaft. Kekulé leitete die Molekülstruktur auf Grundlage seiner Theorie darüber her, welche Bindungen die Elektronen auf der äußeren Schale logischerweise eingehen müssten. Wobei er diese Bindungen »Verwandtschaftseinheiten« nannte. Kekulé gehört zu den »Bekehrten«, die nach der Offenbarungserfahrung einer großartigen Vorlesung ihr eigentliches Wissenschaftsfeld verlassen haben. Justus Liebig inspirierte Kekulé dazu, sein Architekturstudium aufzugeben und sich der Chemie zu widmen. Eben dieser Liebig war auch der Lehrer Friedrich Konrad Beilsteins, des Mannes also, der mit der Klassifizierung aller organischer Verbindungen begann. Wir werden später noch auf Liebig zurückkommen, der auch den Autor dieses Buches inspiriert hat.
Benzol wurde bereits 1825 aus Steinkohleteer gewonnen – von keinem geringen als Michael Faraday. Etwas später wurde es in Benzen umbenannt – nicht zu verwechseln jedoch mit dem Benzin, das wir heutzutage Page 54in unsere Tanks füllen, welches eine Mischung aus unterschiedlichen, verzweigten Kohlenwasserstoffen mit vier bis zwölf Kohlenstoffatomen ist. Die Bezeichnung Benzol etablierte sich nach und nach, und hinter dem charakteristischen, beinahe süßlichen Geruch steckte die Verbindung C6H6. Aber welches Verhältnis diese C’s und H’s zueinander hatten, blieb zunächst ein Mysterium. Wie auch bei dem viel später entdeckten Fulleren gab es keine logische Struktur, die eine stabile Verbindung ergeben hätte. Erst 1865, fand der »Herr der Ringe«, Kekulé, der mittlerweile Professor an der Universität in Gent, Belgien, war, die Lösung, angeblich im Traum. In jenem Traum drehten die Moleküle sich zusammen zu einer Schlange, die sich in den Schwanz biss – die Ringstruktur. Kekulés Erzählung weist, glaubt man berufenen Quellen, die eine oder andere Schwäche auf, aber er beschrieb damit auf jeden Fall die erste einer ganzen Reihe aromatischer Strukturen, die den Benzolring als gemeinsamen Nenner haben, und ihre Verwandten, welche das Fundament von drei Vierteln der gesamten organischen Chemie darstellen.
Der Begriff organische Chemie klingt für Unwissende vielleicht komisch, und im Detail ist sie hochkomplex. Dennoch ist diesem Gebiet eine wunderbare Logik und Symmetrie zu Eigen, ganz zu schweigen davon, dass sie fast alles um uns herum betrifft. Hat man erst einmal die Grundprinzipien der organischen Chemie verstanden – und hier sind vor allem die Bindungseigenschaften des Kohlenstoffs und dessen Hang zu Sechserringen zentral – fügt sich vieles in ein logisches Muster ein. Nun soll das hier kein Buch über organische Chemie werden, doch bevor wir den Kohlenstoffatomen in die Labyrinthe des Kohlenstoffzyklus folgen, sollten wir rasch noch einen Blick auf die Chemie im Allgemeinen werfen.
Die wichtigsten Gruppen organischer Moleküle sind Kohlenwasserstoffe, aromatische und zyklische Verbindung Page 55(die zahlreichen Verwandten des Benzols), Alkohol (mehr als man glaubt) und heterozyklische Verbindungen. Die grundlegende Logik der Kohlenstoffchemie ist einfach und folgt einem klaren System.26 Kohlenwasserstoffe bilden die einfachste und übersichtlichste Kategorie. Hier muss man nur die Übersicht über C und H behalten. Unter den einfachsten finden wir Methan (CH4), Ethan (C2H6), Propan (C3H8) und Butan (C4H10) – bei allen handelt es sich um brennbare Gase. Dann folgen die Stoffe, die nach der Anzahl der Kohlenstoffe, die sie in sich tragen, benannt wurden: Pentan (5), Hexan (6), Heptan (7), Oktan (8) usw. Darauf folgen die Alkene, ähnlich in Namen und Struktur, allerdings mit einer Doppelbindung zwischen den C-Atomen und folglich weniger Platz für die H-Atome (Ethen – C2H4, Propen, Buten ...). Und die nächste Gruppe? – Richtig, die Alkine, mit einer Dreifachbindung zwischen den C’s. Als erstes kommt natürlich Ethin (C2H2), in der Umgangssprache besser bekannt als Acetylen. Diese drei Gruppen gehören zu den aliphatischen Verbindungen.
