Читать книгу DSA 109: Hjaldinger-Saga 3 - Eis - Daniel Jödemann - Страница 7
ОглавлениеKapitel 1
Hjaldingafjord, Brajan 2120 IZ
Hjaldingafjord, das Herz Hjaldingards, der Ort, an dem Yoldra einst die stolzen Sippen der Hjaldinger einte, stand in Flammen.
Xelias taumelte durch den Qualm, den Gestank von Brand und verkohltem Fleisch in der Nase. Die Schwaden schmeckten nach Tod. Die Hitze brachte seine Haut zum Glühen und raubte ihm den Atem.
Glaiwa hatte sich bereits mit Grausen abgewandt und war hinter den Horizont geflohen. Sie wollte nicht mit ansehen, was sich nun in Hjaldingafjord abspielte.
Faravid packte Xelias am Arm. »Weiter! Wir dürfen hier nicht verharren!« Er zog ihn hastig mit sich in eine Gasse zwischen zwei Langhäusern. »Still!«
Eine Gruppe Myrmidonen mit im Feuerschein glänzendem Rüstzeug eilte vorbei. Ihre Rüstungen waren bunt bemalt, das Rot darauf war aber keine Farbe.
Xelias wagte es nicht, sich zu regen oder auch nur zu atmen. Er klammerte sich an seine schlichte Axt wie ein Ertrinkender an ein Stück Holz. Seine Muskeln schrien vor Schmerz, seine Lungen protestierten. Sein Fuß – dort, wo ihn der Armbrustbolzen durchschlagen hatte – pochte in Agonie.
Die Myrmidonen liefen weiter. Das Scheppern ihrer Rüstungen verhallte.
Faravid atmete auf und senkte seine eigene Axt. »Los!«
Xelias humpelte hinter ihm her. »Wohin denn?«
»Sicherlich sammeln sich alle, die noch aufrecht stehen, bei Ullbjerns Halle, um die Angreifer zurückzuschlagen.« Der junge Skalde lugte um die nächste Ecke. »Sie haben uns auseinandergetrieben wie Wölfe die Schafsherde. Hoffen wir, dass Ullbjern besonnen genug war, sich zurückzuziehen. Seine Halle lässt sich besser verteidigen als die verwinkelten Gassen.«
Sie wagten es, den Schutz des Langhauses zu verlassen, und eilten weiter – so rasch, wie es Xelias schmerzender Fuß und die Beinverletzung, die Faravid durch die Kentema eines Myrmidonen erlitten hatte, nur erlaubten.
Eine brennende Kugel, einem stürzenden Stern gleich, fiel brüllend vom Himmel, erhellte für einen Moment die umstehenden Häuser und schlug ein Stück weit vor ihnen ein. Schreie hallten heran, neue Feuerbrände loderten gierig fauchend empor.
Xelias verharrte, blickte sich um. »Gibt es noch einen anderen Weg?«
Faravid wies in eine schmale Gasse. »Dort entlang …«
Ein dunkler Schatten mit Flügeln, einem gewaltigen Vogel gleich, fiel auf sie. Xelias packte seinen Begleiter und zog ihn mit sich, in den Schutz einer Hauswand. Der Schatten flog brummend über sie hinweg.
Xelias stützte sich schwer atmend an der Wand ab. »Wo sind die Aldangara?« Er lugte die Straße hinab. Leblose Körper lagen darauf verstreut – nur bei einigen davon handelte es sich um totes Vieh. Die Leichname waren verkohlt und kaum wiederzuerkennen.
»Die Imperja?« Faravids Hand zitterte, als er nach der Wunde an seinem Bein tastete. Immer noch rann Blut an seiner Wade herab.
