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„THIS IS AN EMERGENCY CASE!“

Weshalb der Spieler Tuchel es nicht nach oben schafft

Am 3. Mai 1997 trifft Oliver Wölki einen alten Freund. Aber nicht im Café oder im Restaurant. An diesem Tag muss die Freundschaft mit Thomas Tuchel sogar ruhen. Zumindest für die 90 Minuten Fußball, in denen die beiden Gegner sind. Wölki bleibt jene Begegnung zwischen dem VfR Mannheim und dem SSV Ulm an diesem Frühlingstag aus zwei Gründen besonders in Erinnerung. Er spielt gegen seinen alten Klub, von dem er erst im Sommer zum VfR gewechselt ist. Und: Er und sein alter Freund Thomas agieren auf ungewohnten Positionen – und spielen direkt gegeneinander.

Der damalige VfR-Trainer Günther Birkle bietet Wölki in diesem Match als Linksaußen auf, Ulms Trainer Ralf Rangnick setzt Tuchel als rechten Verteidiger in der Viererabwehrkette ein. Eigentlich spielt Wölki in der damaligen 3-4-3-Grundordnung der Mannheimer gewöhnlich eher hinten links, während Tuchel gelernter Libero ist. Beide Teams erleben eine enttäuschende Saison, Mannheim belegt nur Rang sieben vor diesem 28. Spieltag, Ulm nur Rang sechs. Beide Vereine galten vor der Runde in der Regionalliga Süd, damals die Dritte Liga, als Mitfavoriten auf den Aufstieg in die Zweite Bundesliga. Beide spielen aber zu wenig konstant, während der 1. FC Nürnberg und die SpVgg. Greuther Fürth auf den Aufstiegsplätzen enteilen. Das Duell der Enttäuschten kurz vor Saisonende entscheidet Ulm durch ein Tor des eingewechselten Sascha Rösler in der 89. Minute mit 1:0 für sich. „Ich weiß noch, wie ich damals nach dem Abpfiff lange mit Thomas auf dem Platz gestanden und geredet habe“, sagt Wölki, der in Ulm zu den besten Spielern gehörte, ehe er nach Mannheim wechselte.

Mehr als 22 Jahre später, im September 2019, sitzt Wölki in einem Café am Karlsruher Gutenbergplatz und rekapituliert die Partie. Er ist mittlerweile Spielerberater, eher einer aus der zweiten Reihe, aber er sei „zufrieden“, beteuert er. Der Heilbronner hat an dem Tag beim Karlsruher SC zu tun, für das Gespräch über Thomas Tuchel nimmt er sich dennoch lange Zeit. Wölki und Tuchel freunden sich zu gemeinsamen Spielerzeiten in Ulm an, mittlerweile ist der Kontakt abgebrochen. Tuchel ist Trainer bei Paris Saint-Germain, jenem Klub, der mit obszön viel Geld aus Katar die Champions League gewinnen will. Dass sich Tuchel irgendwann nicht mehr meldet und auf Nachrichten nicht mehr reagiert, wirft Wölki dem ehemaligen Weggefährten nicht vor. Es sei nichts vorgefallen zwischen den beiden, Lebenswege trennen sich eben, sagt Wölki. Damals, als sie in Mannheim als Gegner auf dem Platz aufeinandertreffen, ist der Kontakt noch eng, und Wölki kann sehr aufgeräumt erzählen, was für ein Typ dieser heute so berühmte Trainer früher als relativ unbekannter Spieler gewesen ist.

Wölki erinnert sich noch gut an die allererste Begegnung in der Ulmer Kabine mit dem damals 22 Jahre jungen Tuchel. „Thomas war ein zugänglicher Typ, wir haben uns schnell angefreundet“, erzählt der drei Jahre ältere Wölki, den nicht nur die imposante Körpergröße Tuchels von 1,90 Metern beeindruckt: „Er strahlte eine starke Präsenz aus, als er die Kabine betrat, das war wegen seiner Körpergröße so, aber auch wegen seines klaren Blicks, mit dem er einem beim Händedruck anschaute.“ Der ehemalige Ulmer Trainer Paul Sauter hatte Tuchel damals vom Zweitligaklub Stuttgarter Kickers nach Ulm gelotst.

