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Plastic fantastic

Unsere Kultur basierte lange auf dem Kohlenstoff in Holz und Stein, bevor das Eisen die erste Stelle einnahm. Danach kam die Plastikgesellschaft. Plastik besteht wie Nylon, Gummi und viele andere Stoffe, die wir als Kunststoffe zusammenfassen, aus C-Polymeren. Dem Plastik sind in der Regel aber verschiedene Additive zugesetzt. Plastik war – als es mit Macht sowohl auf den industriellen als auch den Haushaltsmarkt drängte – ein Sinnbild des Fortschritts. Die alten, schweren Holzwerkzeuge wurden ausgemustert, denn mit Plastik war alles leichter. Seither dominiert das Plastik in einer Weise unseren Alltag, wie es selbst die visionärsten Polymerpioniere nicht erwartet hätten.

Schon 1908 wurde das gehärtete Plastikmaterial Bakelit entwickelt, benannt nach seinem Erfinder Leo Baekeland. In den 1930er Jahren bekam das Bakelit Konkurrenz durch andere synthetische Plastikarten wie Polyethylen, Polystyren, Polyvinylchlorid – und eben Nylon. Das alles war aber erst der Anfang: Das Plastik fand seinen Weg nicht nur in die Küchenschubladen aller Haushalte, sondern wurde fortan auch für Isolationsmaterial, Schläuche, Flaschen, Brillen, Möbel, Bodenbeläge, Spiele, Kleider und noch vieles mehr genutzt. Plastik war der Inbegriff der Modernität, der Beweis dafür, dass die Welt sich weiterentwickelte. Das Öl, das Plastik, ja die gesamte organische Chemie zeigten, wie der Mensch mit seinem Wissen den Erfindungsreichtum der Natur kopieren konnte, besonders, was die Verwendung von Kohlenstoff anging.

Die Begeisterung für diese Modernität flaute in den 1970er Jahren etwas ab, als bekannt wurde, dass diese Entwicklung auch eine Kehrseite hatte. Das Plastik geriet in Misskredit. Zuerst, weil es im Gegensatz zu den Rohstoffen der Natur etwas »Unechtes« symbolisierte. Der Page 64Holzlöffel in der Küchenschublade war etwas »Echtes«, der Plastiklöffel daneben nicht unecht, aber doch »künstlich«, sodass dem Plastikexemplar alsbald etwas Falsches anhaftete. Magne Myrmo ist als der letzte Weltmeister in die Annalen eingegangen, der noch auf Holzskiern unterwegs war. Während der WM 1974 in Falun gewann er Gold über 15 Kilometer Langlauf, mit einer Sekunde Vorsprung auf Gerhard Grimmer, der bereits mit Glasfaserskiern gelaufen war. Nach dieser WM konnte auf Holzskiern niemand mehr gewinnen. Trotzdem wurde lange und heiß darüber diskutiert, ob man Kunststoff-Ski überhaupt zulassen sollte. Inzwischen ist der Kunststoff aus dem Skisport überhaupt nicht mehr wegzudenken, sodass dieser Sport mehr als alle anderen den Übergang von den natürlichen Polymeren (wie Holz und Wolle) zu den synthetischen (Kunststoffski, Kohlefasersohlen und -stöcke, Kleidung aus Hightech-Kunstfaser, ganz zu schweigen vom Skiwachs) symbolisiert.

Der Begriff »natürlich« (wie die Natur) hat den gleichen Anspruch wie das Wort »echt«. Plastik ist als Kunststoff nicht sonderlich umweltfreundlich, der Hauptkritikpunkt ist aber das »Unechte«. Besitzer von Holzbooten betonen immer, dass ihre Boote eine Seele haben. Dabei ist gerade der Wald interessanterweise der Ausgangspunkt für immer mehr synthetische Polymere, Kohlenwasserstoffe und Plastikarten auf der Basis von Zellulose oder Lignin.