»Antimelia hat uns Truppen ihres Hauses versprochen. Wir brauchen ihre Soldaten.«
»Wenn du mich fragst, war das ein Trick – eine Täuschung, damit wir uns sammeln und hier auf die Imperja warten. Bestimmt wollte sie sogar verhindern, dass zu viele Leute Jurga über das Meer folgen.« Er winke Xelias. »Gehen wir.«
Sie hasteten zwischen den Langhäusern hindurch. Weiter vorne erhob sich auf einem Hügel im Zentrum von Hjaldingafjord die Halle von Ullbjern Eirikssun. Doch das gewaltige Reetdach stand nun in hellen Flammen, nur die gekreuzten goldenen Drachengiebel ragten noch daraus hervor und trotzten dem Feuer.
Xelias trat hinter Faravid ins Freie.
»Firns Speer!«, stieß der Skalde aus.
Tote und Verletzte säumten die Wege, die zur Halle führten. Myrmidonen in glänzenden Panzern, über denen kleine Wimpel emporragten, bedrängten die Verteidiger. Immer wieder fiel ein Imperi, gefällt von einer mächtigen hjaldingschen Axt, doch es trat sofort ein anderer in die Bresche, die Kentema in beiden Händen.
Inmitten der verbissen streitenden Hjaldinger stand Ullbjern Eirikssun, Hersir der Groa-Sippe, die mit goldenen Knotenbändern versehenen hohen Tore seiner Halle im Rücken. Er schwang Laujakweldiz mit einer solchen Leichtigkeit, als hätte die Schlacht gerade erst begonnen und würde nicht bereits seit einem halben Tag toben. »Rondris’ Kralle!« Die Flammen glänzten auf den mit silbernen Bändern verzierten Klingen der Doppelaxt und auf den goldenen Armreifen an seinen mit unzähligen Runen übersäten Armen, von denen jede von einem bezwungenen Gegner oder einer erfolgreichen Seefahrt kündete. Wann immer Laujakweldiz herabfuhr, spaltete sie einen Schädel, trennte einen Arm vom Leib eines Myrmidonen oder verpasste einem bemalten Insektenpanzer eine furchtbare Delle. Und jedes Mal gellte Ullbjerns Schlachtruf über die Kämpfenden hinweg: »Groa!«
Xelias starrte den Hersir einige bange Herzschläge lang reglos an.
»Er wird sie alle eigenhändig erschlagen!«, stieß Faravid hervor.
Xelias’ Blick fiel auf eine zusammengekrümmte Gestalt, die an der Ecke eines Langhauses hockte. Ein Vargaz stand über ihr. Das Fell des Halbwolfs war struppig und Blut glänzte darin im Feuerschein.
Xelias’ Herz machte einen Sprung. »Firnvild!« Er hastete auf sie zu.
Wrekar, der Vargaz, wirbelte herum. Seine blutbesudelten Lefzen enthüllten seine Zähne.
Xelias schrak zurück und hob hastig die Hände. Der Halbwolf gab ein warnendes Grollen von sich, das tief aus seiner Kehle aufstieg.
Firnvild regte sich nicht. Ihr Speer lag neben ihr, Blut sickerte aus einer Wunde an ihrer Seite. Ihr sommersprossiges Gesicht war geschwärzt, ihre Augen geschlossen. Ein Verband war fest um ihre Wade geschlungen.
Xelias’ Brust zog sich zusammen wie eine kalte Faust, die ihn packte. »Firnvild?« Er wagte es, einen weiteren Schritt zu machen.
Der Halbwolf setzte zum Sprung an.
»Wrekar, nein!« Firnvild sah auf und hob die Hand. Ihre Stimme war rau und bebte. »Nein!«
Der Vargaz wandte sich ihr sofort wieder zu, schnupperte kurz an ihrer zitternden Hand, dann leckte er sie winselnd ab.
Xelias wagte es, neben ihr niederzuknien. Auch Faravid trat näher, ließ den Halbwolf aber nicht aus den Augen.
Erschrocken griff Xelias nach ihrer Wunde. »Du bist verletzt!«
Ullbjerns Tochter stieß seine Hand beiseite. »Dachte, du bist schon längst weggerannt«, presste sie hervor und verzog schmerzerfüllt das Gesicht.
