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Vom Formen einer Büste

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Valentine Godé-Darel ist für Sie weder ein Modell noch eine Geliebte wie jede ande­re gewesen. Sie war nach einer gescheiterten Ehe mit einem Professor an der Sorbon­ne, der sich mit seiner Spielsucht ruiniert hatte, nach Genf gezogen. Sie waren etwa so alt wie ihr Vater. Man hatte bei ihr eine Krankheit diagnostiziert, die sie dahinraffen würde. 1914 war sie die ers­ten sechs Monate in der Klinik von Riant Mont ans Bett gebunden. Hier besuchten Sie sie zunächst Tag für Tag und brachten Ihren Malkas­ten mit. Sie nahmen den Zug nach Lausanne, der um ein Uhr in Genf abfuhr.

Eines Abends im Februar 1914 war Sie der sechsundzwanzigjährige Hans Mühlestein wie immer am Bahnhof ab­holen gekommen. Er hat an Ihnen eine besondere Trauer, eine extreme Niedergeschlagenheit be­merkt. Sie waren nur sechzig Jahre alt.

Valentine sollte operiert werden. Sie ertrug es nicht mehr, Sie auch nicht. An die­sem Tag hatten Sie sich beim Arzt nach dem Gesundheitszustand von Madame Darel erkundigt. Er hatte Ihnen die Wahrheit gesagt, die keine Hoffnung übrig ließ. Valen­tine sollte nichts gesagt werden, selbst wenn Sie annahmen, dass sie ihr Los kannte.

In Ihrem Atelier im obersten Stock an der Rue du Rhône haben Sie die Mappe mit den täglich an ihrem Bett gemachten Zeichnungen geöffnet: Aquarelle und Dutzende von Skizzen für Bilder. Von heftiger Wut er­griffen, wollten sie diese zerreißen. Müh­lestein wird Ihre Worte überliefern: Das sei «alles nur Lüge und Dreck». – «Dieser schöne Kopf, diese ganze Figur, wie eine byzantinische Kaiserin auf den Mosaiken von Ravenna – und diese Nase, dieser Mund – und die Au­gen, auch sie, diese herrlichen Augen – all das werden die Würmer fressen! Und nichts davon wird übrigbleiben, nichts, rein nichts! Etwa dieses Zeug da –?» Das seien «Fetzen Papier», und all das Gemalte nichts als «beschmierte und verdreckte Hudeln und Lumpen!».

Sie setzten dem armen Hans zu: «Kann man sie denn da mit Händen greifen? – kann man diese Fetzen und Lumpen so in die Arme nehmen?» Sie breiteten die Arme aus, als würden Sie einen Körper umarmen, ihn an sich drücken. Sie gestikulierten, schrien laut: «Kann man sie so in die Arme nehmen?»

Pathetische Gesten, um den Verlust, der sich ab­zeichnete, zu beschwören. Sie ta­ten, als würden Sie Valentine an sich drücken, sie liebkosen, dann stießen Sie sie hef­tig weg. Das Verlangen, sie ganz nah zu haben, war übermächtig. Hans ist erschro­cken, Ihre Wut beeindruckte ihn. Er hat Ihnen vorgeschlagen: Und wenn Sie eine Büste machten, von ihr? Sie haben innegehalten, ein Lächeln angedeutet: Hans, glaubst du, ich wäre dazu fähig? Nach kurzem Überlegen: Sollte ich nicht zuerst Vi­bert fragen?

Da Hans fürchtete, Ihr Freund, der Bildhauer ­Ja­mes Vibert, könnte Sie umstim­men, hat er Sie überzeugt, dass Sie zu einer Skulptur fähig seien, auch wenn sie noch nie eine gemacht hatten.

Nur keine Zeit verlieren. Hans hat Anweisungen bekommen, zum Laden an der Rue du Mont-Blanc, wo Sie Ihr Material kauften, zu gehen, sobald er öffne, alles zu beschaffen, was für eine Skulptur nötig sei und es zum Ein-Uhr-Zug zu bringen.