Plastik, insbesondere in Form von Plastiktüten, ist zum Symbol unserer Wegwerfgesellschaft geworden.31 Dabei Page 65wird auch Plastik von Bakterien, Pilzen und Sonnenlicht zersetzt, nur dass dieser Prozess extrem lange dauert und das Material nur unvollständig abgebaut wird. Öl kann viel schneller zersetzt werden, da es »natürlich« ist – es gibt genug Ökosysteme, in die auf natürliche Weise immer wieder Öl eingetragen wird, sodass dank der Evolution längst Bakterien entstanden sind, die diese Energiequelle auch nutzen können. Plastik hingegen ist harte Kost, besonders Hartplastik. Noch an der Nordküste Spitzbergens wird Plastikmüll angespült. Im Sommer 2014 war ich für ein Forschungsprojekt dort und musste am Strand durch farbenfrohen Kunststoff waten: Russische Ketchupflaschen, britische Plastikdosen, norwegische Plastiktüten waren neben den Resten von Seilen und Netzen nur ein Teil des ausgesuchten Sortiments. Die Trennung zwischen dem Echten und dem Künstlichen ist dabei gar nicht so einfach, denn das Öl ist ebenso natürlich, wie der Baum, aus dem es entsteht, und warum sollte sich das ändern, wenn man den Rohstoff raffiniert oder weiter veredelt? Trotzdem wirkt ein orangefarbener Plastikkanister an einem arktischen Strand immer fremder und weniger natürlich als ein angeschwemmter Baumstamm. Plastik ist einfach überall. Jedes Jahr werden zwischen 500 Milliarden und einer Billion Plastiktüten produziert (Stand 2014). Ein Teil davon wird glücklicherweise recycelt, aber noch immer landet der weitaus größere Teil auf Müllkippen oder in den Meeren. Als 1999 das Meer aus Plastik entdeckt wurde, das im Stillen Ozean eine Fläche größer als die Landfläche Norwegens einnimmt, begannen bei vielen die Alarmglocken zu läuten. Das Meer aus Plastik ist dabei gar nicht so einfach zu sehen, da es vorwiegend aus kleinen Plastikfragmenten besteht, was die Sache natürlich nicht besser macht. Nach einer Schätzung der Page 66Vereinten Nationen aus dem Jahr 2009 landen jedes Jahr etwa 6,4 Millionen Tonnen Abfall im Meer: aktuell treiben demzufolge etwa 100 Millionen Tonnen Müll in den Weltmeeren – der Großteil davon Plastik. Eine weitere Schätzung ergab 2015, dass die Küstenstaaten der Welt jedes Jahr 275 Millionen Tonnen Plastikmüll produzieren und dass zwischen 5 und 12 Millionen Tonnen davon im Meer landen.32 Auch wenn die Tüten mit der Zeit zerfallen, löst das nicht das Problem, jedenfalls nicht für die kommenden Generationen von Seevögeln, die das Mikroplastik entweder direkt oder über die Nahrungskette aufnehmen.

Als kleiner Junge war ich einmal auf der Vogelinsel Runde. Die Vogelschwärme boten vom Meer aus einen überwältigenden Anblick. Am besten erinnere ich mich aber an die Geräusche. An das Wahnsinnsorchester der Dreizehenmöwen, die zu Tausenden an der weißgesprenkelten Felswand brüteten. Ich war seither noch ein paar Mal auf der Insel, und jedes Mal hat mich das Leben, das ich dort vorfand, in seinen Bann gezogen. Kurz vor Ostern dieses Jahres war ich zuletzt auf Runde, auf einer Konferenz über die Zukunft unserer Meere und Meeresvögel. Wir fuhren auch da mit dem Schiff um die Insel herum, doch dieses Mal war es still. Kaum eine Dreizehenmöwe war zu sehen, ja, nicht einmal ein Tordalk. Wo sonst an die 5000 Sturmvögel brüteten, war jetzt kahler Fels, und die Skarveura, früher einmal die Heimat der weltweit größten Kolonie der Krähenscharbe, lag kalt und leer da. Silent spring auf dem Vogelfelsen.33 Noch am selben Abend erklommen wir den Gipfel der Lundeura – und die Papageientaucher waren zum Glück noch da.

Die Heringsbestände haben sich zum Wohl dieser Page 67Vögel gerade rechtzeitig wieder erholt. Die Papageientaucher sind so etwas wie die Kanarienvögel der Meere. So, wie Kanarienvögel die Grubenarbeiter vor gefährlichen Methankonzentrationen warnen, die diese selbst nicht bemerken können, hatten uns die Jahre mit den verhungerten Papageientaucherküken nur allzu deutlich gezeigt, dass in den Tiefen unserer Meere etwas fundamental in Unordnung geraten war. Wir hatten den dichtesten Fischbestand der Welt durch Überfischung beinahe ausgerottet. Die eingebrochenen Populationen von Möwen, Sturmvögeln, Tordalken und Krähenscharben zeigen uns nun weitere Veränderungen in den Meeren an, die wir mit bloßem Auge nicht erkennen können.

Nur wenige Vogelarten scheinen gegen diese Entwicklung immun zu sein. So die Basstölpel, die die neue Zeit nutzen und mittlerweile überall auf der Insel farbenfrohe Nester aus Nylonseilen bauen. Aber warum ist die Situation gerade für die Seevögel so dramatisch? Die Antwort ist komplex, denn sowohl die Überfischung als auch der Klimawandel spielen eine Rolle. Die Bestände der Seevögel schwankten schon immer, der kollektive Niedergang ist aber ein dramatisches Warnzeichen. Lange galt die Verschmutzung durch ausgelaufenes Öl als Hauptbedrohung für die Seevögel – und das aus gutem Grund. Mittlerweile sieht es aber so aus, als wäre das Öl auch in Form von Plastik eine ernsthafte Bedrohung für die Vogelwelt.