Ein Kommando hallte laut von den Langhäusern wider. Die Myrmidonen wichen zurück, sammelten sich und schlossen ihre Reihen. Dutzende ihrer Kameraden blieben leblos liegen.
Der Hersir reckte grimmig Laujakweldiz empor – die ›Löwendämmerung‹. »Habt ihr denn schon genug, ihr Kindsfäuste? Ich werde gerade erst warm!«
Hinter ihm nährten sich die Flammen an seiner Halle, fraßen sich durch das alte Holz, das vielen Generationen seiner Familie ein Zuhause gewesen war. Fünf weitere Frauen und Männer standen immer noch aufrecht, wenn auch schwer atmend, aus unzähligen Wunden blutend und kaum in der Lage, ihre Waffen zu heben. Xelias erkannte Serkaz unter ihnen, den breitschultrigen Krieger mit dem zu Zöpfen geflochtenen roten Bart, der fast ebenso viele Kriegerrunen trug wie Ullbjern.
Die Myrmidonen regten sich nicht. Wie Statuen standen sie da, der Feuerschein spiegelte sich auf ihren Rüstungen wider.
Der Hersir der Groa spuckte verächtlich aus. Mit den Flammen hinter ihm erschien sein Haar mehr als jemals zuvor wie die Mähne eines Löwen. »Kehrt besser zu eurem dreiäugigen Kuninga zurück, solange ihr das noch mit erhobenem Haupt tun könnt!«, schleuderte er den Soldaten entgegen. »Sagt ihm, dass Ullbjern Eirikssun noch immer steht, dass er Havars Axt trägt und niemanden passieren lässt, der die Halle seiner Ahnen betreten will! Er muss schon selbst herkommen und sie sich holen, wenn sie ihm so wichtig ist!«
Die Myrmidonen blieben stumm, die Kentemen in Händen und ihre Spitzen auf die schwer atmenden Hjaldinger gerichtet. Auf ein knappes Kommando hin öffnete sich ihre Formation. Sie bildeten eine Gasse.
Wrekar, der Vargaz, knurrte.
Drei weitere Krieger schälten sich aus dem Rauch hervor. Sie überragten die imperialen Soldaten um mehr als einen Schritt. Sie bewegten sich geschmeidig, lediglich leichte Rüstungen schützten ihre muskulösen Leiber. Ihr rotgoldenes Fell, durchzogen von schwarzen Streifen, glänzte matt im Feuerschein. Unruhig peitschten ihre Schwänze den Boden.
Xelias hatte noch nie einen mit eigenen Augen gesehen, doch es gab keine Zweifel daran, womit sie es zu tun hatten. Sein Mund war staubtrocken. »Tighrir«, stieß er hervor. Er wagte es nicht, seine Stimme zu erheben. »Die Tigergarde des Thearchen!«
Faravid duckte sich hastig hinter die Hausecke. »Die was?«
»Tighrir«, zischte Xelias. Er suchte nach dem richtigen Begriff im Hjaldingschen. »Tigramaniz!«
Die drei Tighrir passierten gelassen das Spalier, das die Myrmidonen gebildet hatten. Die Soldaten blickten stumm geradeaus. Die Tigergestaltigen trugen Schwertlanzen. Blut klebte an den Klingen und an ihren Rüstungen. Ihre Brustplatten zierten drei Augen auf schwarzem Grund – das Zeichen des Hohen Hauses, dem der Thearch angehörte.
Ullbjerns grimmiger Ausdruck schwand. Er senkte Laujakweldiz und nickte langsam, so als erkannte er, dass ein Moment gekommen war, auf den er lange gewartet hatte. Er straffte sich und wies mit der Axt auf die Neuankömmlinge. »Das ist schon besser. Endlich nehmt ihr mich ernst.«
Der Tighror in der Mitte der Dreiergruppe hob seine Schwertlanze. Ein mächtiger Backenbart zierte seine Wangen, also schien es sich wohl um einen Mann zu handeln – auch wenn Xelias das nicht mit Sicherheit sagen konnte. Er fletschte die Zähne. Muskeln, so dick wie Schiffstaue, spannten sich unter seinem schwarzgelben Fell.