Mit dem Fußball beginnt der lange Schlaks unter Anleitung des Vaters in seinem Heimatort Krumbach. Tuchel ist geprägt durch sehr junge Eltern, sein Vater ist erst Mitte zwanzig, als der Sohnemann die ersten Versuche mit dem Ball unternimmt. In dem 12.500 Einwohner kleinen Städtchen im schwäbisch-bayerischen Landkreis Günzburg leben seine Eltern heute noch. Tuchel ist kein herausragendes Talent. Dennoch kommt der gute Techniker dreimal in der deutschen U18-Nationalmannschaft zum Einsatz, nachdem er 1988 im Alter von 15 Jahren zum FC Augsburg gewechselt ist. Der FCA ist schon damals der größte Verein in der Region, obwohl die erste Mannschaft ihre großen Zeiten mit Helmut Haller in den 1960er-Jahren lang hinter sich hat und in der Dritten Liga kickt. Die Ära der Nachwuchsleistungszentren für Profiklubs, die Anfang der 2000er-Jahre sukzessive aufgebaut werden, ist noch Zukunft. Entsprechend sind Wechsel von einem Bundesligaklub zu einem anderen, wie heute im Juniorenbereich üblich, Ende der 1980er-Jahre die ganz große Ausnahme. Auch wechseln Talente in dieser Zeit viel später von ihren Heimatvereinen zu den größeren Klubs, meistens so wie Tuchel erst zu Beginn der B-Jugendzeit oder noch später. Der Junge aus Krumbach nimmt eine gute Entwicklung, mit der A-Jugend des FCA gewinnt Tuchel zweimal hintereinander den DFB-Vereinspokal und macht den Zweitligaklub Stuttgarter Kickers auf sich aufmerksam. Tuchel wagt den Sprung in den Profifußball, er wechselt nach der A-Jugend zu den Kickers. Dort lernt er schnell die raue Seite des Fußballgeschäfts und Trainer der alten Schule kennen: In zwei Spielzeiten am Degerloch erlebt er vier Trainer: im ersten Jahr Frieder Schömezler und Ruhrpott-Legende Rolf Schafstall, in der zweiten Saison dann Lorenz-Günther Köster und die Waldhof-Mannheim-Ikone Günther „Sam“ Sebert. Köster und Sebert setzen Tuchel nicht ein einziges Mal in Liga zwei ein. Insgesamt kommt der Jungprofi in zwei Jahren bei den Kickers nur auf acht Ligaeinsätze.

„Ich war sein erster Kapitän im Profifußball“, erzählt Alois Schwartz. Es ist ein milder Tag Anfang Dezember 2019, Schwartz hat nach Trainerstationen in Sandhausen und Nürnberg den Karlsruher SC zurück in die Zweite Liga geführt. Er empfängt in einer Loge über der Baustelle des Stadions. Es entsteht eine neue Arena in Karlsruhe, Schwartz bereitet seine Mannschaft auf ein Spiel bei Spitzenreiter Arminia Bielefeld vor. Der 52-Jährige aus Nürtingen ist drei Mal in seiner Laufbahn auf Tuchel getroffen. Erstmals 1992, als Tuchel bei den Kickers aufschlägt, das zweite Mal zwei Jahre später für sechs Wochen in Ulm, wo Schwartz aber nach der Vorbereitung den Klub wieder verlässt, und schließlich im Jahr 2006, als Tuchel und Schwartz zusammen in Köln das Fußballlehrerdiplom machen. Schwartz sagt, dass Tuchel und er nie eng miteinander gewesen, aber immer gut miteinander ausgekommen seien. Er erinnert sich an die Anfangszeit von Tuchel bei den Kickers. Der Stuttgarter Klub ist gerade aus der Bundesliga abgestiegen und befindet sich in finanziellen Turbulenzen. Schon nach einigen Spieltagen wird Kickers-Urgestein Frieder Schömezler von Rolf Schafstall abgelöst. „Das war damals eine 24er-Liga mit den neuen Mannschaften aus dem Osten. Wir sind sehr schlecht gestartet“, sagt Schwartz schmunzelnd, „und waren nach ein paar Spieltagen starker 24.“ Der Verein kämpft ums Überleben und holt mit Schafstall einen prominenten Trainer, der in seiner Bochumer Zeit vom Kicker sogar mal zum „Trainer des Jahres“ gekürt wurde. Auf Talente setzt Schaftstall nicht in dieser Situation. „Ein junger Spieler braucht ein wenig Zeit, aber die hatten wir nicht“, sagt Schwartz und beschreibt Tuchel als eleganten Akteur, der mit seinen langen Beinen immer wieder mit raumgreifenden Schritten durchs Mittelfeld gelaufen sei: „Was er gar nicht konnte, war das Zweikampfverhalten. Er war halt Libero, da hat man damals in der Ausbildung auf dieser Position nicht so viel Wert auf Zweikämpfe gelegt.“

