Читать книгу DSA 109: Hjaldinger-Saga 3 - Eis - Daniel Jödemann - Страница 6
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Hagnisdala, Brajan 2111 IZ
Jurga legte sich mit einer solchen Inbrunst in die Riemen, dass das kleine Boot auch mit einem Segel kaum rascher vorangekommen wäre. Hasgar ließ die engen Maschen des Fangnetzes durch seine Finger gleiten und prüfte die Senker, die das Netz in der vorgesehenen Tiefe halten würden. Er hatte das engmaschigste ausgewählt, das sie besaßen. Sie konnten es sich nicht leisten, Beute entkommen zu lassen, selbst im Sommer. Schon ein Korb voller Strohfische wäre heute ein großer Erfolg.
»Das Meer.« Er blickte zurück, über die weite Wasserfläche hinweg und bis zur Küste. Das Gletschermeer lag so glatt und reglos da wie ein Spiegel. Die grauen Wolkenfronten, die Glaiwa den Blick verwehrten, spiegelten sich darin wider. Feine weiße Nebelschwaden schwebten knapp über der Oberfläche. »Es schmeckt mir nicht. Die See ist zu ruhig. Effar hat sich abgewandt. Wäre er hier, würde er das Meer in Wallung bringen.«
Die Muskeln an Jurgas Armen spannten sich bei jedem neuen Zug an. Sie hielt die Augen auf das Boot gerichtet und sah nicht zurück nach Hagnisdala. Sie hatte gerade erst ihren dreizehnten Winter erlebt und war nicht so kräftig wie Hasgar. Er wusste es aber besser, als seiner Schwester das Rudern abzunehmen. Zorn und Frustration suchten nach einem Weg aus ihr heraus. Besser so, als es mit den Fäusten zu tun – oder sich mit Vater anzulegen. Jurgas Wangen röteten sich mit jedem Zug mehr.
Es war früh am Morgen und die Sippenrune, die ihre Stiefmutter Jurga auf den linken Oberarm aufgemalt hatte, war immer noch frisch. Dennoch hatte seine Schwester sofort ihr Wams übergezogen, auch wenn sie so Gefahr lief, dass das Hautbild verwischte. Hasgar verzichtete auf ein Obergewand. Selbst so weit im Norden war es im Frühsommer warm genug.
Über der flachen Bucht zu Füßen der Hardun stiegen feine Rauchsäulen aus den Hütten von Hagnisdala empor. Dahinter, umgeben von Nebel und Wolken, ragten schroffe Gebirgszüge in den Himmel. Ein Anblick, der ihm so vertraut war wie der seines Handrückens. Die Hardun schützten die Odalwik vor den harschen Winden des Eiwara, des ewigen und unendlichen Meeres auf der anderen Seite der Halbinsel.
»Hagnisdala sieht vom Wasser aus immer so klein aus«, murmelte Hasgar. »Es erinnert mich daran, wie groß die Welt wirklich ist und wie wenig ich schon davon gesehen habe. Ergeht es dir genauso?«
Jurga fuhr mit ihren gleichmäßigen Ruderbewegungen fort.
»Hab ein Auge auf die Gletschermöwen, wenn wir später das Fangnetz einholen.« Er wies zum Himmel. »Erinnerst du dich noch, als mir letzten Sommer eine Möwe diesen Dotterbutt aus dem Netz stahl – den, der so lang war wie mein Arm?«
Endlich reagierte sie. »Er wächst mit jeder Erzählung. Das nächste Mal ist der Dotterbutt so lang wie dein Bein. Danach dann so groß wie das Boot.«
Er grinste. »Da du mich nicht verraten wirst, kann mich auch niemand der Lüge bezichtigen.«
Jurga hatte den ganzen Morgen kaum drei Worte über die Lippen bekommen. Das war nicht ungewöhnlich, aber er hatte gehofft, dass es half, wenn sie endlich allein waren und Hagnisdala und damit ihr Vater Tjalf und ihre Stiefmutter Hjalda nur noch fingerkuppengroße Punkte am Horizont waren.
