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An die Nachgeborenen

inspiriert vom gleichnamigen Gedicht von Bertolt Brecht

Vorsichtig drückt Hoimar die Klinke hinunter, späht in den halbdunklen Raum. Nur kein Geräusch verursachen, jede Lichtquelle vermeiden, es könnte ihm jemand gefolgt sein. Er tastet sich an dem Mobiliar entlang durch sein Zimmer bis ans Bett, setzt sich auf die Kante und streift die Mütze mit den Sehschlitzen vom Kopf. Er knipst die Taschenlampe an, die neben seinem Kopfkissen liegt, geht auf Zehenspitzen zum Schrank und versteckt die Mütze in seiner Sporttasche.

Im Bad schaltet er die Wandleuchte über dem Spiegel an, um eventuelle Blessuren zu begutachten. Er fährt sich mit der Hand über Stirn und Wangen: Nichts von Bedeutung, nur ein paar Kratzer und Schrammen. Er zieht die Hosenbeine hoch, unbedeutende Prellungen und Abschürfungen an der rechten Kniescheibe und Schienbein, bei der Flucht vor den Polizeihunden zugezogen.

Hoimar starrt in den Spiegel, hohlwangig, dunkle Ränder unter geröteten, glanzlosen Augen im wachsbleichen Gesicht. „Verdammt, verdammt, verdammt! Die verdammten Bullenschweine!“, stöhnt er. Sniffy hat es voll erwischt. Er legt die Stirn an das kühle Spiegelglas, ballt die Fäuste.

Als die Konfrontation mit der Polizei eskalierte, sie mit Wasserwerfern und Hunden anrückten, Slot, Sniffy und er und ein Dutzend anderer sich aus der Gefahrenzone verziehen wollten, stolperte Sniffy beim Zurücktreten und knallte mit dem Hinterkopf mit voller Wucht auf die Bordsteinkante. Er verdrehte so komisch die Augen und blieb reglos liegen. Die Kumpels bildeten eine Wagenburg um den Verletzten und skandierten „Sanitäter“. Ein Notarztwagen war sofort zur Stelle, einer von mehreren, die wie immer bei derartigen Einsätzen der Polizei bei Randale, von „linken Zecken“, wie sie sagen, in der Nähe postiert sind. Ehe sie vor der Übermacht der Polizei, die mit einer neuen Welle von Wasserwerfern auf sie zugerollt kam, türmten, konnten sie noch den Sanitäter fragen, in welches Krankenhaus Sniff gebracht würde. „Mein Gott, lass ihm nichts wirklich Schlimmes passiert sein!“, erwischt sich Hoimar bei einem Stoßgebet. Wie lange ist es her, dass er nicht mehr gebetet hat?

Nachdem er sich Hände und Gesicht gewaschen und Zähne geputzt hat, jetzt werden sie ihn doch gehört haben, schlüpft er in sein langes Tote-Hosen-T-Shirt und legt sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen aufs Bett. Er starrt an die Decke. Die Laterne draußen malt unruhige Muster auf die weiße Wand. „Ich muss versuchen zu schlafen“, denkt er. „Morgen die wichtige Arbeit in der Schule, ich darf’s nicht verbocken. Mein Alter dreht durch, wenn ich den Abschluss nicht schaffe.“

Sein Alter, ja, der hat’s geschafft, der hat’s gebracht. Ewig ödet er ihn an mit seinem 68er-Spruch vom Marsch durch die Institutionen. So wird’s gemacht, Söhnchen, mit Gewalt geht nichts. Wir haben was erreicht, wir haben die Republik verändert. Ja, das stimmt, denkt Hoimar. Aber wie. Beim Marschieren irgendwie die Richtung verloren, das habt ihr. Seid selber angepasste Scheißer geworden. So, jetzt ist es aus mit dem Schlaf. Da kann er auch gleich aufbleiben und sich für den Unterricht vorbereiten.

Hoimar setzt sich an den Schreibtisch und schaltet die kleine Leselampe ein. Geschenk vom lieben Paps, die ironischerweise auch noch Banker’s Lamp heißt. Aber cool, so eine hat sonst keiner von seinen Kumpels. Pappi hat eben einen exquisiten Geschmack. Also, Herr Brecht, was haben Sie uns Nachgeborenen mitzuteilen. Etwas, was des Nachdenkens wert ist?

„Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn

Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende

Hat die furchtbare Nachricht

Nur noch nicht empfangen.“

Die ersten Zeilen nehmen unverzüglich seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Wie wahr, der Lachende hat die furchtbare Nachricht noch nicht empfangen. Allerdings, Hoimar ist überzeugt, dass der Lachende heute wie damals die schlechte Nachricht gar nicht empfangen WILL.

