Читать книгу Thomas Tuchel - Daniel Meuren - Страница 6
Оглавление„ES GIBT KEINEN SPANNUNGSABFALL!“
Das Prinzip Tuchel
„Décompression?“ Das Wort geht Thomas Tuchel nicht so leicht über die Lippen. Was nicht an dem guten Französisch liegt, das sich der deutsche Trainer von Paris Saint-Germain in den letzten Monaten angeeignet und das ihm jenseits des Rheins viel Respekt verschafft hat. „Décompression“ kann man mit „Spannungsabfall“ übersetzen, und vielleicht ist es ja diese Bedeutung, die Tuchels Redefluss in der fremden Sprache für einen kleinen Moment unterbricht. Ein Blick nach links zu seinem Übersetzer und Sprachlehrer Daniel Barsan, der sagt ihm das Wort einmal langsam vor – und schon versichert Tuchel mit fester Stimme: „Il n’y a pas de décompression!“ Es gibt keinen Spannungsabfall!
Straßburg, November 2018. Seit vier Monaten ist Thomas Tuchel Trainer von Paris Saint-Germain. Das 1:1 seines Starensembles bei Racing Straßburg nimmt der deutsche Trainer entspannt an. Tuchel hat mit Paris die ersten 14 Saisonspiele in der Ligue 1 gewonnen, das hat vor ihm noch nie ein Trainer mit einer Mannschaft in den fünf Topligen Europas geschafft. Der Vorsprung auf den Tabellenzweiten Lille beträgt 14 Punkte. Und ob Paris die Meisterschaft nun mit zehn oder 20 Zählern Vorsprung gewinnt, dürfte den Klubbesitzern aus Katar ziemlich egal sein. Was zählt, ist die Champions League. Trotz aberwitziger Investitionen ist PSG in der Königsklasse des europäischen Vereinsfußballs nie über das Viertelfinale hinausgekommen. Für den größten Titelgewinn im europäischen Vereinsfußball hat Klubboss Nasser Al-Khelaifi im Sommer 2018 den 44 Jahre alten ehemaligen Trainer von Mainz 05 und Borussia Dortmund verpflichtet. Nach ein paar Wochen nennt Al-Khelaifi Tuchel „den besten Trainer der Welt“. Paris hat da gerade den FC Liverpool mit 2:1 geschlagen und so das drohende vorzeitige Aus in der Champions-League-Vorrunde verhindert. Sichern wird das Weiterkommen ein paar Tage nach dem Auftritt in Straßburg ein 6:1 bei Roter Stern Belgrad.
An dem Abend in Straßburg wirkt Tuchel bereits siegessicher. Nach der Pressekonferenz im Elsass ist er freundlich und bleibt trotz leichten Nieselregens noch lange zum Gespräch vor dem Mannschaftsbus stehen. Das Kompliment für sein schon nach kurzer Zeit fließendes Französisch nimmt er wahr. Aber es ist nur eine Selbstverständlichkeit für diesen Trainer, der seinen Job in allen Facetten perfekt beherrschen will. „Das muss sein, die Sprache muss man sprechen“, sagt er bestimmt. Sein Übersetzer Daniel Barsan ist schon länger nicht mehr rund um die Uhr mit ihm unterwegs, er kommt noch zu den Spielen, aber längst nicht mehr zu allen. Die zehn neuen Vokabeln, die er Tuchel immer als neue Aufgabe für das nächste Treffen aufgibt, sind diesem zu wenig – er kann immer ein paar mehr.
Tuchel ist auf dem Weg, ein „Welttrainer“ zu werden, wie es sein ehemaliger Mentor Hansi Kleitsch sagt. Kleitsch hat den Nachwuchstrainer Tuchel einst in der Jugend des VfB Stuttgart gefördert. Von da an ging Tuchels Weg steil nach oben.
Dieses Buch will den Weg und die Trainerwerdung eines so außergewöhnlichen wie mitunter rätselhaften Fußballlehrers nachzeichnen. Es erzählt die Geschichte von der Karriere des Spielers Thomas Tuchel, die ihm zwei prägende Trainerpersönlichkeiten bescherte: den autoritären Rolf Schafstall bei den Stuttgarter Kickers und den perfektionistischen Ralf Rangnick in Ulm. Und nach dem verletzungsbedingten Ende der aktiven Laufbahn dann die Anfänge von Tuchels Coachingkarriere in Stuttgart und Augsburg, wo er seinen Schützling Julian Nagelsmann dazu ermutigt, ebenfalls Trainer zu werden. Der schnelle Aufstieg in Mainz vom Meistertrainer der Junioren zu einem der aufregendsten Versprechen in der deutschen Trainerbranche. 2015 der Wechsel zu Borussia Dortmund, Tuchel trainiert seinen ersten großen Verein – und steht sich selbst im Weg: als Fachmann unantastbar, als Mensch schwierig, so die Diagnose. Statt eine Ära zu prägen, muss Tuchel nach zwei Jahren im Streit gehen. Dann also Paris: Neymar, Mbappé, Cavani und Co.