»Nur drei Sommer Geduld und sie stechen dir auch die Sippenrune.« Er wies auf ihren Arm. »Dann musst du nicht mehr jeden Morgen bei Hjalda vorsprechen.«
»Ich hab nichts gegen sie«, presste Jurga hervor, ohne dem Blick ihres älteren Bruders zu begegnen. »Ganz egal, was Vater behauptet.«
Hasgar räusperte sich. Hätte sie all das doch am Ufer zurückgelassen. »Halt dich etwas weiter südlich. Letztens habe ich bei Alfarz’ Insel zwei volle Netze aus dem Wasser gezogen, wir sollten dort unser Glück versuchen.« Er sah zurück. »Wenn uns die Möwen nicht bestehlen.«
Noch waren die ebenso frechen wie flinken Räuber nicht auf die Kinder des Hersirs aufmerksam geworden. Die Gletschermöwen blieben an den Klippen. Dabei waren die pfeilschnellen Vögel doch eigentlich gerissen genug, um zu wissen, dass leichte Beute heraussprang, wenn eines der kleinen Boote von Hagnisdala auf das Meer hinausfuhr. Niemand konnte es ihnen verdenken – so hoch im Norden war jeder darauf angewiesen, dem kargen Land so viel wie nur möglich an Essbarem abzutrotzen.
Er seufzte laut. »Wünschst du dir nicht manchmal auch, Vater hätte die Sippe nicht hierhin zurückgeführt, als wir Eyjattur verlassen mussten?«
»Wir waren zu klein – selbst du. Behaupte nicht, du erinnerst dich noch daran.«
»Ein wenig«, beharrte er.
»Das hier ist unser Land«, presste Jurga hervor. »Es war nur richtig, dass wir hierher zurückkehren. Hier sind unsere Wurzeln, hier liegen unsere Ahnen begraben. Keine Sippe sollte sich zu weit von den Gebeinen ihrer Vorfahren entfernen – ist es nicht das, was Vater immer sagt?«
Hagnisdala war nach Hagni benannt, auf den sich auch ihre Sippe als Stammvater berief; ihr legendärer Ahn, der für seine Beharrlichkeit bekannt war und sich standfest geweigert hatte, seine Heimat zu verlassen.
»Zumindest müssen wir uns keiner Riesen erwehren.« Hasgar beendete die Prüfung des Netzes. »Sicher erinnern sie sich noch an die Abreibungen, die Hagni ihnen verpasst hat, und sie ziehen es vor, in ihren Höhlen zu bleiben. Trotzdem wünschte ich mir manchmal, im Sommer ein paar mehr Blumen blühen zu sehen und nicht Stunden damit zu verbringen, einige abgemagerte Fische zur Bereicherung unseres Speiseplans zusammenzutreiben. Schon etwas weiter südlich sind die Winter milder, die Wiesen grüner und das Wild zahlreicher.«
»So solltest du nicht reden, wenn du jemals in Vaters Fußstapfen treten willst.«
Er grinste flüchtig. »Ich denke nicht, dass das Hersirsamt in meiner Zukunft liegt.« Er musterte seine jüngere Schwester aufmerksam. »Jemand, der für seine Dickköpfigkeit und Sturheit bekannt ist, so wie Hagni und Vater, den wählen sie in unserer Sippe immer.«
»Das sind gute Nachrichten für Tola«, murmelte Jurga.
Schmunzelnd ließ er den Blick über die Wasseroberfläche wandern, den weiten grauen Spiegel. Sie kamen gut voran. Das Meer fiel kurz hinter der Bucht stark ab und das graublaue Wasser wurde von tiefdunklem abgelöst. Ein Stück entfernt ragte ein zerklüfteter Holm hervor. »Wir sind da, leg die Riemen beiseite. Kommen wir der Insel nicht zu nahe. Eine Nikwis lebt da, vergiss das nicht. Sie wird zornig und die Fische vertreiben, wenn wir sie stören.«
Jurga verharrte. Ihre dunkelgrünen Augen wanderten, wie so oft, zum Horizont – wie immer, wenn sie auf dem Meer waren, so als sähe sie dort etwas, was ihm verborgen blieb. In ihrem Gesicht regte sich kein Muskel.
Er kannte diesen Ausdruck nur zu gut. Ihre Gedanken waren woanders und sie vergaß alles um sich herum – so als lauschte sie einem fernen Lied, das über das Meer heran wehte. Früher hatte er sie bisweilen damit aufgezogen. Inzwischen wusste er, dass es mehr war als nur eine wunderliche Eigenart oder eine kindliche Marotte.