Mit dem Amtsantritt von Schafstall wird der Ton im Training sehr rau: „Auf dem Spielfeld herrschte nicht mehr Friede, Freude, Eierkuchen. Schafstall war ein Trainer, der für Spieler wie Thomas Gift war. Aber als Feuerwehrmann war er für den Verein gut, wir haben am Ende ja den Klassenerhalt in dieser Saison geschafft“, sagt Schwartz, der als Kapitän immer wieder zu vermitteln versucht zwischen dem knallharten Trainer und den Spielern. Zu Tuchels Schwierigkeiten, sich an das körperbetontere und schnellere Spielniveau zu gewöhnen, kommen auch die Probleme mit dem Trainer. „Thomas war schon damals ein Mensch, der immer seine Meinung vertreten hat, er ist damit auch auf dem Trainingsplatz bei Schafstall angeeckt, das war außergewöhnlich für einen 19-Jährigen, der vorher nichts erlebt hat“, erinnert sich Schwartz. „Der Fußball hat Leute wie Schafstall anders geprägt, das war eine andere Generation. Schafstall siezte seine Spieler und konnte auch verletzend sein.“ Schwartz hingegen kommt gut mit Schafstall klar, auch wenn er einiges grenzwertig findet, was der Trainer veranstaltet. Schafstall drängt Tuchel schließlich ganz an den Rand, das aufmüpfige Talent schafft es nur selten in den Kader. „Thomas hat oft im kleinen Kreis trainiert, mit denen, die nicht spielten, manchmal mussten die nur um den Platz laufen. Das war sicher nicht förderlich“, erinnert sich Schwartz. Und Tuchel muss immer wieder kleine Sticheleien von Schafstall ertragen, die ihn nicht anstacheln, besser zu werden, sondern nur demoralisieren. „Tuchel, Sie können keinen Zweikampf“ oder „Tuchel, was soll ich mit Ihnen“, so und ähnlich lauten Schafstalls Ansprachen. Tuchel überdreht in seinen Reaktionen darauf nie, aber Schafstall duldet ohnehin keine Widerrede.

Der junge Tuchel, sagt Alois Schwartz, sei kein Außenseiter gewesen, er habe auch immer Respekt gegenüber den älteren Spielern wie ihm gezeigt. „Insgesamt waren wir ein sozialer Haufen, hatten mit Keim, Reitmaier und Vollmer soziale Typen. Die jungen Spieler im Kader, wie etwa die späteren Nationalspieler Fredi Bobic und Sean Dundee, hätten damals eben Zeit gebraucht. Die beiden gingen dann ja auch unterschiedliche Wege. Dundee musste erst einen Schritt zurück in die Regionalliga nach Ditzingen gehen, um der zu werden, der er dann später beim KSC wurde. Fredi setzte sich durch, und der Thomas konnte sich damals eben leider nicht durchsetzen“, resümiert Schwartz, der nach dem Klassenerhalt schließlich zum MSV Duisburg in die Bundesliga wechselt. Tuchel bleibt noch ein Jahr in Stuttgart, die Kickers steigen am Ende in die Regionalliga ab. Tuchel unternimmt ebenfalls eine Liga tiefer einen neuen Anlauf, er wechselt zum SSV Ulm. Doch die Behandlung durch Schafstall wird Tuchel noch lange beschäftigen. 14 Jahre später wird sie sogar das Thema bei der gemeinsamen mündlichen Prüfung mit Alois Schwartz im Fußballlehrerkurs sein – im Fach Psychologie.

