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Die Begegnung

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Am 14. März 1913 hat die französische Regierung Sie anlässlich Ihres sechzigsten Geburtstags zum Offizier der Ehrenlegion ernannt. Berthe, Ihre Frau, hat Ihnen vor­geschlagen, in Paris eine Dankesvisite ab­zu­statten. Sie behauptete, das sei für Ihre Karriere nötig, und da Sie Ihrerseits einige Fragen zu Bildern von Courbet und Ingres stellen wollten, haben Sie sich auf die lange Reise gemacht.

Nachts hatten Sie wenig geschlafen. Am Morgen, als der Botschaftssekretär Sie am Gare de Lyon abholen kam, haben Sie sich gefragt, was Ihnen nur einge­fallen war, auf diese Rückkehr nach Paris einzugehen.

Das Tagesprogramm war für Sie organisiert worden. Erst am Abend, auf der Ter­rasse einer Brasserie in Montparnasse, haben Sie endlich Ihr Skizzenheft hervorneh­men können, um zu zeichnen, was Ihnen der Mühe wert schien in Paris: die Parise­rin­nen, ihre erstaunlichen Hüte, ihre elegante Erscheinung, zielstrebig in ihren Stie­feln. Sie waren allein. Berthe ­wartete im Hotel in der Nähe auf Sie. Der Kellner hat Ihnen eine Decke angeboten, die Sie abgelehnt ha­ben. Sie beobachteten die Hand­griffe eines Straßenla­ter­nenanzünders. Mit seiner Stange glich er einem Landsknecht mit seiner Hellebarde. Sind Sie Maler?, hat eine Frau gefragt, die auf dem Trottoir vorbeiging.

Die Krümmung ihrer Nase ist Ihnen aufgefallen. Sie war ein Musterexemplar der Stadt, weiße Bluse, schwarzes Gilet, die Haltung ihres Kopfes hatte etwas Amerikanisches. Sie haben ihr nicht geantwortet. Vielleicht wegen Ihres Ak­zents, der Sie als Auslän­der verraten hätte. Oder aber weil Sie diese indiskreten Frau­en von schlechtem Lebenswandel, die sich auf den Pariser Trottoirs herumtrieben, verabscheuten. Sie hat nicht auf einer Antwort bestanden, sich et­was weiter weg hin­gesetzt, Ihnen ihr Profil zugekehrt.

Ohne zu überlegen, haben Sie in Ihrem Heft ge­blättert und dann in wenigen Stri­chen die Skizze der Unbekannten beigefügt, als hätten Sie ihre Frage be­antworten wollen: Ja, Madame, ich bin Maler.

Sie hat den Kopf mit einem halben Lächeln Ihnen zugewandt und Ihnen dadurch erlaubt, weiterzuzeichnen, aber Sie mochten nur richtige Posen, und die Fremde hatte sich gerade bewegt. Auf den Terrassen in Montparnasse gab es wenige Frauen ohne Be­gleitung. Im Allgemeinen warteten sie auf jemanden, der sich verspätet hatte, oder suchten Klienten. Einige boten sich als Modell an, was meist mit einem aus­schwei­fenden Leben verbunden war. Berthe erwartete Sie, Sie haben dem Kellner ein Zei­chen gegeben, dass sie zahlen wollten. In diesem Moment hat sich die Dame, die Sie gezeichnet hatten, Ihrem Tisch ge­nähert und Ihnen mit einem Lächeln ihre Visiten­karte entgegengestreckt: Es würde mich nicht stören, Ihnen Modell zu stehen.

Erneut sind Sie sprachlos geblieben, haben die Kar­te mürrisch mit einem kaum wahr­nehmbaren Ni­cken in die Tasche gesteckt. Sie war schon gegangen.