Doch es war besser, sie nicht darauf anzusprechen, selbst wenn ihr Vater sie hier draußen nicht hörte. Das Thema war zu brenzlig und führte nicht selten zu Geschrei und fliegenden Fäusten. Eine Ablenkung musste her.
»Auf mit dir!« Er gab ihr einen ungeduldigen Wink. »Hilf mir mit dem Netz, ehe die Fische zu dem Schluss kommen, dass sie heute nicht mehr gefangen werden und sich ein anderes Boot suchen.«
Sie reagierte nicht, runzelte lediglich die Stirn. Sie strich sich über die Arme, so als fröstelte sie.
»Jurga?«, hakte er nach.
Ihre Augen huschten unruhig umher.
Hasgar folgte ihrem Blick, hinaus auf die weite dunkelgraue Wasserfläche, in der sich die Wolkenmassen widerspiegelten. Es war düster geworden, und das ungewöhnlich rasch. Doch selbst wenn nun Regen einsetzte oder ein Sturm aufkam, war die rettende Bucht von Hagnisdala nicht fern.
Allerdings lag auch der feine grauweiße Schleier immer noch über dem spiegelnden Meer – einer, der sich sonst nur im Frühjahr oder Herbst zeigte. Die Nebelschwaden regten sich kaum, kein Lüftchen versetzte sie in Wallung.
»Kehren wir besser um«, murmelte Jurga.
»Warum das?«
»Nur so ein Gefühl«, raunte sie, kaum noch zu hören.
Jeder andere würde sie ermahnen, ihre Warnung als unsinnig abtun – das Geschwätz eines verängstigten Kindes. Er wusste es nach all den Jahren besser. »Ist es … Ist er es? Spricht er mit dir?«
»So funktioniert es nicht, und das weißt du.« Jurga kniff die Augen zusammen und spähte hinaus aufs Gletschermeer.
Hasgar blickte sich um. »Das Meer ist doch ruhig. Denk daran, was Vater gesagt hat. Kehren wir besser nicht mit leeren Händen zurück.«
Seine Schwester riss sich von dem Anblick los und schüttelte den Kopf, so als vertriebe sie eine unangenehme Erinnerung oder einen störenden Gedanken. »Verzeih mir.«
Sie erhoben sich. Das Boot schwankte kaum unter ihren Füßen, als sie behutsam und hundertmal eingespielt das Netz entfalteten. Dabei achteten sie sorgsam darauf, dass sich die Senker nicht verwickelten.
»Willst du es werfen?«, bot Hasgar an.
Sie sah auf. »Du fragst doch sonst nicht. Warum heute?«
Er grinste schief. »Vielleicht habe ich ja …«
Ihre Augen weiteten sich. Sie hob abrupt die Hand. »Vorsicht, da …«
Ein heftiger Stoß erschütterte das Fischerboot. Hasgar wurde von den Beinen gerissen und landete kopfüber im Netz. »Was, bei Rondris …«
Jurga rappelte sich wieder auf. Alarmiert hob sie den Kopf, spähte über den Rand des Bootes hinweg. Was auch immer sie sah, Entsetzen lag in ihren Augen. »Hasgar …«
Er sah rundum nur Bordwände und über sich den stumpfgrauen Wolkenhimmel. Die Panik im Gesicht seiner Schwester ließ ihm einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Verzweifelt kämpfte er gegen das Netz an. »Jurga! Hilf mir, verdammt!«
Ein weiterer Stoß ging durch das Boot und warf Jurga zu Boden. Dieses Mal neigte es sich bedenklich zur Seite und ein Schwall frostig-kalten Wassers schoss herein. Nur für den Bruchteil eines Augenblicks erhaschte Hasgar einen Blick auf einen dunklen, feuchten Leib, ehe sich die Bootswand wieder hob.
»Hilf mir!« Hasgar nestelte das Messer unter der Tunika hervor, das er wie alle Hjaldinger an einem Lederriemen um den Hals trug. Die Panik schnürte seine Brust zusammen. Was ging hier vor, was attackierte sie?
Stöhnend griff Jurga nach der Platzwunde an ihrem Hinterkopf.
