Читать книгу DSA 109: Hjaldinger-Saga 3 - Eis - Daniel Jödemann - Страница 8

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Kapitel 2

Havarskog, Insel Eikey, Brajan 2120 IZ

Die Bulgmarhi, die schlanke Otta der Hallaz-Sippe, das Drachenhaupt verhüllt, lief knirschend auf das flache Ufer auf.

Vardur nickte langsam. Jedes weitere eintreffende Schiff stärkte das Gefühl der Hoffnung, das ihn seit Tagen begleitete. Drawina würde es gutheißen, wenn sie sich einig zeigten. Je mehr sich ihrer Sache anschlossen, desto wahrscheinlicher war zudem ein glücklicher Ausgang ihrer Reise.

Gleichzeitig nährte es aber auch das Gefühl der Endgültigkeit, das in ihm wuchs. Wenn sie erst einmal Hjaldingard zurückgelassen hatten, gab es kein Zurück mehr. Dort draußen auf dem Meer, gleich hinter dem Horizont, wartete ihre Bestimmung auf sie.

»Schon fast vierzig Sippen«, stellte Horm fest. »Und beinahe genauso viele Kriegsschiffe.« Er wies mit seiner verbliebenen Hand das Ufer entlang. »Dazu kommen ebenso viele Schiffe für Vieh und Fracht, für die Kinder und Bauern. Die Ziegen der Aslakur werden gerade auf Halljadurs Weiden getrieben. Die Heddin brachten sogar alle ihre Trehurnoz mit, wir müssen einen Teil davon aber schlachten.«

Nie zuvor hatte Vardur so viele Ottas auf einem Haufen gesehen. Sie lagen so dicht, dass man bequem von einem Schiff zum nächsten hätte springen können. Vor allem die breiteren, bauchigen Frachtschiffe hatte man auf den Strand gezogen. Die meisten waren bereits beladen, andere warteten noch darauf. Dahinter, in der Bucht, hatten die übrigen Drachenschiffe Anker geworfen.

Horm Ohnehand folgte ihm das Ufer entlang, zählte auf, wie viel Vieh sie hatten und mit wie vielen Mitgliedern die einzelnen Sippen gekommen waren. Zwischen den Schiffen eilten geschäftige Hjaldinger umher. Wer kräftig genug war, mit anzupacken, tat dies auch, schleppte Vorräte heran und lud sie auf die Ottas, wo kundige Hände sie festzurrten.

Das Vieh und die Pferde warteten noch in den mit provisorischen Zäunen umgebenen Pferchen. Der Großteil graste auf den Weiden von Eikey, wo sich die Ziegen und Schafe, Trehurnoz und Schweine vor der Abfahrt ein letztes Mal sattfraßen.

Horm kratzte sich an seinem Armstumpf. »Wenn das nicht ein beeindruckendes Drachenschiff ist. Selbst Ottar würde da anerkennend nicken.«

Sie passierten die Blajazehwa, das ›Windpferd‹, eine schlanke, mit kunstvollen Runen geschmückte Otta. Von ihr aus würde Jurga ihren gesamten Schiffsverband anführen. Krieger der Hagni-Sippe verstauten Waffen und Vorräte unter den Ruderbänken. Ein Runaman erneuerte behutsam eine der verschlungenen Runen am Bug, eine Vagarokruna, die seefahrerische Fähigkeiten stärkte. Über ihm ragte der Drachenkopf der Otta empor, der mit Tüchern verhüllt worden war, um die Geister von Eikey nicht zu verschrecken.

»Ich ziehe dennoch die Thurehs vor«, gab Vardur zu. »Das Schiff hat die Havar schon seit Generationen niemals im Stich gelassen. Sie wird uns auch sicher auf die andere Seite des Eiwara bringen.«

Hjalda, die Witwe des einstigen Hersirs Tjalf und Jurgas Stiefmutter, kontrollierte die Kisten, Körbe und Vorräte, die am Ufer standen. Danach entschied sie, welche auf die Blajazehwa geschafft wurden und welche auf eines der drei Frachtschiffe der Hagni. Sie blickte auf und nickte Vardur zu. Hjalda war eine gestandene Kriegerin, deren rotbraunes Haar noch keine grauen Strähnen aufwies. Ihre beiden Kinder Grani und Tola gingen ihr zur Hand. Die Zwillinge hatte noch nicht ganz das Erwachsenenalter erreicht. Mit ihren kastanienbraunen Locken und dunklen Augen kamen sie eher nach ihrer Mutter, vermutete Vardur. Sowohl Jurga als auch ihr Bruder Hasgar hatten blondes Haar und helle Augen.