»Wir können hier nicht bleiben«, setzte Xelias leise an, doch Firnvild winkte energisch ab.
Ullbjern hob die Doppelaxt, sodass der Tighror sie besser sehen konnte. »Dies ist die Klinge, die Uskur, den Löwenhäuptigen erschlug. Die Waffe, die das Volk der Hjaldinger von Unterdrückung und Knechtschaft befreite. Sie trinkt noch mehr Tyrannenblut, ehe ich den Weg in die nächste Welt antrete! Dein Fell wird mir als Umhang dienen, wenn ich in Hraiwagard einziehe, deine Knochen werde ich als Trophäe vorzeigen!«
Firnvild unterdrückte einen entsetzten Laut. Faravid warf ihr einen warnenden Blick zu.
Der Anführer der Tighrir warf sich gedankenschnell nach vorne, seine beiden Begleiter folgten ihm. Mit wenigen Sätzen erreichten sie die fünf letzten Krieger rund um den Hersir. Ein Hjaldinger wich gewandt einer Schwertlanze aus. Ein anderer wurde mit Urgewalt davon geschleudert und schlug ein Stück weit entfernt auf. Serkaz hob seine Axt und stellte den Anführer der Tighrir. Dieser parierte flink seinen Hieb und wischte ihn geradezu lässig mit der Pranke beiseite.
»Groa!«, schrie Ullbjern den Tigramaniz den Namen seiner Sippe entgegen und hob erneut die Axt. »Groa!«
»Vater«, presste Firnvild mühsam hervor und zog sich an der Hauswand empor. »Wir müssen ihm helfen.«
»Nein!« Xelias packte hastig ihren Arm. »Diesen Kampf können wir nicht gewinnen! Selbst Ullbjern nicht!«
Sie schüttelte seine Hand ab, ihre grünen Augen sprühten Funken. »Teigherz!«, schleuderte sie ihm entgegen. »Lauf zurück zu deiner Imperi-Mutter und versteck dich hinter ihrer Schürze, wenn du Angst hast!«
Laujakweldiz kam erneut herab. Der Tighror wich zur Seite aus und lenkte sofort die Schwertlanze gegen seinen Gegner. Sie fuhr über Ullbjerns Bein. Der Hersir stieß einen Schmerzensschrei aus, packte aber geistesgegenwärtig nach dem Schaft der Lanze. Mit der anderen Hand ließ er die schwere Doppelaxt auf den Tighror herabfahren. Die Klinge drang tief in dessen Brust.
Die zwei anderen Tigramaniz kamen auf die verbliebenen Verteidiger der Halle herab wie die Sense auf überreifes Korn. Die umstehenden Myrmidonen beobachteten reglos, wie die Tigergardisten die Hjaldinger niedermachten. Einer hob unter triumphierendem Brüllen einen abgetrennten Kopf empor, von dem Blut herabrann.
Xelias packte Firnvilds Arm, gerade als die junge Hersirstochter den Schatten des Langhauses verließ. »Nein!«
Sie setzte zu einer zornigen Erwiderung an, dann erstarrte sie.
Der Anführer der Tighrirgarde trieb Ullbjern mit einem Prankenhieb zurück zu den Toren der Halle. Krallen, so lang wie Dolche, fuhren über die Brust des Hersirs der Groa-Sippe. Blut schoss aus den Wunden hervor.
Das Feuer tauchte Ullbjerns Gesicht in rotes Licht. Er fand sich mit dem Rücken gegen das Tor wieder. Sein Schmerzensschrei ging im Fauchen der Flammen unter, die sein Langhaus gierig auffraßen.
Der Tighror holte mit der Lanze aus.
Firnvild stieß einen langgezogenen Schrei aus, der von Wut und Trauer und Entsetzen kündete.
