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…Erinnerungen
Das Badewasser war milchig-grau, abgestanden, obenauf schwammen Seifenreste. Es wurde noch für den nächsten Tag zum Einweichen von Schmutzwäsche gebraucht. Wer das kennt, wer sich daran erinnert, weiß von welchen Zeiten die Rede ist, da war noch Sparsamkeit erstes Gebot! Nichts durfte verkommen, nicht einmal Badewasser, auf dem Seifenreste schwammen − Zeiten, davon die Alten berichteten und oft unglaubliche Geschichten zum Besten gaben, und dennoch waren sie wahr. Im Laufe der Jahre durch mehrfaches Wiederholen ausgeschmückt, wurden sie bildhaft, anschaulicher, lebendig, und einige zum unauslöschlichen Bestandteil der Familienchronik, und das noch über Generationen ... auch wenn statt des Erzählens am blubbernden gusseisernen Ofen oder offenem Herdfeuer vermengt mit dem würzigen Duft gebratener Äpfel das moderne aufgeweckte Kind versunken in reiner Unschuld narzisstischer Selbstbetrachtung in tausendfachen Variationen das eigene Antlitz nicht müde wird, en detail zu studieren und jeden Gesichtszug zu erkunden und Erkenntnisse, die es daraus gewinnt, an die Um- und − wahrscheinlich in der Hoffnung, diese würde sich dafür interessieren − an die Nachwelt weiterzureichen, bei welchem Beihilfe leistet ein ausgeklügeltes Zehnfingerfernmeldesystem, smartphone geheißen, so gesehen eine wortwörtliche Überlieferung überflüssig machte, doch kann das im folgenden Beschriebene auch gerne, wenn man denn willig und nicht abgelenkt durch laufend neue Bildabfolgen, auf eben dieses smart-, i-phone oder Handy, laden.
Zurück zum Wesentlichen. In dieser überlieferten Geschichte war Besatzungzeit, jene Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Besatzer in der Gegend, in der sich das Folgende abspielte, waren Briten, Tommies geheißen, in der sich das Folgende abspielte. Dort lebten zwei Schwestern, deren Männer aus dem Krieg noch nicht wieder heimgekehrt, ungewiss, ob tot oder in Gefangenschaft, allein und gemeinsam unter dem rötlichen Ziegeldach eines windschiefen Bauernhäuschen auf dem Land, von den Kriegsgreueln verschont und fast unberührt, in der Nähe eines britischen Camps. Die Soldaten fern der engelischen Heimat und zumeist nicht gut auf die Eingeborenen zu sprechen, aus verständlichen Gründen, verständlich denen, die Geschichte noch kennen, tranken gerne mal einen über den Durst.
Nach einem solchen feuchten Gelage geschah es, dass sich einer der schwankenden Gestalten auf dem Heimweg zunächst in der Pforte des Vorgartens, dann in der Tür irrte, dringend eine benötigte Ruhestätte suchend, auf der er sein schweres Haupt betten könne, dabei english broken lallend in das besagte Häuschen stolperte und fiel zugleich in beachtlicher Länge auf den Boden. Die beiden Schwestern, zunächst starr vor Schreck, dann aber ihrer Christenpflicht als barmherzige Samariterinnen erinnernd, schleppten ihn auf das durchgesessene Sofa in die gute Stube. Nach einer geraumen Weile, als der ungebetene Gast keinerlei Anstalten machte aufzuwachen, legten sie sich zu Bette. Beileibe nicht, dass sie gar Böses voraussetzten, versperrten sie die Schlafzimmertür und schliefen fest und ungestört bis zum nächsten Morgen, an welchem auch der Tommy friedlich schnarchend mit dem face fest ins gute bestickte Sofakissen gekuschelt lag, dort, wohin sie ihn verfrachtet hatten. Neben ihm auf dem Tisch in unmittelbarer Reichweite stand ein halbvolles Wasserglas mit einer milchigen Flüssigkeit, das gestern vor dem Schlafengehen noch nicht da war.
