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Die Lagune

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Es waren kaum zehn Minuten vergangen, seit sie das vernichtende Gewitter und die Donneraale hinter sich gelassen hatten, da tauchte am Horizont, leicht nördlich ihres derzeitigen Kurses, ein rötlicher Schimmer auf. Im ersten Moment nicht viel mehr als ein blasses Leuchten, das Spiffi zunächst als riesigen, herabfallenden Stern fehldeutete, wurde es dann jedoch schnell größer, weitete sich in alle Richtungen aus und ließ seinen Schimmer auf dem bewegten Ozean widerspiegeln, wie das warme Licht der Morgenröte, die nach einer langen Nacht vorsichtig in den Himmel hinaufkroch.

Das Schiff gewann plötzlich an Geschwindigkeit. Es lag keineswegs an einem jäh auffrischenden Wind, sondern an einer Meeresströmung, die das kaum mehr seetaugliche Wrack erfasste und geradewegs auf die sonderbare Erscheinung zuhalten ließ. Dieser Umstand lenkte auch die Blicke der übrigen Besatzung auf den orangeroten Schimmer, der mittlerweile den Horizont im Norden und Nordosten vollständig ausfüllte und die nächtliche Schwärze langsam nach Süden verdrängte. So zumindest erschien es den Gefährten, in Wirklichkeit jedoch war es nur ihr Schiff, das sich mit hoher Geschwindigkeit auf den merkwürdigen Schein zubewegte.

Sergost, das ranghöchste verbliebene Besatzungsmitglied, das nach dem Dahinscheiden Adburals das Kommando über die verbliebenen Krieger erhalten hatte, befahl, das unheimliche Licht genauer zu untersuchen. Mehrere Männer erklommen daraufhin einen der noch unversehrten Masten und spähten mit Fernrohren in die Nacht hinaus. Einem der sichtlich verwirrten Krieger zufolge handelte es sich um einen Sonnenuntergang oder dergleichen, einen feuerroten Abendhimmel inmitten der nächtlichen Finsternis. Ein weiteres Besatzungsmitglied fügte hinzu, dass allerdings keine Sonne zu erkennen sei und man nicht genau sagen könne, woher die Helligkeit komme, noch dazu um diese Uhrzeit.

Yala stellte die absurde und Tado ganz und gar beunruhigende Vermutung auf, dass der Sturm die Zeit umgekehrt habe und sie nun hinein in den Abend des Vortages fahren würden. Diese Worte klangen dermaßen lächerlich, dass sogar Spiffi sie für absolut unmöglich hielt und Lukdan nur mit einem unterdrückten Seufzen den Kopf schüttelte. Natürlich war nichts dergleichen geschehen, doch erklären konnte sich das plötzliche Auftauchen des Lichtes niemand. Wahrscheinlich aber, das glaubte zumindest Tado, hatte es mit dem Ort zu tun, auf den das Schiff mit beunruhigend hoher Geschwindigkeit zuhielt.

Diese Vermutung schien sich zu bestätigen, als einem der Krieger vor Schreck das Fernrohr entglitt und er es nur mit einem tollkühnen Griff in die Tiefe, der ihn beinahe vom Mast fallen ließ, vor einem Sturz hinunter aufs Deck bewahren konnte. Was er gesehen hatte, war Land; der vage Umriss einer steilen Küste, inmitten der endlosen Weite des Ozeans. Jeder an Bord wusste, was diese Nachricht bedeutete. Es gab weit und breit nur einen einzigen Ort, den sie von Syphora aus nach zwei Tagesreisen erreichen konnten: Die Insel der Magier. Hektik brach unter der Besatzung aus. Sergost brüllte einige Befehle; das Schiff sollte auf einen anderen Kurs gebracht werden. Dies stellte sich jedoch als unmöglich heraus: Selbst wenn das Steuer noch funktioniert hätte – gegen die mächtige Strömung, die den Kahn mit unbarmherziger Beharrlichkeit auf den immer breiter werdenden Landstreifen vor ihnen zuhalten ließ, würden sie nichts ausrichten können. Mit großer Wahrscheinlichkeit handelte es sich dabei bereits um einen Zauber Telkors, der jeden, der sich unbefugt in die Gewässer der Magier begab, auf schnellstem Weg zur Insel brachte.