So war alles vorbereitet. Sie waren bereit, Bildhauer zu werden. Geben Sie zu, am Morgen gingen Sie bei Ihrem Freund Vibert vorbei, um sich einige Ratschläge zu holen.

Eine Woche lang haben Sie unter Hochdruck ge­­arbeitet. Sie hatten die Erlaubnis, Valentine eine halbe Stunde posieren zu lassen, während eine Kranken­schwester sie stützte, damit ihr Torso wie auch ihr Kopf aufrecht blieben. Danach machten Sie aus dem Ge­­dächtnis weiter.

Jeden Abend erwartete Sie Hans am Bahnhof. Sie kamen erschöpft an. Selbst die größten Gemälde hatten Sie nie in einen solchen Zustand versetzt. Sie ­hatten gerade noch die Kraft, Seufzer auszustoßen, während Hans Sie bis zu Ihrer Wohnung am Quai du Mont-Blanc begleitete.

Am Tag, als Sie Ihre Arbeit für abgeschlossen hielten, hat Hans Sie am Bahnhof mit einem Pferdewagen abgeholt. Aus Angst vor der leichtesten Erschütterung des Fahr­zeugs hielten Sie das wertvolle Paket, in feuchte Tücher eingehüllt, auf Ihren Knien. Sie berührten die Oberfläche des Bündels so zärtlich, als handle es sich um Valenti­nes Haar.

In Ihrem Atelier unter dem Dach haben Sie die Skulptur vorsichtig ausgepackt, sie auf Augenhöhe auf ein Jutetuch gestellt. Hans war von der Ähnlichkeit mit Valentine überwältigt, Sie nicht minder.

Sie haben den Abend mit Ihrem jungen Bewunderer verbracht, der behaupten wird, mit Ihnen nie mehr solche Momente erlebt zu haben. Es war, als sei Valentine anwe­send. Sie riefen sich die Anatomiestunden bei Professor Carl Vogt ins Gedächtnis, die Art, wie er die Leichen öffnete, um Ihnen zu zeigen, wie sie gebaut waren. Sie beeindruckten Hans, in­dem Sie von den Würmern redeten, die die Leichen fressen, und von Ihrer absoluten Überzeugung: Nur die Körper und die Erinnerung an Umar­mungen exis­tieren, die Toten haben keine Seele mehr.

Am nächsten Morgen haben Sie einen Fotografen kommen lassen, da Sie fürchte­ten, die zerbrechliche Tonerde halte nicht lange. Selbst Materialist, fehlte Ihnen die Erfahrung, wie man die Materie und ihre Form konserviert. Sie warfen sich Ihre dop­pelte Un­fähigkeit vor: unfähig, Valentine unter den Lebenden zu halten, unfähig, ihre Büste zu bewahren.

Die zwei Fotos, einzige Zeugnisse der verliebten Geste, gaben Ihre Arbeit schlecht wieder. Danach ha­ben Sie einen Abdruck gemacht, zuerst aus Gips, dann in Bronze. Vergeblich. Die Skulptur hat sich bis zur Lächerlichkeit verformt. Der Kopf hatte sich ge­streckt, die Nase auch, die Stirn senkte sich, die Lippen verzo­gen sich mit fei­nen Rissen. Als Sie die Schäden reparieren wollten, haben Sie neue produziert.

Sie waren entmutigt, gezwungen, zu Ihren Zeich­nungen und Bildern zurückzukeh­ren. Sie hatten nur noch die glatten Oberflächen, um zu versuchen, das Leben zu­rückzuhalten, solange es in den Zügen Ihrer Liebsten weiter bestehen würde.

Hans Mühlestein berichtet die Szene so gut, dass ich nichts ändern muss. Lange habe ich geglaubt, dass Sie zur Zeit dieser misslungenen Skulptur Valentine erst seit Kurzem kannten. Ich habe nur mit Mühe Ihre erste Begegnung mit ihr rekonstruieren können, weil ich der Aussage dieses Zeitgenossen geglaubt habe.

Wenn die Nacht in Stücke fällt

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