»Wie viel weiß sie über dich und ihre Tochter?«, raunte Horm ihm zu.

Er winkte ab. »Was macht es jetzt für einen Unterschied?«

Sie umrundeten am Ufer aufgereihte Wasserfässer. »Wir müssen so viel zurücklassen«, seufzte Horm. »Hätten wir doch nur die Zeit, um weitere hundert Schiffe zu bauen.«

»Beschränken wir uns auf das Nötigste. Ich verzichte gerne auf die Erbstücke der Havar-Sippe für ein Fass Trinkwasser mehr, einen Ballen Stroh für das Vieh und eine zusätzliche Kiste mit Saatgut. Vor allem anderen müssen wir selbst ankommen. Wir tragen alles in uns, was wir benötigen, damit unser Volk fortlebt. Sobald wir einen Fuß auf das Ufer des neuen Lands setzen, haben die Imperja verloren. Dann können sie uns nicht mehr auslöschen. Die Hjaldinger überleben, unsere Sagas werden weiterhin gesungen, unsere Ahnen in den Geschichten weiterleben, die wir unseren Nachkommen abends am Feuer erzählen.«

Kinder rannten lachend an ihnen vorbei. Ihnen war nicht bewusst, was auf sie zukam und welches Risiko das Unterfangen wirklich barg. Eine alte Frau saß auf einer Kiste, blinzelte in die grelle Morgensonne und sah ihrer Sippe beim Beladen ihrer Otta zu.

»Dennoch«, Horm senkte die Stimme, »sind es nicht ausreichend Schiffe für alle. Der Platz wird nicht reichen, es gibt nicht genug Vorräte oder Wasser für alle.«

Vardur nickte langsam.

Auch in der Ortsmitte von Havarskog herrschte rege Betriebsamkeit. Mitglieder der Havar trugen Fässer, Kisten und Körbe vorbei, trennten vor ihren Häusern das Nützliche vom Unbrauchbaren. Familien aus dem Umland trafen ein, ihre Karren beladen mit Vorräten aus ihren Speichern. Die Kinder von Halljadur und Jarngerd, die einen Hof im Hinterland von Eikey bewirtschafteten, trieben unruhig schnatternde Gänse vor sich her.

Horm sah ihnen lächelnd nach. »Arnthrud meint, ich solle bloß schauen, gleich bei unserer Ankunft ein gutes Stück Land zu finden, ehe jemand schneller ist.«

Vardur schmunzelte. »Für ein Langhaus? Mit ausreichend Platz für eine ganze Schar Kinder?«

Sein Freund grinste. »So stolz und anmutig wie ihre Mutter, hoffe ich. Große Krieger wie ihr Vater.«

»Und sicherlich ebenso bescheiden.«

Horms Lächeln schwand, als ihnen eine Gruppe von Kriegern der Aasa entgegenkam. »Ich wette mit dir, der mächtige Hersir Gautaz Großmaul wird die besten Plätze für sich und seine Sippe beanspruchen, sobald auch nur die Küste des neuen Lands am Horizont zu erahnen ist.«

Zwischen den Häusern hindurch konnten sie nun bis zu dem Langhaus sehen, das Vardur bislang sein Zuhause genannt hatte.

»Wo wir gerade von Hersiren sprechen …« Horm warf ihm einen Seitenblick zu. »Hast du dich bereits entschieden, was du sagen wirst?«

Vardur seufzte. »Was rätst du mir denn?«

»Ich rate dir, nicht in Selbstmitleid zu versinken. Die alte Kratzbürste wusste schon, was sie tat. Was Salbjerg in dir sah, sehen andere inzwischen auch.«

Er nickte langsam. Horm hatte mit seinem eigenen Onkel gebrochen, um ihn beim Hjalding zu unterstützen. »Wir können nicht ohne Hersir aufbrechen, so viel ist sicher.«

Sie erreichten das Langhaus von Vardurs Familie. Ehe sie eintreten konnten, kam ein kleiner Junge angerannt, der Vardur nicht einmal bis zur Hüfte reichte, und stieß mit ihm zusammen. Erschrocken wich der Junge zurück und sah aus himmelblauen Augen unter einem blonden Schopf zu ihm auf.