Hasgar schob das Messer zwischen die Maschen.
Ein weiterer Stoß traf ihr Boot und ließ es ächzen.
Hastig durchtrennte Hasgar das einengende Netz und schob es beiseite. Noch im Aufrichten griff er nach der kurzen Harpune, die an der Bordwand lag. »War es ein Streifenhai? Hast du ihn gesehen, Jurga?« Er zog sich empor. »Bist du schwer verletzt?«
»Es geht schon«, presste sie benommen hervor und tastete nach ihrem Hinterkopf.
»Was war das?« Sein Blick flog über die Wasseroberfläche, auf der Suche nach einer Rückenfinne. Er umklammerte den Schaft der Harpune. Sie war dazu gedacht, größere Fisch zu erlegen, die sich im Netz verfingen, aber er machte sich ohnehin nichts vor: Töten konnte er einen ausgewachsenen Streifenhai oder gar einen Brackhai damit nicht, auch wenn sie eine willkommene Beute wären. Er konnte ihn allerdings davon überzeugen, sie in Frieden zu lassen.
»Es ist schnell«, warnte Jurga, immer noch benommen.
»Bleib unten!« Er wog die Waffe in der Hand. Nie zuvor hatte er sich gegen einen Hai wehren müssen, doch das war nicht der Moment, um zu zögern. Ich bin der Erwachsene hier und ich werde meine Schwester beschützen!
Seine Augen huschten umher, darum bemüht, den feinen Nebel über der still und reglos daliegenden See zu durchdringen. Keine Bewegung war zu sehen, kein Laut drang an seine Ohren, nur das heftige Pochen seines Herzens. Er hat aufgegeben. Hat es zwei Mal versucht und erkannt, dass wir keine Beute sind. »Nimm die Riemen!«, bat er. »Wir kehren um, das Netz ist ohnehin …«
»Hasgar!« Sie wies auf das Meer hinaus.
Die Oberfläche kräuselte sich dort, gerade einmal fünfzig Schritt entfernt. Der feine Nebel teilte sich, ein dunkler Schatten schob die Schwaden vor sich her. Er näherte sich rasch.
»Ich sehe keine Rückenflosse.« Er stemmte den rechten Fuß gegen die Bordwand hinter sich, wog die Harpune in der Hand. »Wenn er heran ist, werfe ich. Bleib unten, falls das Boot wieder schwankt!«
Der Schatten kam stetig näher, ein schlanker Umriss, der sich ihnen mit sich seltsam windenden Bewegungen näherte. Er zog eine Welle hinter sich her, die sich ebenso schlängelte wie der dunkle Leib.
Nur noch vierzig Schritt.
Er war viel zu groß für einen Hai. Der Angreifer bewegte sich schnell und nahm immer mehr Fahrt auf.
Hasgar hob die Harpune. Dass sie lediglich in einem winzigen Boot standen, konnte er nicht ändern. Er konnte nur versuchen, seinen zitternden Arm zu beruhigen und im richtigen Moment zu reagieren.
Zwanzig Schritt.
»Jurga, es ist wichtig, dass du mir zuhörst«, stieß er hervor. »Was auch passiert – rudere sofort zurück. Auf gar keinen Fall darfst du mich …«
In diesem Moment wandte sich der Angreifer ab, sank tiefer und schlug einen Haken – schneller und gewandter als jeder Hai. Lediglich ein sanftes Schaukeln ging durch ihr Boot, als die Welle sie erreichte.
Hasgar sah sich alarmiert um, die Harpune immer noch erhoben. »Siehst du ihn? Ist er getaucht?«
Jurga rappelte sich auf. Sie packte ihn am Arm. »Schau!«
Er wandte sich in die gewiesene Richtung.
Etwas Großes brach langsam durch die Wasseroberfläche, vielleicht einhundert Schritt entfernt. Eine Fontäne stieß zischend in die Luft empor, etliche Schritt hoch, aber schräg, zur Seite. Das fahle Zwielicht des bewölkten Tags gleißte auf feuchter grauer Haut und einem eckigen, langgezogenen Kopf.