Fußballabende mit „Eurogoals“

Tuchel kommt nach seinen zwei enttäuschenden Jahren in Stuttgart mit denkbar wenig Selbstvertrauen in Ulm an. Und auch beim SSV tut sich der lange Abwehrspieler zunächst schwer, Spielzeit zu bekommen. „Damals herrschten in den Kabinen noch klare Hierarchien“, erzählt Oliver Wölki, der zu den gestandenen Kräften im Team gehört: „Die Etablierten und Älteren gaben den Ton an, die Jungen und die Neuen mussten sich den Respekt der Anführer erst erkämpfen und erspielen. Als Tuchel 1994 von den Kickers kam, standen an der Spitze der Pyramide in Ulm Leistungsträger wie Stürmer Dragan Trkulja, Spielmacher Klaus Perfetto oder Abwehrchef Petr Skarabela, klangvolle Namen im damaligen Drittligafußball.“ Tuchel hat zudem das Problem, das Skarabela als Libero auf jener Position gesetzt ist, auf der auch er seine Stärken hat. Der damalige Ulmer Trainer Rainer „Uffz“ Ulrich baut auf den Tschechen Skarabela, der ein Jahr zuvor vom tschechischen Erstligaklub Banik Ostrau an die Donau gekommen ist. Regelmäßig zum Einsatz kommt Tuchel in seiner ersten Ulmer Spielzeit erst, als sich Skarabela verletzt und länger ausfällt. „Thomas hatte für einen Abwehrspieler ein gutes Auge. Er war aber nicht der Schnellste und hatte Schwächen im Eins-gegen-Eins. Er hatte es am Anfang schwer. Er war ein kluger Typ, vielleicht zu klug für eine Fußballerkabine. Er konnte da Leute, die ihm zu blöd waren, auch schon bewusst links liegen lassen. Dennoch war er kein Außenseiter. Es ist halt so in Mannschaften: Da gibt es immer welche, mit denen man besser, und welche, mit denen man schlechter auskommt. Thomas war kein Überflieger, aber er hat sich dann im Laufe der Zeit ein gutes Standing erarbeitet. Als Skarabela weg war, schloss er die Lücke“, erzählt Wölki, der zusammen mit Torwart Philipp Laux und Tuchel abseits des Platzes viel unternimmt. In Erinnerung ist ihm bis heute auch die Disziplin des Freundes.

Tuchel trinkt Alkohol nur in Ausnahmefällen und dann auch nur ein Glas. Er versackt nie mit den Kollegen, wenn die nach einem Sieg um die Häuser ziehen und spät in der Nacht noch ins angesagte „Myer’s“ einlaufen. Mit mehr Einsatzzeit wächst das Selbstvertrauen des am Anfang von einigen im Team als schüchtern eingestuften Tuchel. Wölki berichtet, dass Tuchel schon als Spieler nur sehr schlecht verlieren kann – ein Wesenszug, der sich später, während seiner Trainerwerdung immer mehr verfestigt. „Nach Niederlagen fiel schon mal die Tür laut ins Schloss oder ein Schuh flog – von Thomas abgefeuert – durch die Kabine. Auch hat er Kollegen, die nicht so mitzogen, an die Kandare genommen“, sagt Wölki. „Als Spieler erschien mir Thomas aber nicht so super verbissen, wie er manchmal später im Fernsehen als Trainer gewirkt hat. Obwohl er sehr ehrgeizig war und sich damals schon mit Fußball in allen Facetten beschäftigt hat.“

Wölki, Laux und Tuchel schauen damals regelmäßig montagabends zusammen auf Eurosport „Eurogoals“. In dieser Sendung können Fußballfans erstmals längere Zusammenschnitte von Ligaspielen aus dem europäischen Ausland sehen. Vor allem begeistern die drei Ulmer Drittligaprofis die Szenen von den Auftritten des FC Barcelona. Die Spielweise der Katalanen unter Trainer Johan Cruyff gilt als State of the Art im internationalen Fußball. Bei Barca zaubern vorne der bulgarische Dribbler Hristo Stoichkov und der rumänische Spielmacher Gheorghe Haghi, hinten bauen der Niederländer Ronald Koeman und ein gewisser Pep Guardiola, der später Tuchels großes Trainervorbild wird, das Spiel auf. „Der FC Barcelona spielte Fußball, wie wir uns das erträumt haben“, sagt Wölki und erzählt, wie die Montagabende in Tuchels kleinem Appartement in der Ulmer Innenstadt abgelaufen sind. Meistens kocht der Gastgeber einfache Sachen wie Spaghetti Bolognese oder Gemüsesuppe, manchmal lassen sich Wölki, Laux und Tuchel auch Pizza bringen. „Thomas achtete damals schon auf seine Ernährung, aber er war noch nicht komplett dogmatisch.“