Vardur schenkte ihm ein Lächeln. »Und der Hersir welcher Sippe bist du?«

Der Knabe gluckste. »Ich bin kein Hersir! Noch nicht … Aber bald!«

»Siehst du, wusste ich es doch!« Er lachte. »Wie heißt du denn, junger Hersir?«

»Skidi!«, verkündete der Angesprochene stolz und stemmte die Hände in die Hüften. »Skidi Gautazsun!«

Vardurs Lächeln schwand. Er starrte den Knaben an. In seinem Alter hatte der Fluch ihm bereits eine Mutter, Schwester und Vater genommen. Skidis Mutter hatte zudem seine Pflegeeltern auf dem Gewissen und sein Vater …

»Skidi!« Katla Oddasduhter kam auf sie zu, ihr jüngstes Kind, das sie erst vor wenigen Monden zur Welt gebracht hatte, im Arm, eingewickelt in eine Decke. Eine rüstige ergraute Frau begleitete sie und musterte ihn skeptisch durch zusammengekniffene Augen – Katlas Mutter Odda.

Wie immer, wenn Vardur die Hersirin sah, ihr weißblondes Haar und die geradezu durchscheinende weiße Haut, setzte sein Herz einen Schlag aus. Andere mochten Katla schätzen, bewundern und achten – sie schien auch die Einzige zu sein, die Gautaz, zumindest gelegentlich, im Zaum halten konnte –, bei ihm erweckte ihr Anblick keine Hochachtung. Er sollte Katla für das, was sie seinen Pflegeeltern angetan hatte, hassen, doch es fiel ihm weiterhin schwer. Er hatte die Hersirin bislang nur als gerechte und kluge Anführerin kennengelernt.

Sie nickte ihm nach kurzem Zögern zu. »Hjaldingafridhur.«

Er erwiderte die Geste. »Die Gunna-Sippe ist vollzählig eingetroffen, hoffe ich? Es gab keine Schwierigkeiten auf dem Weg?«

»Die gab es nicht. Ich danke dir für deine Gastfreundschaft. Möge Drawina deine Sippe segnen.«

Er bedeutete ihr vorauszugehen und folgte Katla durch die weit offen stehenden Giebeltüren in die Halle. Wärme empfing sie im Inneren. Die Vertreter der versammelten Sippen saßen auf den Bänken entlang des Mittelgangs oder standen dahinter, wenn sie keinen Platz gefunden hatten. Wieder andere drängten sich an den Wänden. Es herrschte ein lautes Stimmengemurmel. Die Halle hatte noch nie so viele Menschen aufnehmen müssen – ganz sicher nicht so viele Hersire auf einen Schlag.

Vardur und Horm bahnten sich einen Weg durch die Menge. Sie blickten in angespannte Gesichter. Nur wenige wirkten wahrlich hoffnungsvoll – vor allem natürlich die Vertreter der Isleif-Sippe. Ein Kind Isleifs brauchte keine Imperja, die es jagten, um voller Zuversicht zum Horizont aufzubrechen.

Horm trat zu Arnthrud, die an der Wand lehnte. Die Miene der jungen Frau hellte sich auf. Das waren schon einmal zwei Stimmen, auf die Vardur zählen konnte.

Der Feuerschein reichte nicht weit genug, um alle Anwesenden zu erreichen. Er fand die besorgten Gesichter der rundum sitzenden Hersire, schaffte es noch gerade so zu den Mienen der Berater hinter ihnen, erreichte aber kaum die Übrigen, die dahinter an den Wänden warteten.

Solweig Thordisduhter, die Hersirin der Isleif-Sippe, erschien ihm am zuversichtlichsten. Doch in den Adern aller Kinder Isleifs floss das Entdeckerblut ihres Sippenbegründers, des ersten Hjaldingers, der jemals auf dem Westweg fuhr. Sie sah ihrem Vorhaben mit offenkundiger Begeisterung entgegen. Die bereits ergraute Hersirin saß gegenüber dem leeren Platz, auf dem seit dem Tod von Vardurs Großmutter Salbjerg keiner mehr gesessen hatte. Solweig stützte sich auf einen geschnitzten Gehstock, das Feuer ließ die Falten in ihrem Gesicht wie tiefe Furchen erscheinen. Dennoch zweifelte niemand daran, dass sie notfalls das ganze Immermeer schwimmend überqueren würde, wenn auf der anderen Seite die Aussicht auf Abenteuer und ein unentdecktes Land warteten.

Solweig hatte Jurga auch ihr eigenes Schiff, die Blajazehwa geschenkt. Sie selbst würde auf dem zweiten Kriegsschiff der Sippe fahren, der Rhidawega.