Ein Kommando gellte durch die Nacht. Die Myrmidonen wandten sich zu ihnen um.
Ullbjern senkte den Blick, sah auf den Schaft der Schwertlanze. Sie hatte seinen Körper durchdrungen und steckte auf der anderen Seite in dem mit goldenen Knotenbändern verzierten Türblatt des Langhauses. Laujakweldiz, die Waffe Havars, mit der er einst den löwenhäuptigen Uskur erschlug, fiel dumpf zu Boden.
Der Hersir der Groa-Sippe tastete mit zitternden Händen nach der Lanze, doch das Leben rann nun mit jedem Herzschlag aus ihm heraus. Sein Blick traf den seiner Tochter. Er bewegte die Lippen. Blut quoll hervor.
Die Myrmidonen setzten sich in Bewegung.
Firnvild riss sich von Xelias los und hob den Speer. Mit einem wütenden Schrei rannte sie den Imperja entgegen. Wrekar überholte sie mit weiten Sätzen und stürzte sich mit heiserem Bellen auf die gepanzerten Krieger.
»Xelias!« Faravid schloss zu ihm auf. »Wir sitzen in der Falle!«
Alarmiert wandte er sich um.
Myrmidonen traten auch zwischen den brennenden Langhäusern hervor und hielten langsam auf sie zu.
Die Tore von Ullbjerns Halle stürzten um und rissen den Hersir mit sich zu Boden. Das Feuer loderte hell und gierig in den Himmel. Der Anführer der Tighrir stand reglos vor dem Inferno, ein dunkler Umriss vor dem Flammen, und blickte auf Ullbjerns Leichnam hinab.
Die Myrmidonen drangen auf Faravid und Xelias ein.
Xelias hob seine Axt. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
Dann waren die gepanzerten Krieger heran.
***
Als Erstes verspürte er Schmerzen. Dann kam Verwunderung darüber, dass er überhaupt etwas spüren konnte.
Wie aus weiter Ferne drangen Worte zu ihm durch. »… am Leben?«
Xelias zwang sich, die Augen zu öffnen. Alles drehte sich um ihn herum. Bin ich in Hraiwagard? Warum empfinde ich dann Schmerz? Bin ich etwa ein Draugar? Empfinden Wiedergänger Schmerz?
Etwas Feuchtes, Raues fuhr ihm durch das Gesicht. Schlagartig fand er zu sich. Er hustete und krümmte sich.
Wrekar, der Vargaz, winselte leise. Seine Lefzen stanken nach Blut, in seinen Augen spiegelte sich Feuerschein wider.
»Ich fragte, bist du noch am Leben?«
Er wandte den Kopf. Eine hoch aufragende Gestalt blickte auf ihn herab. Kleine graue Augen musterten ihn. Sie lagen im Schatten einer bleich glänzenden Halbmaske aus Knochen, in die ein drittes Auge aus irisierendem Opal eingelassen war.
Kalter Schreck durchzuckte ihn. Ein Optimat! »Verzeihung, ich wollte nicht …« Xelias blinzelte und richtete sich etwas auf. Erneut zog Schmerz durch seinen Schädel. Er fasste sich an den Hinterkopf und stieß auf warmes Blut.
Der hagere Mann, zu dem die grauen Augen und die Triopta gehörten, trat näher. Er ignorierte das warnende Grollen des Vargaz, ergriff Xelias ohne viel Federlesens am Arm und zog ihn auf die Beine.
Xelias gab einen Schmerzenslaut von sich und packte ganz unzeremoniell das Gewand des Optimaten, um nicht sogleich wieder zu Boden zu stürzen. Der Schwindel erfasste ihn und eine aggressive Übelkeit stieg in ihm auf. Er sog die Luft in seine Lungen. Es roch nach Blut, Schwelbrand und verkohltem Fleisch.
Der Optimat war nicht allein – fünf weitere Gestalten in langen Roben umstanden ihn. Dunkelheit umgab sie, auch wenn in der Ferne Feuersbrünste loderten. Die Flammen erhellten die Nacht und reckten sich dem Nachthimmel entgegen.