Mit diesen Stars besiegt er zu Beginn der Coronakrise am letzten Spieltag vor Aussetzung des Spielbetriebs in der Champions League den BVB. Nach einer 1:2-Niederlage in Dortmund gewinnt PSG am 11. März 2020 unter Ausschluss der Öffentlichkeit das Rückspiel im Prinzenpark mit 2:0. In diesem „Geisterspiel“ besiegt Tuchel auch seine bösen Geister – und vor allem die Vergangenheit beim BVB.
Einen ähnlichen Geist hatte Tuchel bereits vor jenem Spiel in Straßburg besiegt: Beim Plaudern vor dem Stade de la Meinau ist Tuchel die Erlösung anzumerken, gegen den alten Rivalen Jürgen Klopp, dem er einst in Mainz und Dortmund folgte, ein frühes Aus in der Champions League vermieden zu haben. Immer wieder lächelt er zwischen seinen Sätzen. Man könne, so Tuchel, nicht in jedem Spiel dieselbe Einstellung erwarten wie gegen Liverpool. Gegen die Engländer rannten, grätschten und spielten elf Pariser tatsächlich, als ginge es um alles oder nichts. Die Stars agierten unter Anleitung ihres Trainers als: Mannschaft. Die Erleichterung sei bei allen im Klub riesig gewesen, gibt Tuchel zu und schwärmt vom Können Mbappés: „Der ist der Beste.“
Zu Beginn seiner Amtszeit, sagt Tuchel, habe PSG Spiele vor allem über individuelle Klasse gewonnen, mittlerweile erziele man auch als Mannschaft Erfolge. Er hat die Akzeptanz der Könner im Kader gewonnen, weil er sofort gezeigt habe, wer die Richtung vorgibt. Den Fehler, sich zu sehr anzupassen oder abzuwarten, wie die Spieler auf bestimmte Dinge reagieren, hat er nicht begangen. In der Sache coacht Tuchel in Paris so unnachgiebig wie in Mainz und Dortmund. Neymar nannte ihn nach kurzer Zeit schon einen „Gewinnertypen, der PSG etwas Neues gibt“.
Tuchels Arbeit fußt noch immer auf dem Ansatz aus den Tagen seiner unverhofften Beförderung vom Nachwuchstrainer zum Chef des Bundesligateams bei Mainz 05 im August 2009: An jenem Anfang war der Pass. Zu Beginn seiner ersten Einheit als Trainer des Fußballbundesligaklubs lässt Tuchel seine Spieler im zuvor exakt abgemessenen Abstand einander gegenüber aufstellen. Drei Spieler auf der einen Seite, drei Spieler auf der anderen. Eine Übung, wie sie ambitionierten D-Juniorentrainern mit ihren Zehn- bis Zwölfjährigen zu simpel wäre. Gut 20 Minuten lang geht es nur darum, den Ball sauber zum Gegenüber zu spielen und dann im lockeren Trab auf die andere Position zu laufen. Dabei müssen die Spieler die Namen ihres Gegenübers, dem sie den Ball zuspielen, laut rufen. „Andy!“, „Tim!“, „Miro!“ oder „Niko!“ schallt es über den Trainingsplatz am Bruchwegstadion. Dazwischen hört man immer wieder ein knappes „Schärfer!“. Tuchel schaut sich pedantisch die Zuspiele mit der Innenseite an und moniert, wenn der Ball nicht fest genug oder unpräzise gespielt wird.