Katla überließ den ihr zustehenden Platz am Feuer ihrer Mutter. Die Hersirin wiegte ihr neugeborenes Kind im Arm, das die Tragweite dieser Zusammenkunft nicht erahnte und schlief.

Die Skaldin Solwa, einst Salbjergs wichtigste Beraterin, saß zur Linken des Hersirssitzes und starrte ins Feuer. Wie immer trug sie ihr aschblondes Haar offen und nur an den Schläfen zu zwei dünnen Zöpfen geflochten.

Jurga saß zur Rechten des Sitzes, neben ihrem älteren Bruder Hasgar, einem hageren, hochgewachsenen Krieger mit rotblondem Bart und grünen Augen. Beide hatten sich leicht zu Thidrik umgewandt. Der Runaman mit dem langen, feuerroten Haar redete leise auf die Geschwister ein. Das aus geschliffenen Halbedelsteinen gebildete Stirnauge auf seiner Ledermaske gleißte. Es sollte das eigentliche dritte Auge der Zauberer verbergen. Vardur erschauderte unwillkürlich.

Mit Hasgar hatte er bislang nur wenige Worte gewechselt. Nach allem, was er wusste, hatten sich viele in der Hagni-Sippe für ihn als Nachfolger ihres Hersirs ausgesprochen, bis sich Jurgas Bruder vehement für seine Schwester eingesetzt hatte.

Vardur wartete, bis Jurga ihn bemerkte, ehe er sich räusperte und auf Katla wies. »Die Gunna und Hallaz sind eingetroffen – sieben weitere Schiffe. Es ist immer noch nichts von den Airikir zu sehen. Ich fürchte, die Imperja haben sie tatsächlich eingeholt.«

Sie nickte langsam. Das Feuer warf keine Schatten in ihrem ebenmäßigen, blassen Gesicht. Sie trug ihr blondes Haar auch heute in mehreren unterschiedlich hoch angesetzten Zöpfen und schien aus sich selbst heraus zu leuchten. Sie erschien eher wie ein Geist, eine Erscheinung, als ein Mensch aus Fleisch und Blut – doch dieser Eindruck mochte von Vardurs Gefühlen beeinflusst sein.

»Wir können nicht länger warten«, warf Solweig ein, während Jurga noch grübelte. »Mit jedem verstreichenden Tag bringen die Imperja zehn weitere Schiffe in Stellung, um die Odalwik abzuriegeln. Sobald die Kämpfe um Hjaldingafjord vorbei sind, segeln ihre Ottas als Nächstes zu uns. Je früher wir aufbrechen, desto besser. Es ist nicht wahrscheinlich, dass Ullbjern sie besiegen wird. Nutzen wir also die Zeit, die uns sein Widerstand verschafft, zu unseren Gunsten.«

Jurga erhob sich. »Wenn die anwesenden Hersire zustimmen, setzen wir im Morgengrauen Segel.«

»Verwenden wir die Nacht, um uns an ihnen vorbei nach Süden zu schleichen«, warf jemand aus der Runde ein – Hallerna, die Hersirin der Kjora. »Die Imperja rechnen nicht damit, wenn wir der Küste folgen und Eyjattur passieren.«

»Nein.« Jurga schüttelte vehement den Kopf. »Wir waren uns über unsere Fahrtroute bereits einig: Wir schlagen den Weg ein, der mir gewiesen wurde, direkt hinaus auf das Eiwara. Eyjattur ist fest in der Hand der Imperja. Niemand weiß das besser als die Hagni.«

Eine raue Stimme, in der kaum verhohlene Verachtung mitschwang, meldete sich zu Wort. »Und wie gedenkt dein Schutzgeist, uns an den Ottas der Imperja vorbeizuführen?« Gautaz’ wölfisches Grinsen schälte sich als erstes aus der Dunkelheit. Danach seine Hand, die ein Trinkhorn hielt, sein langes, dunkelblondes Haar und schließlich seine kleinen grauen Augen und die zahllosen Narben und Kriegerrunen auf seinem bloßen Oberkörper.

Ein junger Krieger seiner Sippe, Hrok, der Gautaz stets wie ein abgerichteter Vargaz folgte, stand einen Schritt hinter ihm.