Xelias wurde bewusst, dass er den Mann immer noch berührte. Hastig zog er die Hand zurück und senkte den Blick. »Entschuldigung, ich …«
»Es ist nicht Zeit für Reden«, fuhr ihm der Angesprochene harsch ins Wort. »Wer bist du?« Er beherrschte Hjaldingsch mehr schlecht als recht, mit einem gestelzten Akzent. »Dein Name?«
»Ich spreche Eure Sprache, Exzellenz«, presste Xelias in Imperial hervor. »Mein Name ist Xelias.« Er stockte. Wenn der Zauberer erfährt, dass ich gar kein echter Hjaldinger bin, sondern nur ein Gassenjunge aus Trivina, was dann? »Arnarssun«, ergänzte er rasch. »Xelias Arnarssun.«
»Du sprichst unsere Sprache sehr gut – für einen Sohn Hjaldingards.« Der Optimat nickte. »Palomelios te Aldangara.« Er hatte sein langes graues Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengebunden. In der Rechten hielt er einen verzierten, klobigen Stab, der bleich in der Dunkelheit schimmerte. Seine Hände waren altersfleckig, aber kräftig. Auch seine Begleiter trugen Zauberstäbe.
»Aldangara?« Xelias’ Verstand benötigte einen Moment, ehe er begriff. »Ihr seid endlich hier! Schnell! Wie müssen …« Er sah sich hastig um.
Sie standen irgendwo zwischen schwelenden eingestürzten Langhäusern im Zentrum von Hjaldingafjord. Wenn die unförmigen Umrisse dort drüben die Halle Ullbjerns waren, dann befand er sich nicht weit von dem Ort entfernt, an dem die Myrmidonen sie gestellt hatten.
Palomelios fasste ihn am Arm – so fest, dass er aufstöhnte. Erneut ignorierte der Optimat Wrekars warnendes Grollen. »Uns bleibt keine Zeit, Xelias Arnarssun. Ist dir diese Ansiedlung vertraut? Kennst du die Umgebung, die Türme des Morgens im Westen?«
»Die Bergatun?« Er nickte hastig. »Ja.« Die dunklen Umrisse der Erschlagenen lagen zwischen den Häusern verteilt. Angst und Panik schnürten seine Brust zusammen. »Habt Ihr hier eine junge Frau gesehen, Exzellenz? Rotes krauses Haar … Oder einen Mann, einen Skalden, der …« Er machte einen Schritt und stöhnte auf. Sein verletzter Fuß wollte ihn nicht tragen.
Der Magier musterte ihn skeptisch. »Du kannst kaum aufrecht stehen. Zeig uns nur den Weg, beschreibe uns rasch, wie der Hafen dieser Siedlung aufgebaut ist.«
»Ich kann stehen!«, protestierte Xelias. »Und es ist kein Hafen, eher ein Anleger. Warum fragt Ihr? Was plant Ihr?«
Palomelios zögerte kurz. »Die Myrmidonen haben die Überlebenden deines Volkes zusammengetrieben und bereiten sie darauf vor, verschifft zu werden. Wenn wir uns beeilen, vermögen wir sie vielleicht noch zu retten.«
Xelias’ Augen flogen zu den Leichen. Keine davon erinnerte ihn an Firnvild oder Faravid. »Ich weise Euch den Weg. Greifen Eure Truppen von Land an? Habt Ihr Schiffe, Exzellenz?«
Der Optimat schüttelte den Kopf. »Die anderen … Der Rest von uns wird für eine Ablenkung sorgen. Das gibt uns die Gelegenheit, die Gefangenen zu befreien und in Sicherheit zu bringen. Rasch, uns bleibt nicht mehr viel Zeit!«
Einer der Zauberer reichte Xelias eine Axt. »Du kannst damit umgehen?«
»Natürlich. Ich bin ein Hjaldinger.« Er hinkte hastig weiter, der Axtgriff in seinen Händen gab ihm ein wenig Trost. Wrekar blieb an seiner Seite. »Wie viele Überlebende gibt es, Exzellenz? Ich nahm nicht an, dass sie auch nur einen am Leben lassen.«
»Viel mehr, als du denkst«, brummte der Optimat, der ihnen mit weit ausholenden Schritten voranging.