Hasgar hatte schon einen Svartspiki gesehen, doch noch nie einen solchen Wal. Dennoch war eindeutig, womit sie es zu tun hatten. »Ein Antjahwalaz! So weit weg vom Eiwara?«
Jurga ließ den Blick nicht von dem Pottwal. Sie starrte ihn aus aufgerissenen Augen an.
»Siehst du den Kopf?«, fuhr er aufgeregt fort. »Der misst sicher zwei Mannslängen. Bestimmt ein Bulle, zwölf, vielleicht dreizehn Schritt lang!« Er suchte nach den Riemen. »Weißt du, was das bedeutet?«
Jurga reagierte nicht.
Der graue Riese näherte sich langsam, immer wieder tauchte sein klobiger viereckiger Kopf auf, immer wieder stieg sein Blas prustend in die Höhe. Seine Fluke, zwei große granitgraue Dreiecke, erhob sich träge aus dem Meer.
»Hasgar«, raunte seine Schwester. »Siehst du das?«
»Natürlich, er ist ja nicht zu übersehen.« Er legte hastig das zerschnittene Netz beiseite. »Ein Geschenk Effars! Vier oder fünf Boote werden reichen.«
»Siehst du das?«, hauchte Jurga. »Hasgar …«
Der Wal ließ sich nicht von ihnen beirren. Er setzte seinen Weg fort und würde das Fischerboot bald passieren.
Hasgar verharrte und musterte seine Schwester überrascht. Sie hatte die Augen weit aufgerissen. Tränen glänzten auf ihren Wangen. »War der Schlag auf den Kopf so heftig?« Er stieß sie an. »Setz dich, ehe du über Bord gehst! Ich rudere uns zurück. Der bringt die ganze Sippe durch den Winter.«
Der Pottwal ließ sich ein Stück weit unter Wasser sinken. Der Bulle war kräftig, bestimmt ausdauernd genug, um viele Harpunen zu ertragen und fünf oder sechs Boote zu schleppen, ehe er müde wurde.
Hasgar war noch nie bei der Waljagd dabei gewesen, es geschah nicht oft und er hatte erst vor Kurzem die Sippenrune erhalten. Vielleicht gestattete Vater es ihm heute. Nein – ganz sicher gestattet er es, wenn ich ihm die frohe Botschaft überbringe.
Abrupt wandte sich Jurga ihm zu, so als wäre ihre Benommenheit verflogen. Ihre Augen zogen sich zusammen. »Was redest du da?«
»Wir hofften auf ein Netz Fische und stattdessen macht uns das Meer dieses Geschenk! Im Dorf werden sie uns voller Dankbarkeit küssen.« Er nahm auf der Ruderbank Platz und legte sich die Riemen zurecht.
»Warte!« Jurga war mit einem Satz bei ihm. Das Boot schwankte, als sie ihm überraschend kraftvoll eines der Ruder entriss. »Das kannst du nicht tun! Das darfst du nicht!«
»Wovon redest du?« Er blickte verärgert zu ihr auf. »Wir verschwenden kostbare Zeit!«
Sie trat zurück, das Ruder fest an sich gepresst. »Schwör mir, dass du kein Wort über den Wal verlierst!«
»Du hast dir den Kopf heftiger gestoßen, als ich dachte.« Hasgar rappelte sich auf und griff nach dem Riemen. »Gib ihn mir!«
Jurga ließ nicht davon ab. Ihr Gesicht rötete sich. »Schwör es mir!«
Er riss den Riemen an sich. »Setz dich!«
Mit einem heiseren Schrei warf sie sich auf ihn und packte erneut das Ruder.
»Was ist nur in dich gefahren?« Er rang mit ihr, doch seine Schwester brachte nun eine überraschende Kraft auf. Ihr Gesicht rötete sich, sie knirschte mit den Zähnen und ihre Knöchel, die das Holz des Ruders umklammerten, wurden weiß.
Der Antjahwalaz ließ sich träge in die Tiefe sinken.
Das Boot schwankte heftiger, als die beiden ältesten Kinder Tjalfs verbissen miteinander rangen.
Mit enormer Anstrengung entriss Hasgar seiner Schwester den Riemen. »Reiß dich zusammen! Wir kentern!«
Sie stieß einen Schrei aus und sprang erneut vor.
»Schluss!« Hasgar versetzte Jurga einen Hieb mit der flachen Seite des Ruders und schickte sie zu Boden.