Jurga sammelte sich für einen Moment. Sie sprach nicht gerne das Wirken ihres Schutzgeistes direkt an. Es gab immer noch zu viele, denen ihr ständiger Begleiter nicht geheuer war. Sie zogen es vor, der kühnen Vision einer mutigen und glücklichen Anführerin zu folgen, anstatt den Weisungen eines Wesens, das sie nicht greifen oder hinterfragen konnten.

»Mein Schutzgeist«, setzte sie dann doch an, »lag noch nie falsch und er wird es auch dieses Mal nicht. All das haben wir bereits zur Genüge besprochen, Gautaz Dagurssun: Unser Weg führt direkt nach Osten, auf das Immermeer. Wir werden nicht mit einhundert Schiffen versuchen, uns einen Weg durch das Inselgewirr der Eyjattur zu suchen. Auch du weißt, dass es aussichtslos wäre.«

»Ich will hoffen, dass dein Geist recht behält«, entgegnete der Aasa. »Oder aber, er führt meine Sippe, deine und vierzig andere – alles, was von unserem Volk noch übrig ist – direkt in die wartenden Arme der Imperja.«

Vardur hob überrascht die Brauen. Für Gautaz Dagurssun war dies geradezu versöhnlich.

»Andererseits hast du kaum Erfahrung mit Kriegszügen«, setzte der Hersir der Aasa nach. »Ich sehe nur wenige Speere Firns an deinen Armen.« Er ließ seine eigenen Muskeln spielen, die mit Hautbildern übersät waren. »Warum wirst ausgerechnet du uns in diese Schlacht führen? Es wäre sicher klug, die Führung einem erfahreneren Hersir zu überlassen – zumindest, bis wir das offene Meer erreichen haben.«

Vardur ballte die Fäuste. Ein Hersir, der danach bestimmt darauf pochen wird, den Verband auch weiterhin anzuführen, wenn wir dank ihm die Blockade durchbrochen haben.

»Ein offener Kampf wäre zu verlustreich«, warnte Solweig. »Wir alle haben gesehen, was die Imperja können und mit welchen Mächten sie im Bunde sind!«

Vardur schluckte. Lebende Algen, die nach den Ottas griffen … Watdraugar, die sich an der Bordwand emporzogen – das wollte er nicht erneut erleben.

»Es wird nicht zu einer Schlacht kommen«, widersprach Jurga scharf. »Ich bin hier, um euch den Weg in das neue Land zu zeigen. Nicht, um euch vorzuschreiben, wie ihr eure Sippen zu führen habt. Vertraut meinem Schutzgeist und er wird euch retten.«

Gautaz hob amüsiert die Brauen.

»Du bist dir sicher, dass Land auf der anderen Seite des Ozeans wartet?« Das war Alsvinn, der Hersir der Hallaz-Sippe. Er war mit seinen Schiffen erst am Morgen dazu gestoßen. »Niemand von uns zieht in Hraiwagard ein, wenn wir auf dem Meer sterben.«

»Die Götter werden uns beistehen!«, rief jemand von weiter hinten aus der Menge.

»Götter«, schnaubte Katla. »Welche Götter? Effar? Er ließ uns gegen die Hrangadiener im Stich, als sie unsere Ottas mitsamt ihren Besatzungen in die Tiefe rissen! Rondris, Agiz oder Khorraz kamen uns ebenfalls nicht zu Hilfe.«

Andere nickten zustimmend. Selbst Gautaz verzog verächtlich das Gesicht, ehe er einen Schluck aus seinem Trinkhorn nahm.

»Mein Schutzgeist lässt uns nicht im Stich«, versicherte Jurga der Runde. »Und wenn wir uns auf ihn, und auf Drawina verlassen, auf unsere Stärke und unseren Zusammenhalt, dann erreichen wir unser Ziel.«

Niemand in der Halle widersprach.

Jurga starrte ins Feuer. »Ich habe es deutlich gesehen, er hat es mir wieder und wieder gezeigt: Eis – ein weites, graues Eismeer, und jenseits davon das neue Land – eine neue Heimat, die nur auf uns wartet.« Sie fing sich wieder. »Ihr alle wisst, was zu tun ist: Jede Sippe ist für den Schutz der Frachtschiffe zuständig, die mit ihr reisen. Die Sippen, die kein eigenes Drachenschiff mit Kriegern stellen, teilen ihre Schiffe auf die Übrigen auf. Die Runaleudi«, sie wies auf Thidrik, »teilen sich ebenfalls, so gut es geht, auf die Ottas auf. Wenn einer Sippe mehrere Runaleudi angehören, unterstützt sie weniger begünstigte Sippen, indem sie ihnen einen Runaman oder eine Runakwena abgibt.«

Vardur musterte den Zauberer, der stumm hinter Jurga stand, sein Gesicht reglos und nicht zu lesen. Seinen Stab aus dunklem, knorrigem Holz hielt er in der Rechten.