Sie bahnten sich einen Weg durch die schwelenden Ruinen. Sie stießen auf keine Soldaten. Am Ufer war Lichtschein zu sehen.
»Vorsicht«, warnte Palomelios und duckte sich. »Und halte deinen Hund unter Kontrolle!«
Xelias blinzelte in das Licht der zahlreichen Wachfeuer.
Auf dem flachen Strand, der zum Wasser hinabführte, und auf den sonst immer die Langschiffe hinaufgezogen wurden, saßen und hockten Hunderte Hjaldinger. Viele der Krieger hatte man in Ketten geschlagen und miteinander durch Fesseln verbunden, einige lagen verletzt oder bewusstlos auf dem Boden. Kinder kauerten weinend bei den Erwachsenen, die tröstend die Arme um sie gelegt hatten – sicherlich waren nicht alle davon ihre eigenen.
Dutzende Myrmidonen in bunt bemalten Rüstungen umstanden die Überlebenden, die Spitzen ihrer Kentemen auf die Gefangenen gerichtet. Weiter draußen, auf dem Meer, zeichneten sich klobige Umrisse ab – imperiale Galeeren.
Eine Abordnung Myrmidonen trat vor und zog eine Reihe Gefangener grob auf die Beine. Die Hjaldinger wehrten sich, fluchten und schlugen nach den Soldaten, behinderten sich wegen der Ketten aber nur gegenseitig. Die Myrmidonen zerrten die Gefangenen mit sich zum einzigen Pier. Boote lösten sich aus dem Schatten einer Galeere und hielten auf den Anleger zu.
»So viele Überlebende«, stieß Xelias hervor. »Warum?«
Palomelios nickte stumm in der Dunkelheit. »Die Charybalis legen Wert darauf. Sie haben einen Verwendungszweck für sie.« Er wies zu einem Feuer auf der anderen Seite hinüber. »Siehst du das?«
Ein kalter Schauder lief Xelias den Rücken hinab.
»Die Tigergarde des Thearchen«, erklärte der Optimat. »Seine Divinität will sichergehen, dass der Feldzug von Erfolg gekrönt ist.«
Sicherlich zwanzig Tigramaniz standen und saßen dort. Manche verzehrten rohe, gehäutete Ziegen, andere schärften ihre Schwertlanzen. Unweit von ihnen lagen aufgeschichtete Waffen – Äxte, Schilde, Speere, sogar Rüstzeug und Helme.
»Wenn die Garde abgelenkt ist, entledigen wir die Gefangenen ihrer Ketten, bewaffnen sie und bringen sie von hier fort.« Palomelios musterte Xelias in der Dunkelheit eindringlich. »Es kann nur hilfreich sein, wenn einer der ihren den Überlebenden versichert, dass wir hier sind, um zu helfen – und dass sie sich nicht sinnlos in einen Kampf stürzen, den sie nicht gewinnen können.«
Xelias wagte es, sich ein wenig aufzurichten, und suchte nach vertrauten Gesichtern unter den Gefangenen. Faravid und Firnvild hockten zwischen ihnen, aneinandergekettet. Ullbjerns Tochter saß zusammengesunken da, doch sie lebte noch. Sein Herz schlug schneller.
»Xelias?«, drängte der Optimat.
Er nickte hastig. »Ich kämpfe mit Euch, Exzellenz. Ich bin ein Hjaldinger, kein Feigling.«
Der Graubärtige musterte ihn prüfend. »Also gut.«
Xelias atmete tief durch. »Greifen wir jetzt an?«
Palomelios schüttelte leicht den Kopf. »Noch nicht.«
»Worauf warten wir?«
»Auf die Ablenkung.« Der Zauberer wies mit der Spitze seines Knochenstabs das Ufer hinab.
