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Eine persönliche Verbindung zu Kohlenstoff

Um mich herum fallen schwere Tropfen von den Bäumen. Auf die Wasseroberfläche gleich nebenan prasselt der Regen, und auch auf der Plane, die zwischen den Bäumen aufgespannt ist, tanzt das Wasser. Unter der Plane sitzen drei Personen über ihre Mikroskope gebeugt, neben sich Pipetten, kleine Plastikbehälter, Filtrationsmaterialien und anderes Laborzubehör. Um uns herum ist es nebelig, es ist mitten in der Nacht, sodass wir unsere Arbeiten im Licht der Stirnlampen durchführen. Die Proben werden in kleinen Plastikflaschen gesammelt, die mit einer zähen, durchsichtigen Flüssigkeit aus einer Metallkanne aufgefüllt werden. Dann werden die Behälter verschlossen, beschriftet und in einer Halterung fixiert. Alle vier Stunden rudern zwei von uns in einem wackeligen, kleinen Boot auf den See hinaus und nehmen verschiedene Proben aus sechs an einem Rahmen verankerten Ballons. Jeder Ballon enthält ein paar Tausend Liter Wasser. Wir rudern zurück, treten unter die Plane und arbeiten weiter …

Gegen Morgen hört der Regen auf. Ich setze mich müde ans Ufer und sehe die Sonnenstrahlen durch den Nebel brechen, der sich über dem Wasser lichtet. Zwei Libellen fliegen über die Seerosen am Ufer. Um den See herum steht der Wald dicht und grün. Mit einem Mal glaube ich, den Atem der Natur zu spüren. Ein und aus. Überall ist Leben. Überall ist Kohlenstoff. Alles außer dem Wasserspiegel und dem Himmel besteht aus Nuancen von Grün; Milliarden von Chloroplasten. Kohlenstoff in Form von CO2 dringt in einem nicht enden wollenden Zyklus durch die Spaltöffnungen der Blätter und Nadeln, bevor es zu den Chloroplasten transportiert wird. Dort findet alsbald die wichtigste chemische Reaktion der Welt statt, bei der das Gas auf wundersame Weise in organischen Page 16Kohlenstoff in Form von Kohlenhydraten wie Zucker, Stärke oder Zellulose verwandelt wird, und bei der – quasi als Bonus – auch noch der Sauerstoff freigesetzt wird, von dem die andere Hälfte des Lebens abhängig ist. Der Kohlenstoff, den die Pflanzen binden, ist damit für alle Zeit Teil des Ökosystems.

Kohlenstoff ist so etwas wie die Kartoffel der Chemie, man findet ihn in fast allen Molekülen und Bestandteilen des Körpers, und dies in den unglaublichsten Varianten. In all seiner Gewöhnlichkeit ist Kohlenstoff trotzdem unentbehrlich. Ich unternehme meine Versuche in großen Ballons im Wasser, all meine Laborgeräte bestehen aus Kohlenstoffpolymeren: Pipetten, Behälter, Halterungen, die Plane über unseren Köpfen, ja sogar unsere Kleider. Gibt es irgendetwas um mich herum, das nicht aus Kohlenstoff besteht? Und dann der Kohlenstoff, der für das kurze Gastspiel meines Lebens in mir ist. Zuvor war er bereits für Milliarden von Jahren in Pflanzen, Bakterien, Tieren, Mineralien, und auch in den Milliarden von Jahren, die nach mir kommen, wird der Kohlenstoff weiter seinen Weg gehen. Ewiges Leben wird für uns immer eine Utopie bleiben, aber als Teil des immerwährenden Kohlenstoffkreislaufs haben wir wenigstens einen kleinen Anteil an der Ewigkeit.

Der Gedanke an den Kreislauf des Kohlenstoffs – und an mich als Bruchteil davon – gibt mir dort am Seeufer das Gefühl, dazuzugehören. Eine ganz neue Perspektive. Carl von Linné meinte, dass wir, also die Menschen, hier auf Erden platziert seien, um die göttliche Schöpfung zu deuten.1 Ganz unbescheiden sah er sich selbst an erster Page 17Stelle, was die Deutung und das Verständnis der göttlich gestalteten Natur anging. Wir drei, die wir hier an diesem See arbeiten, haben weniger hohe Ziele, auch wenn sich die Fragestellung im Nachhinein als wichtiger herausstellen sollte, als wir es damals ahnten: Wir sind hier, um mehr über den endlosen Kreislauf des Kohlenstoffs zu verstehen.

Den sechs großen Ballons im Wasser sind winzige Mengen einer speziellen Form von Kohlenstoff hinzugefügt worden, und zwar das radioaktive Isotop 14C, das im Gegensatz zum normalen Kohlenstoff (12C) sechs Protonen und acht Neutronen enthält. Durch den Zusatz von 14CO2 können wir verfolgen, wie der Kohlenstoff von den Algen, Bakterien und dem tierischem Plankton aufgenommen, umgesetzt und schließlich wieder ausgeschieden wird. Der radioaktive Kohlenstoff in unseren Proben gibt Elektronen ab, die ein winziges Lichtsignal senden, wenn sie von der zähflüssigen Lösung eingefangen werden. Diese Signale können über einen Szintillationszähler aufgefangen werden. Das Projekt ist Teil meiner Doktorarbeit, die dazu beitragen soll, unser Verständnis ein bisschen zu erweitern. Die Nacht unter der Plane, die Proben, Analysen und statistischen Auswertungen wurden zu einem zentralen Teil meiner Arbeit über die unergründlichen Wege des Kohlenstoffs. Der radioaktive Kohlenstoff war der Schlüssel zum Verständnis der Photosynthese und schlug so eine wichtige Brücke zwischen Atomphysik und Biologie.