»Gibt es sonst noch etwas?« Jurga sah in die Runde. »Wenn ja, dann sprecht es jetzt aus.«

Solweig räusperte sich. »Ich möchte sprechen.«

Jurga setzte sich.

Die alte Hersirin lächelte wehmütig. »Auch wenn es mich schmerzt, auch wenn ich mir nichts sehnlicher wünsche, als das Eiwara zu überqueren, das neue Land auf der anderen Seite des Meeres zu sehen und unter meinen Füßen zu spüren, bin ich doch zu alt, um dieses Abenteuer auf mich zu nehmen. Ich kann zwar noch eine Axt heben und das Ruder packen, aber wenn ich es gegen einen Feind führen soll oder in einem Sturm den Kurs halten muss, reicht meine Kraft nicht aus.«

Gemurmel setzte ein. Katla schüttelte den Kopf. »Du bist weise und dein Ratschlag ist mehr wert als zehn starke Hände, Solweig. Du wirst das neue Land erreichen und du wirst dabei zusehen, wie deine Enkel dort zu Frauen und Männern heranwachsen.«

Die Umstehenden nickten zustimmend. Jurga senkte den Blick.

Die Hersirin der Isleif schmunzelte. »Ich danke euch für euer Vertrauen, aber der Entschluss ist gefasst. Ich spreche nicht nur für mich, sondern für alle, deren Hände nicht mehr stark genug sind, deren Augenlicht nicht mehr ausreicht. Für alle, die mehr eine Last als eine Hilfe sind, und diejenigen, die ohnehin nicht mehr viele Winter sehen werden. Ich spreche auch für alle, die nach den Kämpfen immer noch mit Wunden dahinsiechen.« Sie erhob sich langsam. Ihre Hand zitterte, doch sie stand aufrecht und ihr Blick war fest. »Wir bleiben und kehren in die Erde zurück, in der auch unsere Vorfahren ruhen. Gebt unsere Plätze auf den Schiffen Vieh und Wasserfässern. Noch nie, nicht seit Yoldras Zeiten, fiel eine Hjaldingerin ihrer Sippe weiter zur Last, wenn sie zu alt, schwach oder krank wurde. Nicht, wenn sie so das Überleben ihrer Familie sichern kann. Heute ist nicht der Tag, an dem wir mit diesem Brauch brechen.« Sie stockte. »Die Isleif werden meinen Nachfolger wählen – jemanden, der die Sippe in das neue Land führt. Wenn die Imperja hier eintreffen, werden sie nur brennende Häuser und Tote vorfinden, die lächelnd und in dem Wissen aus dem Leben geschieden sind, dass ihre Sippen weiterleben. Dass ihre Taten in den Sagas weiterleben, die ihr in der neuen Heimat singen werdet.« Ein wehmütiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ich habe nur einen Wunsch: Wenn ihr mich dereinst in Hraiwagard wiederseht, berichtet mir vom neuen Land und wie es meinen Enkeln ergangen ist.«

Für einen Moment herrschte Stille. Nur das Knacken der Holzscheite war zu hören. Dann erhob sich Solwa und nickte der alten Hersirin zu. »Die Sagas werden von eurem Opfer berichten. Eure Namen und Taten werden nicht vergessen.«

»Eine kluge Entscheidung«, brummte Gautaz und nippte an seinem Trinkhorn. »Nur die Jungen und Starken haben Aussicht, bei einem solchen Unternehmen zu überleben. Die Alten wären nur Ballast.« Er sah zu Katla und Odda hinüber.

Die Hersirin der Gunna runzelte die Stirn, dann trat Entsetzen in ihr Gesicht. »Gautaz Dagurssun, wenn du damit sagen willst …«

»Du hast die weise Solweig gehört«, brummte der Hersir der Aasa, »zweifelst du ihre klugen Worte etwa an? Auch die Alten meiner Sippe werden zurückbleiben und ich werde ihr Opfer ehren.«

Katla sah zu Odda. Sie rang mit sich.