Auf YouTube finden sich herzerweichende Szenen von toten und sterbenden Albatrosjungen mit Plastik im Magen. Die Sturmvögel, die auf der Jagd nach Plankton und anderem Futter weite Strecken über das Meer fliegen, nehmen bei der Nahrungsaufnahme häufig Plastik mit auf. Das kann ein Grund für die dramatische Abnahme des Bestandes sein, die weltweit zu beobachten ist. In einer Studie fanden sich Plastikfragmente in 95 Prozent der untersuchten Vogelmägen. Ein Ort, an dem die Sturmvögel häufig auf Nahrungssuche gehen, ist die Nordsee. In die Page 68gelangen jährlich etwa 20.000 Tonnen Abfall, drei Viertel davon Plastik. Etwa 15 Prozent davon treiben an der Oberfläche, zum Nachteil für die Sturmvögel. 70 Prozent sinken auf den Meeresboden und beeinträchtigt die dort lebenden Tiere und Pflanzen. Das Plastik, das an unsere Strände gelangt, macht nur 15 Prozent des gesamten Plastiks im Meer aus. Dazu kommt noch das Mikroplastik, die Mikrometer großen Plastikkügelchen, die zu einem neuen Must have in Zahncreme, Hautcreme und Schleifmitteln geworden sind.

Auch eine Reihe anderer Tierarten nimmt Plastik auf, und selbst Mikroplastik gelangt in die Nahrungskette. Plastik enthält eine ganze Reihe von organischen Umweltgiften wie PCB, PAK, Pestizide, bromierte Flammschutzmittel und andere organische, kohlenstoffreiche Moleküle. Besonders berüchtigt sind einige Weichplastikprodukte für ihre Phtalate, Ester der Phtalsäure, die die unschöne und nicht beabsichtigte Eigenschaft haben, hormonaktiv zu sein und damit die natürliche Wirkung von Hormonen zu hemmen. Der Körper deutet die Phtalate fälschlicherweise als Östrogene, was im schlimmsten Fall zu Fortpflanzungsstörungen führt.

Als Alan Weisman 2007 seinen vielfach ausgezeichneten Bestseller The World without us schrieb,34 fokussierte er sich auf das Thema, wie schnell unsere Spuren ausgelöscht werden würden, sollten wir einst aussterben. Das Plastik wird aber überleben und wie ein letzter Zeuge unserer Zivilisation Jahrtausende überdauern. Ich weiß nicht, ob Weisman wirklich in allen Punkten Recht hat, ich bilde mir ein, dass die Pyramiden, die schon 4.000 Jahre vor dem Plastik existierten, zumindest als Ruinen auch noch 4.000 Jahre nach dem Verschwinden des Plastiks vorhanden sein werden. Aber das ändert nichts an seiner Kernaussage. Es dauert etwa 20 Jahre, bis eine Plastiktüte Page 69vollständig zersetzt ist, was allerdings nichts nützt, solange ständig neue Tüten produziert werden. Plastikflaschen und Einmalwindeln brauchen für die Zersetzung vermutlich 400–500 Jahre, und ein Nylontau, das im Jahr 2000 ins Meer geworfen wird, bleibt etwas bis ins Jahr 2500 erhalten. Vertäut man – mit anderen Worten – ein Holzboot mit einem Nylontau, wird das Tau noch vorhanden sein, während Boot und Anleger längst als das CO2 in die Atmosphäre entschwunden sind, aus dem das Holz einst entstand.

Mit diesem etwas düsteren Seitenblick auf die Nachteile der Beständigkeit des Plastiks verlassen wir die synthetischen Polymere, ohne ein abschließendes moralisches Urteil zu fällen. Der Kohlenstoff hat uns durch die Polymerchemie zweifellos Produkte mit fantastischen Eigenschaften geschenkt, ohne die die Welt, wie sie heute ist, undenkbar wäre. Plastik ist nur eines von vielen Beispielen für Produkte, die im Übermaß problematisch werden und deutlich machen, dass es zu viele Menschen gibt, auf jeden Fall zu viele, die irgendetwas aus Kohlenstoff herstellen wollen.

31Nur wenige Dinge symbolisieren die Abkehr vom Technologieoptimismus besser als das Plastik. Vom Wundermittel und der Speerspitze der Modernität, wurde es – vor allem im Westen – zum Problemmüll. Der zunehmende Konsum der weiter wachsenden Weltbevölkerung äußert sich in immer höheren Müllbergen, doch während sich der organische Müll zersetzt und die dabei anfallenden Methangase als Biogas genutzt werden können, akkumuliert sich das Plastik. Mehr dazu in: Eriksen, T. H. (2011): Søppel. Avfall i en verden av bivirkninger. Aschehoug. Jambeck, J. R. et al. (2015): Plastic waste inputs from land into the ocean. Science 437: 768–771.

32Jambeck, J. R. et al. (2015): Plastic waste inputs from land into the ocean. Science 437: 768–771.

33Hessen, D. O. (2014): Harvest magasin.

34Weisman, A. (2008): Die Welt ohne uns. Piper.

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