Eine der Schwestern, mit Namen Anna, riecht am Glas, hebt es ins morgendliche noch Dämmerlicht, das durch die schmalen Butzenfenster in einem langen Streifen durch die Stube fällt, schüttelt sich, zeigt es ihrer Schwester Franziska und deutet damit in Richtung Bad, rüttelt den Schlafenden wach, hält ihm das Glas vor die Nase und fragt in plattdütschem English:
„Watt is dat?“
Tommy fährt erschreckt hoch, fasst sich an die glühende Stirn, blickt sich verwundert um, sieht die beiden jugendlichen Frauensleut und stöhnt:
„Where I am … oh, my God, what have I done?“
„No, no, all ist okay“, versichern ihm Anna und Franziska und wiederholen die Frage nach der Herkunft und des Verwendung des halbvollen Glases.
„Oh, yes, I drank it. Thirsty, viel Durst…“, er fasst sich an die Kehle, röchelt, um den Brand zu verdeutlichen, den er löschen musste, der ihn dazu trieb, nach einer erfrischenden Quelle zu suchen
Im Dunkeln habe er sich vorgetastet, „I couldn’t see nothing“, den Vorgang in unverständlichem English und gebrochenem Deutsch mit Händen und Füßen beschreibend, torkelnd „in a room“, turns on his lighter, „Feuerzeug… pfft“ sieht WASSER WATER in einer Wanne, nimmt ein Zahnputzglas vom Regal, füllt es bis zum Rand, löscht das brennende Feuer im Hals mit einem vollen Zug und leert das Glas bis zur Hälfte… gerettet Dann legt er sich wieder zur Ruh’.
„Oh, Mann! Ju hev drunken Badewoter!“, ruft Anna.
Unverständnis in seinem Blick … Franziska erinnert sich an die English lessons: „Bathwater!!!“, um keine Irrtümer aufkommen zu lassen, ergreift sie seine Hand und führt in an den Ort des nächtlichen Geschehens.
Thommys Augen weiten sich, sehr weit, fasst sich an den Hals, würgt: „Oh my God!.“
Eilig verlässt Franziska das Badezimmer, schließt eilig die Tür. Die Schwestern hören ein gotterbärmliches Keuchen und Würgen. Nun ja, Einzelheiten und die dazu stattfindenden Geräusche dürften fast jeder und jede aus Erfahrung kennen.
Die Erfahrung lehrt ebenfalls, dass eine komplette Leerung des Mageninhalts in diesem Fall nicht einzig und allein durch das mit körpereigenen Bestandteilen versetzte Badewasser ausgelöst wurde, sondern eine der üblichen üblen Folgen übermäßigen Alkoholgenusses ist. Anzunehmen ist auch, dass ein halbes Glas gebrauchtes Badewasser einen Soldaten der britischen Armee, nachdem, was er und alle beteiligten Kriegs-teilnehmer an Schrecken erfuhren, nicht gleich aus den Stiefeln gehauen haben wird.
Das war die wahre Geschichte starring „Tommy“, der seinen Nachdurst mit Badewasser löschte, und sie endete damit, dass er, der abgängig war, von der MP (Military Police) gesucht, gefunden und abgeführt wurde, inwieweit bestraft, das entzog sich der Kenntnis der Schwestern, aber am darauffolgenden Tag mit einem Blumenstrauß und einer großzügigen Lebensmittelration aus britischen Beständen vor der Tür des windschiefen Bauernhauses seine Aufwartung machte und untertänigst um Verzeihung bat, die ihm mit Freuden gewährt wurde. Gleich wurde mittels Tommys mitgebrachtem echten Bohnenkaffee, ein seltener Genuss für den damals so mancher Perserteppich auf dem Schwarzen Markt herhalten musste, mit toffees and chocolate aus einer original Macintosh-Dose eine british-german fraternization gefeiert.
Die Tante Anna hat die bemalte Blechdose in Ehren gehalten und für die Aufbewahrung von Zuckerzwieback benutzt. Sie wurde jedes Mal feierlich aus dem Regal genommen, wenn die Nichte aus der Stadt in den Ferien zu Besuch war und Zuckerzwieback in dampfenden Muckefuck gestippt zu einer der wunderbarsten Köstlichkeiten wurde, die man sich in jenen mageren Zeiten überhaupt vorstellen konnte.
Auch die Erinnerung daran vergoldete sich mit den Jahren mehr, und bei Familienfesten wurde sie immer wieder aufs Neue aufbereitet und aufgewärmt.