»Verzeiht mir.« Jurga erhob sich. »Das sollte nicht in dieser Runde besprochen werden. Darüber hinaus«, sie warf Vardur einen Blick zu, »sind wir im Haus der Havar lediglich zu Gast. Überlassen wir ihnen wieder ihre Halle und klären alles Weitere im Freien, innerhalb unserer Sippen.«

Der Raum leerte sich. Katla trat zu Odda, die ihr mit versteinertem Gesicht entgegensah. Gautaz beobachte dies mit einem selbstzufriedenen Grinsen, ehe er sich abwandte und hinaustrat. Hrok folgte ihm wie ein Hund dem Herrn.

Nur die Mitglieder der Havar-Sippe blieben zurück: Horm Ohnehand und dessen Gefährtin Arnthrud. Vardurs Onkel Otur und die Heilerin Esa. Die kluge Yoldra, die erfahrenen Krieger Fridgerd und Eindridi. Erla, die das Ruder der Thurehs übernehmen sollte. Auch Wulfaz’ Schwester Mardal, die selbst erblindet als eine der wenigen Saithaleudi noch von Nutzen für die Sippe sein würde, blieb zurück. Sie war inzwischen alt genug, um im Hjalding zu sprechen.

Natürlich vermisste er auch Gesichter und das schmerzlich: Ingjald und Wulfaz, deren Verlust er niemals überwinden würde, ebenso wenig wie den seiner Großmutter Salbjerg. Er würde viel dafür geben, wäre sie noch am Leben und könnte die Havar selbst nach Osten führen. Er vermisste Hjaldvaig, die immer an ihn geglaubt hatte, sowie Urdrun und Arinbjern. Weniger vermisste er Snevar und Swartaz, auch wenn er dieser Tage keinem seiner Sippe den Tod wünschte. Es gab schon so wenige von ihnen und noch weniger würden im neuen Land ankommen – wenn überhaupt.

Solwa trat neben den Sitz des Hersirs und winkte ihn näher. Ein Gedanke zuckte durch Vardurs Kopf: Das ist die letzte Gelegenheit. Wenn ich mich jetzt umdrehe und sie alle verlasse, sind sie vor mir sicher – vor meinem Fluch. Ich führe dann niemanden mehr ins Verderben.

Sein Blick fiel auf Horm, der ihm aufmunternd zunickte. Natürlich hatte er recht.

Ich bin ein Abkömmling Havars, der sich hoch erhobenen Hauptes dem löwenhäuptigen Uskur stellte. Was würde er sagen, wenn er mich jetzt zögern sieht? Was würde Salbjerg sagen?

Vardur räusperte sich. »Ihr alle wisst, was ich sagen will, also fasse ich mich kurz. Wir haben immer noch keinen neuen Hersir gewählt. Swartaz steht nicht mehr länger zur Wahl. Wenn ich könnte, ich würde meine Großmutter zurückholen, denn es gab seit Havars Zeiten keine bessere Hersirin.«

Die Umstehenden starrten ins Feuer.

»Salbjerg fürchtete den Tag, an dem die Schiffe der Imperja vor der Küste von Eikey erscheinen und Havarskog in Asche und Blut versinkt. Asche können sie gerne haben, und reichlich davon, denn wir hinterlassen ihnen kein einziges Haus, keinen Hof, kein Vieh oder Getreide. Unser Blut erhalten sie jedoch nicht, das tragen wir mit uns über das Eiwara. Dort bauen wir neue Häuser und Hallen, züchten neues Vieh, legen neue Felder an. Fern vom Imperjaz, frei und sicher vor allen, die uns schaden wollen.«

Die Anwesenden nickten zaghaft.

Er fühlte sich nun wesentlich mutiger, oder zumindest kümmerte es ihn nicht mehr, wie seine Sippe reagierte. »Wir können nicht ohne Hersir aufbrechen. Ihr alle wisst, warum ich immer gezögert habe, das Amt einzufordern. Wenn ihr nicht bereit seid, mir zu folgen, dann soll es mir recht sein. Wählt Yoldra Saunsduhter, sie wird eine gute Hersirin für die Sippe sein. Entscheidet euch meinetwegen für meinen Onkel Otur und ich werde nicht murren.«

Einige der Umstehenden schmunzelten. Für einen Augenblick huschte ein Anflug von Hoffnung über Oturs Gesicht, dessen Hand auch jetzt ein Horn mit Met hielt. Dann senkte er den Blick wieder.