Eine Geschichte aus gemeinsamen Ulmer Zeiten verbindet Wölki auf ewig mit Tuchel. Im Januar 1996 bereitet sich die Mannschaft in einem Trainingslager auf Lanzarote auf die Rückrunde vor. Wölki, Laux und Tuchel teilen sich ein Dreibettzimmer, die Spieler müssen sich selbst verpflegen. An einem Abend – die drei kochen gerade – erreicht Wölki ein schicksalhafter Anruf. Seine Eltern teilen ihm mit, dass seine hochschwangere Freundin das Kind verloren hat. Um ihr beizustehen, will Wölki so schnell wie möglich nach Hause. Dem damaligen Ulmer Teammanager Uli Frommer gelingt es aber auf die Schnelle nicht, einen Flug zu organisieren. Das will Tuchel nicht wahrhaben und übernimmt die Initiative. „Thomas hat dann bei der spanischen Fluggesellschaft Iberia angerufen und auf Englisch ins Telefon geschrien: ,This is an emergency case!‘ Der hat so lange Terz gemacht, bis die mir einen Flug buchten“, erinnert sich Wölki. „Ich bin dann früh morgens von Lanzarote über Madrid zurück nach Frankfurt und von dort nach Hause gereist. Der Flug hat 1.200 Mark gekostet, der Verein hat nichts übernommen. Da ging Thomas sammeln bei den Mitspielern und hat Philipp, der unser Kassenwart war, das Geld gegeben. Das werde ich Thomas nie vergessen.“

Diese spontane Initiative stärkt die Freundschaft zwischen Wölki, Tuchel und Laux. An einem spielfreien Wochenende treffen sich die drei in Krumbach bei Tuchels Eltern. „Samstagabend ging Thomas mit seinen Eltern in die Kirche, während wir im Wohnzimmer die Sportschau guckten. Der Kirchgang war offenbar sehr wichtig für ihn, danach hat seine Mutter gekocht, und wir haben uns lange über alles Mögliche unterhalten“, erzählt Wölki. Im Sommer 1996 verlässt Wölki den SSV Ulm, weil er beim letztjährigen Vizemeister VfR Mannheim die bessere Chance für den Zweitligaaufstieg sieht. Das enge Verhältnis zu Tuchel und Laux bleibt aber bestehen, auch wenn sie sich natürlich nicht mehr oftsehen.

