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Lieber Monsieur Hodler

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Ich habe beschlossen, Ihnen einen langen Brief zu schreiben, und nehme Ihren hun­dertsten Todestag zum Anlass. Seit einem guten Vierteljahrhundert beschäftige ich mich mit Ihnen. Eine Freundin pflegt zu sagen: «Um kreativ zu sein, muss etwas den Sitz des Denkvermögens einnehmen.» Eines Tages habe ich in Basel das Gemälde entdeckt, das eine Frau, Ihre Geliebte, im Todeskampf zeigt. Valentine richtet ihren flehenden Blick auf Sie. Ihr Gesicht hat schon etwas Leichenhaftes, Sie haben diesem ein grau­sames Grün gegeben. Später habe ich erfahren, dass Sie sie mehrere Hundert Male gemalt und gezeichnet hatten. Sie haben über sie gewacht, sich um sie ge­sorgt, sie geliebt. Sie haben das Fortschreiten ihrer Krankheit auf ihrem Mund, an ihren Händen auf den zerknüllten Leintüchern genau beobachtet. Als das Ende nahte, sind Sie jeden Tag mit Ihrem Malzeug von Genf nach Vevey gefahren. Ich kenne keine ehrlichere Haltung für einen Künstler als diese Hart­nä­ckig­keit, sich einem Leben zu stellen, das aus­ge­löscht wird.

Indem ich mich an Sie wende, möchte ich anderen erklären, warum Guillaume Apol­linaire Sie als «ei­nen der größten Maler dieser Epoche» gewürdigt hat. Fasziniert von Ihrer Liebe zu Valentine, habe ich einige Fragen. Bisher habe ich gezögert, Ihnen diese öffentlich zu stellen. Ich finde sie zu intim, und Sie sind ohnehin nicht mehr da, darauf einzugehen. Ich werde deshalb die Antworten selber suchen müssen und dabei auch Ihre Bilder zurate ziehen. Ich lege ­zu­dem Wert darauf, Sie gegen gewisse Personen zu verteidigen, die behaupten, Sie hätten Valentine zu einem Objekt, nicht einem Subjekt gemacht.

Wie Sie liebe ich die Sonnenaufgänge über der Genfer Bucht, wenn der Mont-Blanc aus dem nächtlichen Nebel auftaucht. Auf Ihrem Balkon im zweiten Stock warteten Sie im Sessel, in dem Sie Ihre letzten Nächte verbrachten, auf den ersten Sonnenstrahl.

Von dort aus, stelle ich mir vor, werden Sie meine Fragen beantworten, nicht durch Reden, sondern mit einigen Pinselstrichen, die die Schönheit der Morgendämmerung und die Pracht der Berge, die sich im See widerspiegeln, einfangen.

Um meinen Freunden verständlich zu machen, warum meine Gedanken ständig um Sie kreisen, wer­de ich Ihnen Dinge über die Art, wie Sie der Welt durch die Malerei begegnen, schreiben, die Sie be­reits wissen. Wenn man sich sein Leben erzählt, bringt man es in eine Ordnung, auch wenn es in Wirklichkeit un­­ge­ordneter ist als die Biogra­fie. Ich werde also sagen, wie Sie gelebt haben, obwohl Sie nichts mehr berichtigen oder erklären können. Ich werde Ihnen Fragen stellen, die andere rhetorisch finden werden.

Nein, Monsieur Hodler, ich bin nicht verschroben. Nach so vielen Jahren an Ihrer Seite versuche ich das, was ich Ihnen verdanke, klarzustellen: Warum die Porträts einer Sterbenden mir geholfen haben zu leben. Porträts, die ich so oft angeschaut habe, dass mir meine Augen wehtaten, manchmal auch wegen zu vieler Tränen.

Sie sind am Pfingstsonntag, 19. Mai 1918, gestorben, als das Ende des Ersten Welt­kriegs noch nicht abzusehen war. Ich habe nachgeschaut, das Wetter war an je­nem Tag heiter. Zu dieser Zeit im Jahr be­­gin­­nen die morgendlichen Schwimmer, die glatte Oberfläche des Sees aufzuwühlen. Manchmal bin ich in der Morgen­dämme­rung der einzige Schwimmer in den Bains des Pâquis. Während ich ans Ufer zurück­kehre, schaue ich zu Ihrem Balkon hinauf. Es kommt mir vor, als seien Sie immer noch dort, in Decken ge­hüllt, aus denen nur Ihre müden Arme und ein Pinsel heraus­ragen.

Ich habe nicht vor, Sie über alle Maßen zu loben, bin nur ein Bewunderer, weder Kunstkritiker noch Biograf. Viele Einzelheiten in Ihrem Leben und Ihrem Werk sind für mich uninteressant. Ich überlasse sie dem exaltierten Patrioten, der die größte Sammlung besitzt, für seine Reden. Das Meiste, was ich über Ihren Alltag und Ihr Werk weiß, habe ich von einem jungen Schriftsteller erfahren, der Sie in Ihren letz­ten Jahren begleitet hat. Er hat sich vieles notiert, ich habe geglaubt, ihm vertrauen zu können. Dass er ein mutiger Mensch ist, hat er im Kampf gegen den spanischen Faschismus bewiesen. Dank diesem Hans Mühlestein, dem Sie einen Teil Ihrer Geheimnisse vor­enthalten haben, werde ich versuchen, Ihre Wutausbrüche zu verstehen und warum Sie das Leben malten, indem Sie den Tod zeichneten. Um herauszufinden, wie ich meines führen soll, werde ich mir einige peinliche Bemerkungen erlauben. Nehmen Sie mir das nicht übel, wenn alles gut geht zwischen uns, werde ich auf dem Friedhof Saint-Georges drei rote Rosen, das heimliche Zeichen Ihrer Liebe zu Valentine, auf Ihr Grab legen.

Wenn die Nacht in Stücke fällt

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