„Das ist merkwürdig“, sagte Lukdan nach einer Weile, als sie die nächtliche Finsternis hinter sich ließen und in den leuchtenden Himmel Telkors hineinsegelten, wo in großer Höhe schlanke Federwolken in der kühlen Luft dahintrieben. „Wie es aussieht, bringt uns die Meeresströmung direkt in die Hände der Magier. Woher nur wissen sie, dass wir nicht zu ihnen gehören, wo wir uns doch an Bord eines ihrer eigenen Schiffe befinden? Ich bezweifle, dass eine derart zielgerichtete Strömung natürlichen Ursprungs ist.“

Tado bezweifelte, dass überhaupt irgendetwas in diesen Gewässern natürlichen Ursprungs war, Telkor selbst miteingeschlossen.

„Vielleicht hat uns die Strömung ergriffen, gerade weil wir eines ihrer Schiffe fahren“, sagte er schließlich. „Möglicherweise ist jedes ihrer Boote mit einem Zauber versehen, der ihnen verrät, ob ein Schiff manövrierunfähig ist, sodass sie dieses mithilfe ihrer Magie zu sich holen.“

Er wusste nicht, ob er damit Recht hatte, aber es klang wie etwas, das der Lord des Feuers tun würde, und die anderen schienen seine Antwort relativ schlüssig zu finden. Sergost mahnte derweil die Besatzung zu Ruhe und Ordnung und begann mit dem Schmieden eines neuen Plans. Eines stand für Tado jedenfalls fest: Zumindest in Bezug auf Kreativität war er der Sturheit Adburals überlegen. Sergost hatte sehr schnell begriffen, dass er an ihrem derzeitigen Kurs ins Verderben nichts ändern konnte und plante deshalb, wie ihre Ankunft in Telkor ablaufen würde: So sollte das größte Bemühen der Besatzung der sofortigen Beschaffung eines neuen Schiffes gelten, mit dem man die Insel umgehend wieder Richtung Westen (mit einem kleinen Bogen nach Norden, um die südlichen von Gewitter geplagten Gewässer zu umgehen) verlassen wollte. Ein Angriff aus dem Hinterhalt sollte das notwendige Zeitfenster schaffen.

Im ersten Moment kam Tado der Plan lächerlich vor, als er jedoch genauer darüber nachdachte, musste er Sergost in Gedanken zugestehen, dass sein Vorhaben zumindest eine geringe Chance auf Erfolg haben könnte. Wenn sie es tatsächlich schaffen sollten, ein Schiff zu kapern, würden auch die Magier ihnen nur noch auf dem Seeweg folgen können; dort hatten sie vielleicht die Möglichkeit, ihnen zu entwischen. Soweit Tado wusste, gab es keine Magier, die über das Wasser gehen konnten, ansonsten wäre kein zweitausend Jahre dauernder Transportzauber nötig gewesen, um einen gewöhnlichen Ozean zu überqueren. Dennoch hielten sich seine Hoffnungen, von der Insel lebend zu entkommen, in Grenzen. Im Gegensatz zu Sergost nämlich wusste er, was für eine Macht ihre Gegner besaßen.

Er spielte kurz mit dem Gedanken, ein weiteres Gespräch mit dem Lord des Feuers zu führen, doch er wollte dem Magier den Triumph nicht gönnen, außerdem fiel ihm in diesem Moment auch keine glaubwürdige Ausrede ein, sich als einziges Besatzungsmitglied für ein paar Minuten unter Deck zurückzuziehen, insbesondere angesichts dessen, was vor ihnen lag.

Telkors Umriss war mittlerweile deutlich am Horizont zu erkennen: Eine dunkle, unfreundliche Küste lag vor ihnen; wenige Gebäude säumten das Wasser. Felsen ragten mehrere Meter in die Höhe, thronten auf den steilen Klippen, die das Ufer formten. Die Strömung trieb sie auf einen kurzen, flachen Strandabschnitt zu, dessen schwarzer Sand unter dem feurigen Himmel anmutig glitzerte. Jede Menge Schiffe lag hier vor Anker, allesamt von der gleichen Bauweise wie das der Mannschaft aus Syphora, nur in einem deutlich besseren Zustand.