Die aromatischen Verbindungen sind, wie gesagt, Ringverbindungen, wie Benzol, Toluol, Naphtalin usw. Sie alle formen mit ihren C-Atomen ein Sechseck oder Fünfeck in allen möglichen Kombinationen und mit »Schwänzchen« aus anderen chemischen Verbindungen in einer unendlichen Anzahl von Varianten. Oft haben diese Stoffe einen charakteristischen Geruch. Kinder finden diese Dünste häufig herrlich; wir Erwachsenen haben gelernt, dass sie giftig oder gefährlich sind. Benzin beispielsweise riecht unmissverständlich nach organischer Chemie.
Die Alkohole folgen bei der Namensgebung der Logik der Alkane, angefangen beim Methan: Methanol, Ethanol Page 56usw. Ihr gemeinsamer Nenner ist, dass ein Wasserstoffatom gegen eine OH-Verbindung ausgetauscht wurde, also von Ethan (C2H6) zu Ethanol (C2H5OH). Wir können hier nur an der Oberfläche kratzen, genauer gesagt betrachten wir die grundlegendsten Bausteine der organischen Chemie, die man zu beinahe allem zusammensetzen kann.
Direkt nach Ende des Ersten Weltkrieges begannen Chemiker, organische Moleküle so vielfältig zusammenzusetzen und miteinander zu kombinieren, wie es der Natur nicht im Traum eingefallen wäre. In erster Reihe stand Hermann Staudinger27. Er interessierte sich für Polymere. Der Begriff setzt sich aus poly (viele) und mer (Teil) zusammen, und kann für alles verwendet werden, was aus mehreren Teilen zusammengefügt wurde. Staudinger arbeitete zunächst mit Polymeren, die in Naturstoffen vorkamen. Er konnte nachweisen, dass augenscheinlich große und komplexe Moleküle, wie jene in Stärke, Protein, Zellulose oder Gummi, eigentlich aus langen Ketten kleinerer Moleküle bestehen, die in kovalenten Bindungen miteinander verknüpft sind – wie Perlen auf einer Schnur.
Auch wenn Staudinger und seine Kollegen neue Polymere für neue Zwecke erschufen, so waren Polymere an sich keine Neuheit in der Natur. Wie bei so vielem Anderen hatte die Evolution im Laufe von 100 Millionen Jahren auch Polymere hervorgebracht, robuste Strukturen in Form von beispielsweise Zellulose (einem Polymer aus Glukose) oder Proteinen (Polymeren aus 20 verschiedenen Aminosäuren). Im Labor konnten nun neue Stoffe zu neuen Polymeren mit erstaunlichen Eigenschaften Page 57verknüpft werden. Viele bildeten lange, strapazierfähige und leichte Fasern – wie zum Beispiel Nylon oder Polyester. Nylon erblickte das Licht der Welt am 28. Februar 1935, in der Firma DuPont28, und damit fiel der Startschuss zu einem industriellen Märchen mit der Kohlenstoffchemie in der Hauptrolle. Angefangen bei Nylonstrümpfen, Zahnbürsten und Fallschirmen, eröffnete sich ein ganz neuer Markt für Kunstfasern. DuPont selbst hatte 1802 mit der Produktion von Schießpulver klein angefangen, doch er erkannte schnell, dass sich in anderen Zweigen der Chemie große Möglichkeiten boten. 1927 verfünffachte (!) das Unternehmen sein Forschungsbudget, und es sollte Früchte tragen. Heute zählt DuPont zu einem der größten Chemieunternehmen weltweit.