Die dunklen Umrisse waren markant genug. »Insektopter«, murmelte Xelias. Die imperialen Fluggeräte hatten Feuerbrände auf Hjaldingafjord abgeworfen und schon beim Vorrücken der Imperjas den Verteidigern enorm zugesetzt.
Und Jurga war nicht hier, um sie mit ihrem Schutzgeist vom Himmel zu holen.
Der Gedanke versetzte Xelias einen Stich. Ich schwor Effar, keinen Fuß mehr auf das Meer zu setzen. Was auch immer gleich geschieht, Vardur sehe ich nie wieder. Hoffentlich findet er einen Weg nach Osten. Hoffentlich gibt es das rettende Land, die neue Heimat, wirklich.
Hätten sich Ullbjern und Firnvild nur dazu bewegen lassen, sich Jurga anzuschließen.
Hätte Xelias doch nicht voreilig diesen Eid geleistet.
Eine Explosion auf der anderen Seite des Uferstreifens ließ ihn zusammenzucken. Zwei Flammensäulen stiegen in die Luft, erhellten Ufer und Meer. Die Bruchstücke der beiden Insektopter flogen etliche Schritte weit in alle Richtungen.
Die Köpfe der Myrmidonen und Gefangenen ruckten herum. Die Tighrir sprangen auf. Einer von ihnen stieß einen kehligen Befehl aus. Die Tigramaniz griffen zu den Waffen und eilten auf die Explosionen zu. Ein Offizier der Myrmidonen sammelte einen Teil seiner Soldaten um sich. Auch diese Abordnung hastete im Laufschritt auf die Insektopter zu.
»Jetzt!« Palomelios erhob sich. »Es muss schnell gehen! Befrei die Gefangenen, Xelias, und überlass uns die Myrmidonen! Sorg dafür, dass sich deine Landsleute bewaffnen und die Flucht antreten!«
Auch die übrigen Zauberer standen auf. Sie hoben ihre Hände und Stäbe.
Xelias packte die Axt fester. »Bei Rondris’ Kralle«, presste er hervor und lief los, so schnell ihn sein verletzter Fuß trug. Wrekar eilte ihm mit weit ausholenden Sprüngen voraus.
Die Myrmidonen, die bei den Gefangenen zurückgeblieben waren, wandten sich um. Sie sahen Xelias reglos – ja, geradezu überrascht und amüsiert – entgegen. Doch dann, mit einem Mal, veränderte sich ihr Gebaren und sie wichen ein oder zwei Schritte zurück. Alarmiert hoben sie ihre Waffen.
Ein riesiger Blutbüffel preschte mit angriffsbereit gesenktem Kopf vorbei und jagte auf die Soldaten zu. Seine Hufe hämmerten auf den Boden. Er überholte Xelias und nahm immer mehr Geschwindigkeit auf.
Rechterhand eilte mit weiten Sätzen ein Bär heran, gefolgt von einem röhrenden Thakur.
Die Myrmidonen sammelten sich, senkten hastig die Kentemen. Die Gefangenen erhoben sich und wandten sich gegen ihre Bewacher.
Der Blutbüffel riss eine Reihe von Gegnern zu Boden, die ihn in seinem Lauf nicht bremsen konnten. Der Bär richtete sich auf die Hintertatzen auf und schlug mit weit ausholenden Prankenhieben auf die Wachen ein. Soldaten flogen in alle Richtungen davon. Ein Berglöwe sprang fauchend einen Myrmidonen an und verbiss sich in dessen Nacken.
Xelias erreichte Firnvild und Faravid. »Rasch!«, rief er. »Die Ketten!«
Der Skalde starrte ihn aus großen Augen an. Dann hielt er ihm die Fesseln hin.
Xelias holte mit der Axt aus und zerschlug die Kettenglieder.