Doch weder für Wölki und Mannheim noch für Tuchel und Ulm läuft die anstehende Saison wie erhofft. Zur Rückrunde verpflichten die Ulmer im Januar 1996 Ralf Rangnick als Trainer, mit dem beim SSV ein neues Zeitalter beginnt. Rangnick gilt im württembergischen Fußball schon damals als Erneuerer, als Geheimtipp, der Anfang der 1990er-Jahre bereits beim VfB Stuttgart die A-Junioren trainiert und mit seinem Mentor und VfB-Nachwuchschef, Helmut Groß, die in Deutschland damals neue Idee der „Ballorientierten Raumdeckung“ mit Viererabwehrkette aggressiv vertritt. Dem jungen Trainer aus Backnang eilt aber auch der Ruf voraus, mitunter zu ehrgeizig und zu ungeduldig, ja, ein Besserwisser zu sein. Im ersten halben Jahr kommt Rangnick mit seinen Ideen nicht so richtig an in der Mannschaft, der Abstand zu den die Liga dominierenden Klubs aus Nürnberg und Fürth wächst. Die Umstellungen von Spielsystem und Grundordnung überfordern die Spieler, 31 ihrer 50 Gegentore in dieser Runde kassiert die Mannschaft unter Rangnick. Die Anlaufschwierigkeiten von Rangnick in Ulm erklärt Tuchel, da ist er bereits Bundesligatrainer in Mainz, in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau: „Er hat uns die Viererkette und das ballorientierte Spiel beigebracht. Das war völlig neu für uns, und wir waren zunächst entsprechend skeptisch, das so konsequent umzusetzen.“ Dennoch ist Rangnick für die Sozialisation des späteren Trainers Tuchel „prägend“, wie der sagt. Oliver Wölki erinnert sich an Unterredungen aus dieser Zeit mit Tuchel: „Mit Rangnick hatte es Thomas zunächst schwer, weil der auf eine Viererkette in der Abwehr umstellte und er eigentlich ein zentraler Spieler war, aber dort setzte Rangnick auf andere.“ Wölki kennt auch Rangnick gut. Als er sich am Knie verletzt, absolviert er das Aufbautraining im Reha-Zentrum von Thomas Fröhlich in Böblingen, das dieser gemeinsam mit Rangnick führt. Fröhlich wird in Rangnicks Hoffenheimer Zeit dort Physiotherapeut. Man kennt sich und unterhält sich. Als Wölki noch Spieler in Ulm ist, bittet ihn der ehrgeizige Rangnick einmal, ihn beim SSV als Trainer ins Gespräch zu bringen. Nun wirkt er dort, als Wölki weg ist.

Die Verbindungen Wölkis nach Ulm sind aber auch nach seinem Wechsel zum VfR Mannheim eng, er kriegt alles mit, was beim SSV läuft. „Rangnick veränderte in Ulm die Strukturen komplett, nicht nur, was das Sportliche anbelangte. Er legte extrem viel Wert auf gesunde Ernährung. Es gab mehr Fisch als Fleisch, Cola war verboten. Rangnick hat eine ganz andere Welt gelebt, die damals im konservativen Fußballmilieu total neu war.“ Tuchel tut sich am Anfang schwer, obwohl er Stammspieler ist. Denn Rangnick setzt ihn mitunter als rechten Verteidiger ein, eine Position, die Tuchels Naturell als zentraler Spieler nicht liegt. Der anstrengende Rangnick fordert viel. Nicht nur der langjährige Spielmacher Perfetto klagt über zu viel Laufarbeit, die der Trainer von seinen Kickern verlange. Tuchel ist bei aller Skepsis lernwillig, aber auch nervig, wie er in dem FR-Interview einräumt: „Ich war bestimmt für einen Trainer kein einfacher Spieler. Ich habe viel hinterfragt und war manchmal etwas zu mündig und habe mich mit einem sehr ausgeprägten Gerechtigkeitssinn auch für andere eingesetzt, obwohl das gar nicht meine Baustelle war.“

Wölki erzählt, dass sich Rangnick und Tuchel nach der schweren Anfangsphase nähergekommen seien, vor allem, nachdem sich Tuchel schwer verletzt hat. „Thomas hat viel von dem aufgesaugt, was Rangnick auf und neben dem Platz veranstaltet hat. Er hat oft geschwärmt, wie spielnah das Training ist und wie modern und völlig anders es auf und neben dem Platz zugeht.“ Aus der schwachen Rückrunde ziehen Rangnick und der Verein weitreichende Konsequenzen. So verlässt nicht nur der langjährige Spielmacher Perfetto den Klub. Die Ulmer holen zum Teil prominente Profis und unterstreichen so ihren Ehrgeiz, den Aufstieg endlich schaffen zu wollen. In Fritz Walter verpflichtet der SSV einen altgedienten Angreifer, der einst beim VfB Stuttgart Torschützenkönig in der Bundesliga war und gerade Arminia Bielefeld von der Dritten in die Erste Liga geschossen hat. Außerdem wechseln auch zwei renommierte Innenverteidiger nach Ulm, Rainer Stadler von Borussia Mönchengladbach und Rainer Widmayer von der SpVgg. Ludwigsburg. Und es kommt Alois Schwartz vom SV Waldhof Mannheim, Tuchels erster Kapitän im Profifußball bei den Stuttgarter Kickers. Wie innovativ Rangnick seine Mannschaft führt, bemerkt der damals 30 Jahre alte Schwartz sofort. Nach der Vorbereitung verlässt er Ulm und zieht zum FC Homburg weiter. „Ich war nur sechs Wochen da – Ralf Rangnick und ich, das hat nicht so gepasst. Er hat schon besondere Ansichten gehabt damals, das meine ich aber nicht böse. Ich bin da als 30-Jähriger hingekommen und bin wie ein 18-Jähriger behandelt worden. Rangnick wollte alle Spieler gleich behandeln, aber jeder hat eben seine eigene Geschichte“, sagt Schwartz, der als Kollege später ein normales Verhältnis zu Rangnick pflegt.