Sie sah zu ihm auf, ihr Gesicht vor Wut und Zorn verzogen. Sie griff nach der Bordwand.
»Bleib liegen!«, befahl er und hob drohend das Ruder. »Ich mag es nicht, den Erwachsenen herauszukehren, aber denk daran, dass ich schon die Sippenrune habe!«
Jurga zog sich empor. Ein dünner Faden Blut rann von ihrer Stirn herab. Sie presste scheinbar unzusammenhängende Worte hervor.
»Was tust du da?« Erneut hob Hasgar seine provisorische Waffe. »Wenn es sein muss, trage ich dich zurück! Willst du das?« Sie rappelte sich auf. Er hob den Riemen höher. »Jurga …«
Der Pottwal durchbrach direkt neben ihnen wieder die Wasseroberfläche, ein grauer Riese, der sie beide überragte. Prustend schoss sein Blas empor und ging auf sie nieder.
Erschrocken sank Hasgar auf die Knie. Die Welle erfasste das Boot, es neigte sich zur Seite.
Er sah zu Jurga auf, die einfach nur dastand und den Wal anstarrte. Der Antjahwalaz ließ sich langsam wieder unter Wasser sinken. Sie streckte die Hand aus, reckte sich ihm entgegen, so weit sie konnte, doch ihre Fingerspitzen erreichten ihn nicht. Ein verzückter Ausdruck lag in Jurgas Gesicht, eine Träne rann über ihre Wange. Der Meeresriese glitt an ihnen vorbei.
»Jurga, was ist nur in dich gefahren?«
Ein Schatten fiel auf sie.
»Vorsicht!«, stieß er hervor.
Die Fluke des Wals kam herab und traf krachend auf ihre Nussschale.
Hasgar wurde emporgeschleudert und landete im Wasser. Aufschlag und Kälte betäubten seinen Leib. Es wurde still und dunkel um ihn herum, tausende Luftblasen umtanzten ihn.
Hastig orientierte er sich, fand Licht, zwang sich dazu, seine tauben Glieder zu bewegen und Schwimmzüge zu machen.
Ein graues Ungetüm zog an ihm vorbei. Außer Reichweite, aber mächtig genug, dass ihn der Sog erfasste und mitzureißen drohte. Ein langgezogenes Knirschen erfüllte seine Ohren, vibrierte in seinen Knochen und betäubte seinen Schädel. Er schrie und stieß einen Schwall von Luftblasen hervor.
Irgendwie gelang es ihm, seine Arme und Beine dazu zu bringen, sich zu regen, und strebte hastig dem Licht entgegen. Prustend durchbrach er die Wasseroberfläche, kehrte zurück ins graue Zwielicht und sog die kalte Luft in seine Lungen.
Das Boot trieb mit dem Kiel nach oben. Hasgar hielt darauf zu. Wassertretend, eine Hand an den rauen Planken des Fischerbootes, sah er sich um.
Der feine Nebel hatte sich verflüchtigt und ein leichter Wind war aufgekommen, der die Oberfläche des Meeres kräuselte. Am Horizont ragten die Berge empor, die ihm den Weg zurück nach Hause wiesen.
»Jurga?« Er hustete, seine Augen glitten suchend umher.
Über ihm kreisten Gletschermöwen und verspotteten ihn höhnisch. Ein Stück entfernt trieb eines ihrer Ruder.
Sein Herz setzte einen Schlag aus. Wie lange ist sie schon unten? Ich habe sie verletzt! Hat sie das Bewusstsein verloren? Er holte tief Luft und ließ sich wieder in das kalte dunkle Wasser sinken. Blinzelnd blickte er umher. Gib sie mir zurück, Effar! Sie ist keine Opfergabe!
Da war nichts. Keine Bewegung, so weit seine Augen die düstere Welt unter der Meeresoberfläche durchdringen konnten.
Er durchbrach wieder die Oberfläche. »Jurga!«, schrie er heiser über das Wasser hinweg. »Jurga!«
Nur das Kreischen der Möwen antwortete ihm.
***
Hasgar eilte auf das Langhaus seiner Familie zu, Jurgas leblosen nassen Leib in den Armen. Grani und Tola blickten auf. Sie spielten mit den Holzfiguren, die er ihnen letzten Winter geschnitzt hatte: ein Wolf, ein Bär, ein Blutbüffel.