Am nächsten Tag im Louvre vor einem Gemälde von Ingres, als Sie Ihr Heft geöff­net haben, um ein Detail zu kopieren, ist die Visitenkarte herausgefallen. Nehmen wir an, es handelte sich um Valentine Godé-Darel mit einer Adresse im sechsten Ar­ron­disse­ment. Das gelang Ihnen nicht oft, mit drei Strichen jemanden, der vorbei­ging, zu zeichnen. Sie ­ha­ben an das große unvollendete Bild in Ihrem Atelier in Genf gedacht, das Sie Blick in die Unendlichkeit nannten. Es fehlte dort noch eine weibliche Person. Und da, vor dem Gemälde von Ingres, haben Sie die Intuition gehabt, diese Lücke könnte durch die ­Pariserin, die Sie am Abend zuvor in Montparnasse gesehen hatten, gefüllt werden.

Zurück im Hotel, während Berthe schon die Koffer für den nächsten Tag packte, haben Sie ihr vorgeschlagen, einige Tage in Paris zu bleiben. Sie war darüber er­staunt, erfreut, nochmals Ihr Geld für Kin­­kerlitzchen in den Läden der großen Bou­levards ausgeben zu können.

Sie haben einen Laufburschen geschickt, ein Atelier in der Grande Chaumière zu reservieren, dann zu der Dame, deren Adresse Sie hatten – Rue Saint-Benoît –, um ihr eine Sitzung vorzuschlagen. Je schneller desto besser.

Am Tag darauf hat dann die erste richtige Begegnung stattgefunden. Nach zwei Stunden, in denen Sie sie gezeichnet haben, als säße sie immer noch auf der Terrasse von Montparnasse, haben Sie die Dame zu einem Glas Wein eingeladen und ihr vor­ge­schla­gen, am nächsten Tag nochmals zu kommen. Das war ihr unmöglich. Sie ha­ben nicht zu fragen gewagt, woher der melancholische Schleier komme, den Sie in ihrem Blick gesehen hatten. Sie lächelte ihnen zu, Sie sagten Plattitüden. Später haben Sie erfahren, dass sie eben eine schmerzhafte Scheidung hinter sich hatte.

Monsieur Hodler, diese Frau hat Sie eingeschüch­tert. Sie haben über sich gespro­chen und abschließend gesagt: Entschuldigen Sie, Madame Darel, ich rede und rede … Ausgerechnet Sie, von dem alle sagten, Sie seien wortkarg, unwirsch, «unfähig, einen Satz zu beenden», Sie haben Ihre Projekte und zu­letzt das erwähnte Bild in Genf geschildert. Sie hat nur einige Bemerkungen gemacht, aus denen klar geworden ist, dass sie über Ihre Kunst und die Theorie der Malerei mehr wusste als Sie. Sie kannte die Werke der meisten Ihrer Zeitgenossen, sodass Sie gedacht haben, sie male ebenfalls, wagten aber nicht, sie danach zu fragen.

Über die Frauen haben Sie festgefahrene Meinungen gehabt. Die einen waren schö­ne Modelle, mit denen Sie die Sitzungen im Atelier gerne in schnelle Um­­armungen verlängerten, die Liste der Namen wäre lang. Die anderen Blaustrümpfe, verklemmte, gebildete Spieß­bürgerinnen, aber unattraktiv. Zum ersten Mal begegneten Sie einer Frau, die Sie gleichzeitig wegen ihrer Schönheit «einer byzantinischen Kai­se­rin» auf einem Mosaik in Ravenna und wegen ihrer Intelligenz faszinierte. Valentine hat Ihre Vorstellung der weiblichen Welt durcheinandergebracht. ­

Es hat nur eine Skizze in Montparnasse und zwei Sit­zun­gen mit ihr als Modell in der Grande Chaumière ge­braucht, um zu verstehen, wie Ihnen geschah. Des­halb Ihr Vorschlag: Madame, wür­den Sie nicht einige Tage nach Genf kommen? Antwort: Monsieur Hodler, ich glaube nicht, die Frau zu sein, die Sie su­chen, aber wenn ich Ihnen damit eine Freude be­rei­ten kann …

Später hat sie behauptet, Sie seien leicht verwirrt gewesen, bevor Sie entgegneten: Oh doch. Sie haben so getan, als hätten Sie von ihr keine Antwort bekommen, als Sie sie verließen, als wüssten Sie nicht, ob Sie sie je wiedersehen würden. Bis zu dem Tag, an dem Sie von ihr ein Briefchen erhalten haben.

Wenn die Nacht in Stücke fällt

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