Für Tuchel verändert sich durch die starke Konkurrenz sein Stellenwert im Team. Er verliert seinen Stammplatz und wird von Rangnick in den ersten zwei Saisonspielen nur eingewechselt. Danach muss Tuchel verletzungsbedingt aussetzen. Dass damit bereits der Anfang vom Ende seiner Spielerlaufbahn eingeläutet wird, ist ihm damals nicht bewusst. Die Diagnose klingt zunächst harmlos: Verletzung am Mittelfuß. Doch irgendwie kommt Tuchel nicht wieder auf die Füße, die Schmerzen bleiben, und er findet nie mehr nachhaltig den Weg zurück ins Mannschaftstraining. Selbst eine fünf Monate lange Aufbauphase im Reha-Zentrum Eden in Donaustauf bringt keine Besserung – obwohl das Eden, dessen Inhaber Klaus Eder der damalige Physiotherapeut der deutschen Fußballnationalmannschaft ist, als eines der besten Rehabilitationszentren für Profisportler im Land gilt. Es ist die Hölle für Tuchel, der den Traum von Bundesligaeinsätzen noch träumt. Tuchel, erzählt Wölki, habe damals sehr niedergeschlagen gewirkt. Trotz der Quälerei wird es nicht besser. Am Ende ist die nach vielen Untersuchungen gestellte, neue Diagnose niederschmetternd: Knorpelschaden unter der Kniescheibe in Kombination mit einer chronisch vernarbten Patellasehne. Das bedeutet das Aus für Tuchels Fußballerkarriere. Nach nur 68 Einsätzen in der Dritten und nur acht in der Zweiten Liga! Mit nur 24 Jahren! Jeder, der erlebt hat, was es bedeutet, eine Leidenschaft nie mehr ausleben zu können, kann nachempfinden, wie sich der junge Fußballer damals fühlt.

Tuchel hatte dem Sport alles untergeordnet, wegen der Belastung als Fußballer ein Englisch- und Sportstudium ebenso wie eine Ausbildung zum Physiotherapeuten abgebrochen. Er wollte als Spieler unbedingt in die Bundesliga. Nun ist der Traum ausgeträumt. Viel Geld hat Tuchel nicht auf der hohen Kante, und von der Berufsgenossenschaft ist nichts zu erwarten. Diese ordnet sein Leiden nicht als Arbeitsunfall ein, sondern als Verschleiß – und zahlt keinen Pfennig. „Für alles war ich versichert, nur für diesen einen miesen Fall nicht“, hadert Tuchel mit dem Ende seiner Karriere als Spieler. Um sich über Wasser zu halten, nimmt er Gelegenheitsjobs an, kellnert in einem Café in Ulm, sortiert Brötchen in einer Bäckerei. Als Tuchel fast 17 Jahre später bei Borussia Dortmund als neuer Cheftrainer vorgestellt wird, titelt die in Ulm ansässige Südwestpresse: „Vom Brötchensortierer zum Millionär“.

Während Tuchel seinen Lebenstraum beerdigen muss, spielt Oliver Wölki beim SV Darmstadt 98. Sie treffen sich nicht mehr so häufig, telefonieren aber regelmäßig miteinander. Wölki sagt: „Thomas war immer einer, der wusste, was er wollte. Nur in diesem Moment, als seine Laufbahn als Spieler zu Ende ging, da war er verzweifelt und wusste nicht, wie es weitergehen sollte.“ Tuchel entscheidet sich für einen kompletten Neuanfang in einer anderen Stadt und weg vom Fußball: Er zieht nach Stuttgart, um BWL zu studieren.

Thomas Tuchel

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