Die Zwillinge verstanden zunächst nicht und starrten ihre älteren Geschwister überrascht an. Dann trat Schrecken in ihre Gesichter.
»Hol Vater, Tola!«, befahl Hasgar seiner kleinen Schwester keuchend. Die Kälte hielt ihn nun fest im Griff. Seine Lungen schmerzten. »Grani, lauf zum Heiler! So schnell du kannst!«
Der Knabe starrte ihn aus großen Augen an. »Was ist mit …«
»Sofort!«
Er gehorchte und rannte los, so rasch ihn seine kurzen Beine nur trugen. Tola eilte bereits mit wippenden Zöpfen davon.
Hasgar duckte sich unter dem niedrigen Türrahmen und trat ein. Es roch nach Rauch, Wärme schlug ihm entgegen. »Schnell!«, rief er. »Sie braucht Hilfe! Jurga braucht Hilfe!«
Die in der weiten Halle arbeitenden Frauen und Männer sahen auf. Hjalda eilte sofort auf sie zu. Ihre Augen weiteten sich, als sie Jurgas blasses Gesicht sah. Rasch wischte sie sich ihre Hände am Rock ab und legte prüfend eine auf die Stirn ihrer Stieftochter. »Leg sie hier ans Feuer! Was ist passiert?«
Er schüttelte den Kopf. »Etwas griff das Boot an – ein Hai, denke ich. Sie fiel ins Wasser …«
Man räumte ihnen einen Platz an der Feuerstelle frei. Jemand warf ein Fell auf den Boden und Hasgar legte seine Schwester behutsam darauf ab.
»Rasch!«, befahl Hjalda. »Helft mir, ihr die nasse Kleidung auszuziehen. Holt Decken aus meiner Kammer!«
Er trat einen Schritt zurück und atmete schwer, seine Glieder schmerzten, salziges Wasser tropfte von seinem Haar herab und über sein Gesicht. Dennoch gab es nur einen Gedanken in seinem Kopf: Wenn sie stirbt, ist es meine Schuld.
Hjalda sah kurz auf. »Du wirst dir den Tod holen! Geh und beschaff dir etwas Warmes zum Anziehen.«
Er starrte seine Schwester an. Jurga wand sich, als Hjalda und die Übrigen ihr Beinlinge und Wams auszogen. Ihre Augen waren geschlossen, die Augäpfel dahinter zuckten und rollten umher. Sie presste halblaute Worte hervor, heiser und kehlig. Ihre blasse Haut glänzte vor Schweiß.
»Fieber«, stellte ihre Stiefmutter überrascht fest. »Sie glüht geradezu. Am Morgen ging es ihr doch gut.« Sie prüfte ihren Hinterkopf mit der Hand. Blut klebte an ihren Fingern. »Sie ist verletzt.«
Hasgar nickte nur stumm.
Man trug Wolldecken herbei und Hjalda bemühte sich, Jurga zuzudecken, auch wenn sich das Mädchen immer noch wand, die Decken von sich schob und die helfenden Hände sofort wieder wegschlug. Jemand legte Hasgar eine Decke über die Schultern. Er ließ den Blick nicht von seiner Schwester.
»Was ist passiert?« Tjalf trat in die Halle ein und eilte zur Feuerstelle. Tiefe Furchen zogen sich durch das wettergegerbte Gesicht des Hersirs.
Tola lugte zwischen den Umstehenden hervor, sie starrte ihre ältere Schwester aus weit aufgerissenen Augen an.
Hasgar rang mit sich. »Ein Hai hat unser Boot angegriffen – ein großer Brackhai, denke ich. Sie hat sich den Kopf angestoßen und stürzte ins Wasser.« Das ist nicht gelogen.
Der Hersir schob die Versammelten beiseite und trat nach vorne. »Was sagt sie da?«
Hjalda beugte sich über Jurga. Sie erstarrte, runzelte die Stirn. Dann winkte sie ab. »Sie ist verwirrt, sicher vom Schlag auf den Kopf. Es ist nichts.«
Tjalf kniete neben seiner Frau nieder. Kopfschüttelnd musterte er seine älteste Tochter. »Du solltest auf sie aufpassen, Hasgar«, knurrte der Hersir.