Die Sonne, der eigentliche Motor des ganzen Prozesses, nimmt jetzt Fahrt auf. Es wird warm und der Nebel löst sich auf. Bevor die Proben in den Szintillationszähler kommen, gönne ich mir ein paar Stunden Schlaf. Die Page 18Resultate aus den Messinstrumenten tickern zu sehen, ist eine der besonderen Freuden eines jeden Wissenschaftlers, auch wenn man diese Freuden den Menschen um sich herum kaum vermitteln kann. Manchmal braucht man nur einen Tag, um zu erkennen, ob die Punkte auf der Grafik den Erwartungen entsprechen. Andere Male dauert es Jahre und erfordert ungeheure Geduld, die Forscher in der heutigen Zeit nur noch selten haben oder sich leisten können. Charles David Keeling aber hatte die nötige Ruhe und Zeit. 1957 bestand er auf der absurden Idee, ein Messinstrument auf dem Gipfel des Mauna Loa auf Hawaii zu installieren.2 Aus seiner Arbeit resultierte eine Grafik, die den Kohlenstoff in das Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt hat.

Dank einer ungewöhnlichen Kombination aus Genauigkeit und Geduld konnte Keeling zu seiner Verblüffung nachweisen, dass die CO2-Konzentration Jahr für Jahr zunahm. Dies konnte nur bedeuten, dass der Kohlenstoffkreislauf ins Ungleichgewicht geraten war und dass mehr CO2 freigesetzt als aufgenommen wurde. Das lebenspendende CO2 hatte offenbar auch eine dunkle Seite. Später wurde gezeigt, dass die Konzentration von Methan in der Atmosphäre ebenfalls ansteigt. Der Kohlenstoff, das Element des Lebens, ist zu unserer größten Bedrohung geworden. Wir werden später noch auf die verschiedenen Kohlenstoffzyklen zurückkommen, ebenso wie auf Keeling selbst und seine mittlerweile berühmte Kurve. Betrachten wir aber zuerst die Hauptakteure in dieser Geschichte und Page 19die zahlreichen, um nicht zu sagen zahllosen Varianten und Allianzen, in denen sie auftreten können.

Ich habe eine enge Verbindung zu meinem Projekt. Das haben wir alle, wenn uns das auch nicht allen bewusst ist. Mein Leben als Wissenschaftler dreht sich zu weiten Teilen um den Kohlenstoff – vom inneren Zellkern bis zu den großen Kreisläufen in unseren Ökosystemen. Ich kenne mein Forschungsobjekt aus der Welt der Chemie wie aus jener der Biologie und habe die vielen Partner des Kohlenstoffs, seine Lebensphasen und seine verschiedenen Rollen studiert. Mein größter Wunsch ist es aber, die Rolle des Kohlenstoffs für das Klima in Vergangenheit und Zukunft zu verstehen.

1Linné war vermutlich der entschiedenste Verfechter eines naturtheologischen Gesichtspunktes. Er ging davon aus, dass alles göttlichen Ursprungs und deshalb mit allem auch eine Absicht verbunden war. Die Natur war also nicht nur eine Quelle intensiver Gefühle, sondern auch Trägerin eines versteckten Musters, einer Botschaft und eines tieferen Sinns. Die Rolle des Menschen, insbesondere die Rolle von Linné selbst, musste innerhalb dieser versteckten Botschaft zu finden sein. Damit verbunden ist auch der Glaube, dass derjenige, der für die Schöpfung verantwortlich ist, auch wieder für Ordnung sorgen wird – zum Beispiel, was Klimaveränderungen angeht. Über Letzteres hatte Linné sich jedoch aus gutem Grund noch keine Gedanken gemacht. Mehr über Linné in: Hessen, D. O. (2000): Carl von Linné, Gyldendal, Oslo

2Charles David Keeling (1928–2005) war der erste Wissenschaftler, der die Zunahme atmosphärischen Kohlenstoffs registrierte und vor den damit möglicherweise verbundenen Konsequenzen warnte. Er ist direkt wie indirekt mitverantwortlich dafür, dass dieses wie auch andere Bücher über das Klima und den Kohlenstoffzyklus geschrieben wurden. Es gibt viele Biografien über Keeling; eine kurze, fachlich orientierte Übersicht findet sich in den Gedenkschriften: Harris, D.C. (2010): Charles David Keeling and the story of atmospheric CO2 measurements. Analytical chemistry 82: 7865–7870. Heimann, M. (2005): Obituary: Charles David Keeling 1928–2005. Nature 437: 331.

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