Sicher, zu damals ist ein großer Unterschied. Du riskierst nicht mehr dein Leben, wenn du dich nicht mit den bestehenden Zuständen, mit der schreienden Ungerechtigkeit abfinden willst, aber dafür ist der Kampf so gesichtslos, so aussichtslos. Es ist, als stieße man in einen Haufen Watte, als renne man mit seinem Kopf gegen eine elastische Wand aus Schaumstoff, die einen zurückkatapultiert. So landest du höchstens in der Irrenanstalt in einer Gummizelle, da kann man das Spiel dann fortsetzen, bis zur völligen Verzweiflung.

Dann bleibt noch die „Karriere“ als Junkie, wie Sniffy, der kokst und deswegen ständig schnieft und schnüffelt. Sniffy. Eiskalt durchfährt es Hoimar. Soll er gleich im Krankenhaus anrufen? Nein, er will bis morgen warten, er kann doch nichts für ihn tun. Oder hat er nur Angst vor der Auskunft?

… wie kann ich essen und trinken, wenn

Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und

Mein Glas Wasser einem Verdursteten fehlt?

Und doch esse und trinke ich.

Das trifft. Auch du, Hoimar, genannt Homie, bist nur ein Rädchen im Getriebe. Sitzt du nicht hier mitten in der Nacht und büffelst für die Prüfung? Bist auch nicht besser als dein Alter. Du bist ein elender Yuppie, der Gentleman der Straßenszene. Hoimar knallt das Heft in die Ecke, schlafen lege ich mich jetzt auch, nicht zu den Mördern, nicht zu den Huren, ja meine Kräfte sind gering. Ich spare sie mir jetzt auf bis morgen, Gute Nacht, Herr Brecht, auch du nur ein Knecht. Nicht sehr beruhigend.

Beim ersten Lichtstrahl fährt Hoimar erschreckt hoch. Sein erster Gedanke: Sniff. Er muss sofort im Krankenhaus anrufen. Die Stationsschwester fragt: „Sind Sie ein Verwandter? Nein, dann kann ich keine Auskunft geben.“ „Bitte! Das kann nicht Ihr Ernst sein. Ich weiß gar nicht, ob Sniff, sorry, Jakob überhaupt Verwandte hat. Ich bin sein bester Freund.“ Sie läßt sich erweichen und stellt durch zum Leitenden Stationsarzt. Noch mal dasselbe. Dann die vernichtende, die befürchtete Auskunft: „Er ist heute Nacht um 2.30 Uhr gestorben. Einen friedlichen Tod, ohne wieder zu Bewusstsein zu kommen.“

Hoimar wirft das Handy aufs Bett. Erstickt den Schrei mit der Faust in der Kehle, würgt, stürzt in Badezimmer, um sich zu übergeben. Es klopft an die Tür. „Auf, auf, Sohnemann. Ist alles okay? Komm in die Hufe, wenn ich dich mitnehmen soll.“ „Nein, ich fahr mit dem Fahrrad.“ Er denkt: Ich muss jetzt allein sein.

Vor dem Schultor wartet Slot, tief gebeugt den Kopf, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Als er neben ihm hält, blickt er in Augen voller Qual. Stumm fallen sie sich in die Arme, halten einander fest. „Sniff, wir werden dich rächen, so wahr ich hier stehe!“, murmelt Slot, der so gerne am Einarmigen Banditen spielt, was ihm den Spitznamen eingetragen hat. Hoimar streichelt ihm die Wange: „Ich melde mich. Wir müssen reden. OK Mann?“

Deutschlehrer Hanusch ist der Neue. „Ich werde euch Bildung beibringen, ob ihr wollt oder nicht“, hat er gleich bei der Einführung gesagt. „Was ich vorfinde, ist eine kulturelle Wüstenei, hier gibt es viel zu tun. Wir packen es an und werden es schaffen, blühende Landschaft in euren ausgedörrten Köpfen wachsen zu lassen. Das verspreche ich euch!“ Der Mann war schwer in Ordnung. Älterer Jahrgang, ein Lehrer aus Leidenschaft, alle spürten das, und er riss die Klasse mit.

Heute also Bertolt Brecht. Sie lesen mit verteilten Rollen. Hoimar liest die beiden letzten Strophen, zu denen er des Nachts nicht mehr durchgedrungen war:

Auch der Hass gegen die Niedrigkeit

Verzerrt die Züge

Auch der Zorn über das Unrecht

Macht die Stimme heiser. Ach, wir

Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit

Konnten selber nicht freundlich sein

Ihr aber, wenn es soweit sein wird

Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist

Gedenkt unsrer

Mit Nachsicht.

Hoimar legt den Kopf auf die Schulbank und weint.

Stellvertreterkrieg

heilig sprechen von Fakten

Sonntag ist Kirchgang

(Haiku)

Aus dem Leben kleiner Leute

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