Im Mittelpunkt von DuPonts und Staudingers Erfolg stand der 15 Jahre jüngere Wallace Carothers. Er war maßgeblich an der Entwicklung des Nylons sowie des Neoprens und des Polyesters beteiligt. Neopren war das erste vollsynthetische Gummi und ist allen Surfern und Tauchern als Material eines Kälteschutzanzuges bekannt. Polyester besteht aus Ketten von Estern. Carothers konnte sich nicht im Glanz seines Erfolges sonnen, ganz im Gegenteil – er war nicht der Meinung, viel Erfolg im Leben gehabt zu haben. Am 28. April 1937 checkte er in ein Hotel in Philadelphia ein, mixte sich einen Cocktail aus Zitronensaft und Kaliumcyanid – KCN, auch hier wieder das C, doch diesmal in schlechter Gesellschaft. Die Verbindung von Kalium, Kohlenstoff und Stickstoff ergibt ein kristallines Salz, das wie Zucker aussieht, aber äußerst giftig ist. Das war Carothers Ende, doch das Polymer-Märchen ging weiter.
Es ist höchste Zeit, in der Geschichte des Kohlenstoffs das Gleichgewicht zwischen den Geschlechtern Page 58herzustellen. Stephanie Kwolek kam nach Ende des Zweiten Weltkrieges zu DuPont. Auch sie war im Kielwasser des Nylons auf der Suche nach neuen Materialien. Sie nahm einen Sechserkohlenstoffring mit einem Amin und einer Carboxylsäuregruppe als Seitenketten als Ausgangspunkt. Diese Verbindung ließ sich nur in Schwefelsäure auflösen. Dabei wurde sie zu einer breiigen Masse, aus der, indem man sie durch kleinste Löcher presste, wiederum ultrastarke Fasern gewonnen werden konnten. Der Prozess wurde in mehreren Durchläufen vereinfacht und verbessert, und resultierte schließlich in einem Produkt namens Kevlar. Dieser Stoff lässt sich in Massenproduktion herstellen, ist leichter als Stahl, und dennoch fünf Mal so stark, und wird als Ersatz für Stahl in schusssicheren Westen und Helmen, Seilen, Kabeln, Pardunen und anderen Produkten verwendet, die eine Kombination von Stärke und geringem Gewicht voraussetzen. Außerdem verträgt Kevlar Temperaturen von bis zu 400 °C. Vielleicht sind es Graphit, Diamant und Kevlar, die die stärksten Formen des Kohlenstoffs repräsentieren?
Bevor uns die Cleverness der Menschheit noch komplett zu Kopf steigt, möchte ich an dieser Stelle noch einmal daran erinnern, dass uns auch hier die Natur zuvorgekommen ist. Die Polymere in den Seidenfäden der Spinne bestehen aus Ketten großer Proteine mit einer Bruchstärke, die, im Verhältnis zu ihrer eigenen Dicke, selbst der des Kevlars um Längen voraus ist. Um das noch zu toppen, hat dieses Polymer auch noch einen antimikrobiellen Effekt und ist trotzdem vollständig biologisch abbaubar. Auf der Suche nach cleveren Lösungen in den Bereichen Design oder Medizin wandelt der Mensch nur auf den Spuren der Evolution, zum Beispiel durch Forschung zur Nachahmung der Polymerchemie der Spinne.
26Siehe: Nelson, D., Cox, M. (2010): Lehninger Biochemie 4. Auflage. Springer, Berlin, Heidelberg, New York.
27Hermann Staudinger (1881–1965) war ein deutscher Chemiker. Er ver stand nicht nur die Struktur der Polymere, sondern erkannte auch ihre Anwendungsmöglichkeiten. Die Essenz seiner 1920 veröffentlichten, zentralen Arbeit Über Polymerisation ist die Hypothese, dass Gummi und andere Polymere wie Stärke, Zellulose und Proteine aus relativ kleinen Molekülen bestehen, die durch kovalente Bindungen miteinander zu langen Ketten verbunden sind.
28DuPonts großer Forschungseinsatz im Bereich der Polymerchemie sind gründlich dokumentiert: http://cha4mot.com/p_jc_dph.html.