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Mutter und Kind

Der Tag neigt sich dem Abend zu. Eine Mutter eilt mit ihrem Kind an der Hand durch die menschenleere Straße, erste Laternen werden entzündet. Das kleine Mädchen stolpert hinterher, seine kleinen Füße können mit denen der Mutter nicht Schritt halten, die es gewaltsam und rücksichtslos hinter sich her zieht, den Kopf schüttelnd und vor sich hin murmelnd. Au, Mann, sie hatte sich in der Zeit vertan, er würde stinksauer sein, wenn er von der Arbeit kam und sie und das Kind nicht vorfand.

„Gut, dass ich noch die Kartoffeln von gestern habe, dazu ein paar Zwiebeln in die Pfanne und den Rotkohl aus der Dose, dann kann er wenigstens nicht meckern, dass es nichts zu essen gibt.“

Sie hegt die Hoffnung, dass er vielleicht noch in der Kneipe an der Ecke ein Feierabendbierchen trinkt, aber das kam selten vor.

Die Mutter zerrt das Kind am Arm: “Verdammt noch mal, nun trödel nicht so!“

Blöd, dass sie heute ihren Buggy nicht dabei hat, dann hätte sie die Kleine schieben können. Jetzt fängt sie auch noch an zu heulen, auch das noch!

„Heul nicht“, zischt sie und schleppt das Kind weiter.

Ein Ausdruck zwischen Verachtung und schmerzlicher Enttäuschung spiegelt sich im Gesicht des Mädchens wider. Es bohrt die tränennassen Augen in den Rücken der Mutter. Hinter seiner glatten Stirn arbeitet es, abrupt bleibt es stehen und reißt sich mit einer heftigen Armbewegung los.

„Mach, dass du weiterkommst. Was fällt dir ein?“ schreit die Mutter wutentbrannt.

Das Kind rührt sich nicht vom Fleck, bleich und stumm steht es wie in Stein gehauen. Die Mutter dreht sich um, ein paar Schritte rückwärts gehend droht sie mit sich überschlagender Stimme:

„Wenn du jetzt nicht sofort mitkommst, dann geh‘ ich allein nach Hause und lass dich hier stehen!“

Der kleine Rücken strafft sich, die Hände schließen dicht an den Körper, wie ein Zinnsoldat in Habachtstellung verharrt es reglos.

„Gut, wenn du es so haben willst, ich gehe jetzt“, sagt die Mutter laut. Vollkommen emotionslos wendet sie sich entschlossen wieder um und geht festen Schrittes, ohne sich nur ein einziges Mal umzublicken, davon.

Die kleine einsame Gestalt, in einer dreiviertellangen karierten Steppjacke, einer bunten Pudelmütze mit einem lustigen Bommel auf dem Kopf, bleibt zurück auf dem Bürgersteig und sieht der Mutter eine Weile hinterher, wendet sich dann ebenfalls um und entfernt sich ruhig in entgegengesetzter Richtung, die kleinen Füße wie abgezirkelt gerade voreinander setzend. Die Mutter ist um eine Straßenbiegung verschwunden.

Das Mädchen geht immer geradeaus, vorbei an den schon abendlich verdunkelten Fenstern, durch einige flimmert das Licht des Fernsehapparats.

Es weint nicht mehr, kein Laut kommt über seine Lippen, auch nicht, als ihr der alte Nachbar, der neben ihnen wohnt, begegnet. Er reißt die Augenbrauen hoch, es scheint, als wolle er etwas sagen, schnell geht sie weiter und hört, wie er ihren Namen ruft: Elvira!

Die Straße ist in Dämmerlicht getaucht, einige Laternen sind ausgefallen, von übermütigen Buben mit Steinwürfen ausgeknipst. Elvira ängstigt sich nicht, wie von selbst tragen sie ihre Füße voran. Mit einem Mal fällt ein zunächst noch schwaches Licht auf das Pflaster. Eine in einen schimmernden Dunstschleier gehüllte, lichtumflutete Gestalt senkt sich herab, die ihr den Weg versperrt und nun strahlende Helligkeit verbreitet. Das Wesen streckt die Arme nach Elvira aus und spricht zu ihr mit sanfter Stimme:

„Komm, Elvira. Wir gehen heim. Hab keine Angst, ich bin dein Schutzengel.“


Der Engel hebt sie zu sich hoch. Elvira schmiegt den Kopf in seine Schulterbeuge. Die weiße Wolke hüllt sie ein, trägt sie empor, und beide werden von der Dunkelheit verschluckt.

Viel später wird ein Suchtrupp ausgeschickt.

Der alte Nachbar sagt: „Hier habe ich sie zum letzten Mal gesehen“, aber Elvira bleibt für immer spurlos verschwunden.

Zwischen Menschlichem

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