»Es geschah alles so schnell«, murmelte er.
Tjalf zog behutsam Jurgas Decke wieder höher.
»Nicht!« Sie riss die Augen auf. Ihre Pupillen waren stark geweitet und glänzten im Licht des Feuers. »Nicht! Die Insel …« Sie keuchte. »Siehst du die Insel? Der Tempel …«
Ihr Vater fasste sie fest bei den Schultern. »Jurga, hörst du mich?«
»Es brennt … frisst mich auf!« Sie wand sich unter seinem Griff, trat und schlug um sich. »Nicht! Wir müssen weg! Weg von hier! Sie kommen!«
»Jurga!«
»… musst mir zuhören … zwei Dinge habe ich noch zu tun …«
Tjalf schüttelte sie. »Kind! Beruhige dich!«
»Nein! Was du nicht verstehst, wird sie durchschauen«, stieß sie gehetzt hervor. Dann erstarrte Jurga und blickte zu ihrem Vater auf. »Schick mich … zurück«, raunte sie, »zu … ihm. Unter das Meer.« Sie sank wieder auf ihr Lager, krampfhaft atmend. Ihr Gesicht war gerötet, ihre Lippen blau, ihr ganzer Leib bebte und zuckte. Tjalf hatte Mühe, sie festzuhalten.
»Drawina steh uns bei«, stieß der Hersir hervor. Er schloss kurz die Augen und senkte den Kopf. Er sah aus wie ein Mann, der sich lange Zeit vor einer schweren, nicht rückgängig zu machenden Entscheidung gedrückt hatte und dem nun die Hände gebunden waren.
Tjalf erhob sich. Seine Stimme klang rau. »Es reicht.« Er wies auf seine Tochter. »Achte darauf, dass sie sich nicht verletzt, Hjalda. Lass sie nicht aus den Augen, bis der Heiler hier ist.«
Hasgar schloss zu seinem Vater auf, der mit entschlossenen Schritten zur Tür marschierte. »Was geschieht nun? Was hast du vor?«
»Was ich schon vor zwei Wintern hätte tun sollen«, raunte Tjalf. Er wandte sich um und sah zu seiner Tochter. Schmerz und Verzweiflung standen in seinen Augen. »Ich rufe den Saithaman, damit er den bösen Geist, der deine Schwester plagt, endlich austreibt.«
»Warte!« Hasgar griff nach seinem Arm. »Das kannst du nicht tun!«
Tjalfs Gesicht verfinsterte sich. »Warum nicht? Weiß mein Sohn, dessen Sippenrune noch frisch ist, besser als sein Hersir und Vater, wie ich mich um meine Tochter und um meine Sippe zu kümmern habe?«
Hasgar zog unsicher seine Hand zurück. »Sie wird es nicht wollen. Sie sagt doch immer, dass es kein böser Geist ist. Wenn wir abwarten, bis sie …«
»Genau das redet ein bösartiger Geist denen ein, die er in Besitz genommen hat!«, fuhr sein Vater auf. »Du hast sie gehört – er ist es, der ihr ständig diese Flausen eingibt! All das Gerede vom Meer! Er lockt sie zu sich! Ich will meine Tochter zurück.«
»Was, wenn es schiefläuft? Eine Austreibung kann sehr gefährlich sein.«
»Glaubst du, ich weiß das nicht? Was denkst du, warum ich so lange gezögert habe?« Tjalf atmete tief durch. »Wenn du erst Hersir bist, wirst du verstehen. Jetzt hol dir etwas Trockenes zum Anziehen, oder ich verliere dich auch noch an ein Fieber.« Er wandte sich ab und trat ins Freie.
Hasgar sah zu Jurga. Hjalda hielt sie fest und bemühte sich, sie durch leises Zureden zu beruhigen.
Seine Schwester war viel zu lange unter Wasser gewesen. Es war ein Wunder, dass sie noch lebte. Jemand hatte sie geschützt, und ein böser Geist tat so etwas nicht. Etwas anderes war hier am Werk.
»Nicht!« Jurga wand sich auf dem Lager am Feuer. »Sieh nicht hin!«
Er senkte den Kopf und wandte sich ab.