Schon die ersten Minuten des Profitrainers Thomas Tuchel weisen den Weg in eine Karriere, die einen damals 35 Jahre alten Fußballlehrer, der zuvor ein gutes Jahrzehnt im Nachwuchsfußball gearbeitet hat, binnen weniger Jahre hinaufkatapultieren wird in die erste Reihe von Europas Spitzentrainern. Thomas Tuchel wird sich und seine Spielphilosophie verändern, auch seine Arbeitsweise mit immer neuen Details weiterentwickeln, die sich der in alle Richtungen interessierte Trainer aneignet. Aber Tuchel wird in vielen Facetten ein Rätsel für seine Beobachter, weil er sich umso mehr aus der Öffentlichkeit zurückzieht, je prominenter seine Arbeitsplätze und er selbst werden. Zudem hinterlässt er an jedem Ort seines Wirkens auch zwiespältige und negative Gefühle bei denen, mit denen er zusammengearbeitet hat. Der Draht zum VfB Stuttgart ist verglüht. Nach Augsburg bestehen nur noch vereinzelte Kontakte. Bei Mainz 05 gibt es neben zahlreichen Tuchel-Verehrern auch viele, die ein höchst gespanntes Verhältnis zum ehemaligen Aushängeschild haben. In Dortmund ist Thomas Tuchel Persona non grata.
Am besten ist der aktuelle Coach von Paris Saint-Germain als Trainerpersönlichkeit zu erklären aus seiner Mainzer Zeit, in der er sich noch regelmäßig dem Dialog mit Journalisten stellt in wöchentlichen Hintergrundgesprächen, salopp als „Tuchel-Runden“ bezeichnet, in denen der Jungtrainer oftmals erstaunliche Einblicke in seine Fußballdenkweise gestattet. Wenn er mit Fragen konfrontiert wird, die ihn fachlich berühren, dann sprudelt es aus Tuchel mit nahezu missionarischem Eifer heraus. Er will seine Anschauungen zum Fußball in die Welt tragen. Wenn er dann in der Berichterstattung aus seiner Sicht nur arg verkürzt und unzureichend wiedergegeben wird, ist er zutiefst beleidigt. Tatsächlich aber ist die Berichterstattung über einen Bundesligatrainer wohl selten von so viel Fachlichkeit geprägt wie in den ersten Jahren von Thomas Tuchel in Mainz. Die beiden Autoren dieses Buches sind zwei der kaum eine Handvoll regelmäßigen Begleiter dieser Tuchel-Runden. Sie wollen Thomas Tuchel von jenen Wurzeln am Bruchweg her erklären. In Mainz entwickelt er bereits jene Charakterzüge in seiner Mannschaftsführung, die vor allem in Dortmund zu Problemen führen werden: Tuchel wird ungeduldig, bisweilen cholerisch, er ist unnachgiebig und nachtragend.
Über der Dortmunder Zeit lastet das traumatische Erlebnis des Bombenanschlags auf die Mannschaft des BVB vor dem Champions-League-Spiel gegen AS Monaco. Die Geschehnisse und die Meinungsverschiedenheiten rund um den Anschlag sowie die Neuansetzung des Spiels am Folgetag führen endgültig zum Zerwürfnis zwischen Tuchel und der BVB-Führung.
Die Persönlichkeit Tuchels, die gerade zum Ende der Zeit bei Borussia Dortmund wegen der Begleitumstände der Suspendierung durch den Verein zum Gegenstand der Berichterstattung wird, gibt Hinweise, weshalb sich eines der größten Trainertalente aufgrund seiner unbeugsamen Haltung selbst im Weg stehen kann auf dem Weg nach ganz oben. Er ist kompromisslos im Umgang mit seinen Vorgesetzten, erwartet von allen in seinem Arbeitsumfeld dieselbe Besessenheit, mit der er arbeitet. Immer wieder gibt es Indizien, dass er mit dieser Art die Stars bei Paris Saint-Germain gegen sich aufbringt, wenn ein Neymar ihm auf der Nase herumtanzt oder Kylian Mbappé nach einer Auswechslung den Blickkontakt verweigert.
Thomas Tuchel ist noch immer ein junger Trainer. Er hat noch Zeit, um die Erfolge zu erringen, die ihm viele seit Jahren zutrauen. Große Trainer wie beispielsweise Jupp Heynckes, einer der prominenten Fürsprecher Tuchels, haben auch viele Jahre gebraucht, um zu Führungsfiguren zu reifen mit der für Topklubs wohl nötigen souveränen Abgeklärtheit und Ausstrahlung. Nicht nur deswegen ist Thomas Tuchel eine jener Traineraktien im Weltfußball, die die meisten Phantasien weckt bei Klubverantwortlichen. Am Anfang war der Pass. Werden am Ende die Trophäen für Tuchel stehen? Oder gibt es doch noch eine Décompression in der bislang so verheißungsvoll verlaufenen Trainerkarriere?