Vardurs Herz hämmerte in seiner Brust. Thagalgrimm trieb ihn an, der Zorn darüber, dass sie morgen ihre Heimat verloren und dass die Imperja gewonnen hatten. Dass sie ihn bereits so viele Freunde und Angehörige gekostet hatten. Die Worte seiner Großmutter trieben ihn an, die gestorben war, ohne zu wissen, ob ihre Sippe weiterleben würde oder nicht.

»Aber wenn ihr jemanden wollt, in dem Salbjerg mehr gesehen hat, als er selbst es tat, dann seht mich an. Wenn ihr jemanden wollt, der um die Schwere dieser Verantwortung weiß, dann gebt mir eure Axt. Jemanden, der immer nur das Beste für diese Sippe wollte, nicht für sich selbst. Jemanden, der kein Hersir werden will, weil ihm danach ist, anderen Befehle zu geben, sondern jemanden, der es als Bürde ansieht. Wählt jemanden, der weiß, dass unsere einzige Rettung jenseits des Immermeeres wartet, und dies bereits wusste, als ihr noch gezaudert habt. Und nun schwatzen wir nicht mehr länger, sondern fällen eine Entscheidung. Die Thurehs muss beladen werden und ich muss noch mit den Hersiren klären, wo genau im Verband die Kinder Havars segeln.« Er stockte, sein Gesicht gerötet. Seine Wangen fühlten sich heiß an.

Die Umstehenden starrten ihn reglos an. Horm grinste. Arnthrud nickte ihm aufmunternd zu. Otur prostete ihm stumm mit dem Methorn zu. Yoldra senkte still lächelnd den Kopf.

Solwa unterdrückte ein Schmunzeln und bemühte sich um einen Ausdruck, der dem Ernst des Anlasses angemessen war. »Unsere geehrte Hersirin Salbjerg, so war es immer ihr Wunsch, wollte Vardur Arnarssun als ihren Nachfolger und deshalb will ich ihn in ihrem Namen als Hersir vorschlagen. Macht noch jemand einen Vorschlag?«

***

Er starrte den Sand und Kies zu seinen Füßen an. Wasser rollte den Strand hinauf, brachte Schaum mit sich und umspülte seine Schuhe.

»Vardur?«

Er sah auf. Horm musterte ihn fragend.

Glaiwa kündigte sich gerade erst am östlichen Horizont an. Das rote Band ließ sich mehr erahnen, als wirklich erkennen.

Vardur räusperte sich. »Ich bin so weit.« Rasch bückte er sich, nahm einen großen, nassen Kiesel vom Ufer auf und ballte die Faust darum. Dann hob er erst einen, dann den zweiten Fuß von dem Land seiner Vorfahren und trat auf den Steg, an dessen Ende die Thurehs auf ihn wartete. Die Mitglieder der Fahrtgemeinschaft waren bereits auf ihren Plätzen. Erla stand am Ruder. Es war befremdlich, dass ihn dort nicht Hjaldvaig oder Thursdur erwarteten.

Vierzig Gesichter musterten ihn gespannt, als Vardur ans Heck trat. Horm lächelte ihm aufmunternd zu. Jeder freie Platz war mit Proviantpaketen, Wasserfässern und Waffen belegt, mit Ersatzsegeln, Netzen und Harpunen.

»Wohin also?«, erkundigte sich Erla.

»Nach Osten. Setzt die Segel.«

Rund einhundert Ottas, schwer beladen mit Menschen, Vorräten und Vieh, hissten ihre Segel. Ebenso viele Drachenköpfe wandten sich dem offenen Meer zu, wo Glaiwa, die Gleißende, in der Ferne den Horizont in Brand steckte – und wo als kleine schwarze Punkte die Schiffe der Imperja bereits zu erahnen waren.

Vardur blickte zurück.

Rauchsäulen stiegen von Havarskog in den allmählich heller werdenden Himmel, als der neue Tag die Nacht ablöste.

Entlang des Strands aufgereiht standen oder saßen diejenigen, die sie nicht auf ihrer Reise begleiteten – die Alten, die Kranken. Am Morgen hatten sie Dolche und Messer verteilt, dann die letzten Höfe und Häuser in Brand gesteckt.

Manche der Zurückgebliebenen hockten auf dem flachen Ufer, andere sahen ihnen aufrecht und erhobenen Hauptes nach. Solweig, die alte Hersirin der Isleif, hob grüßend die Hand. Odda, Katlas Mutter, stand neben ihr auf dem Anleger und starrte reglos geradeaus.

Vardur drehte sich wieder um, wandte den Blick von seiner Heimat ab und sah nicht mehr zurück.

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