Ein geradezu erdrückendes Gefühl überkam Tado, als ihr manövrierunfähiges Wrack langsam auf eine Lücke zwischen Telkors Booten zusteuerte, als würde eine magische Hand sie zu einem der wenigen noch freien Liegeplätze am Ufer führen. Es war die Anwesenheit von Magie, die Tado spürte, wie er schon damals in Kors Oldroi die Präsenz von Uris‘ Krieger wahrgenommen hatte, nur diesmal schien sie allgegenwärtig zu sein, er konnte ihr keine Richtung zuweisen oder gar feststellen, von wem oder von wie vielen diese unheimliche Aura ausging, sie umgab ihn allseitig und drückte mit großer Macht auf sein sorgenbeschwertes Gemüt.

Das Schiff erreichte den Strand. Mit einem sanften Ruck schob es sich ein paar Meter ins Landesinnere und kam letztendlich zum Stehen. Die gesamte Besatzung hatte sich unter Deck begeben, sodass keine der bedrohlichen Gestalten, die sich nun am Ufer zeigten, sie sehen konnte. Es war schwer zu sagen, um was es sich bei den scheinbar aus dem Nichts auftauchenden Wesen handelte. Zwar gingen sie aufrecht und auf zwei Beinen, doch ihr Körper glich dem einer Eidechse. Die schmutzig blaue, geschuppte Haut wurde teilweise von schwarzer, sehr steif aussehender Rüstung verdeckt, die sämtliche Körpergelenke aussparte. In der linken Hand trugen sie stets einen ebenso dunklen Schild, in der rechten eine merkwürdige Konstruktion, die ihren halben Arm umspannte und aus der vier gefährlich aussehende, etwa halbmeterlange metallene Klingen ragten, die ihre zur Faust geballte Hand von allen Seiten wie riesige Krallen umschlossen. Etwas mehr als ein Dutzend dieser Kreaturen stand, den Blick in Richtung des ankommenden Schiffes gewandt, nebeneinander aufgereiht auf einer steinernen Promenade, die das Ende des Strandes markierte. Aus einem nahestehenden Turm – zehn Meter hoch und fast ebenso breit – traten zwei weitere Gestalten hervor, bei denen es sich wohl um Magier handelte, zumindest unterschieden sie sich äußerlich nicht weiter von einem gewöhnlichen Menschen. Einer von ihnen gab eine Anweisung in Richtung der echsenähnlichen Kreaturen. Daraufhin setzte sich etwa die Hälfte der merkwürdig bewaffneten Wesen geradezu unheimlich synchron in Bewegung und ging schnellen Schrittes auf das Schiff zu. Sie verstauten ihren Schild auf dem Rücken und öffneten ihre rechte Faust, woraufhin die Klingen an ihrem Arm irgendwo in der daran befestigten sonderbaren Konstruktion verschwanden. Dann begannen sie, an der Schiffswand emporzuklettern. Dazu benötigten sie nicht etwa ein Seil oder eine Leiter, ihre Hände und Füße hafteten problemlos an dem nassen, glatten Holz. In wenigen Sekunden hatten sie das Deck erreicht, bemächtigten sich wieder ihres Schildes und ließen die Klingen erscheinen.

Sergost ersparte ihnen die Mühe, das lädierte Schiff nach Überlebenden abzusuchen; er brüllte einen lauten, weithin hörbaren Befehl, und einen Augenblick später flutete die Besatzung das Hauptdeck. Je zwei Krieger stellten sich einer der unbekannten Kreaturen; der Rest versuchte, so schnell wie möglich von Bord zu gelangen. Strickleitern und Seile wurden hinabgeworfen, einige Männer sprangen auch direkt ans Ufer. Angesichts der vermutlich sehr geringen Wassertiefe hielt Tado dies für keine besonders gute Idee und beschloss, das Schiff seinerseits auf normalem Weg zu verlassen, wenngleich dies ein wenig länger dauern würde. Überraschend dumpf klangen die Kampfgeräusche zwischen den Kriegern Sergosts und den Wächtern Telkors. Eines schien sicher zu sein: Weder die Rüstungen noch die Schilde der Echsen bestanden aus Metall.

Wie jedes Besatzungsmitglied waren übrigens auch die Gefährten in die Pläne ihres neuen Anführers miteinbezogen worden. So sollten sie eigentlich die verbliebenen Kräfte Telkors am Ufer aufhalten, damit der Rest ihres Trupps eines der umliegenden Schiffe stehlen und ihre Flucht vorbereiten konnte. Doch es kam anders. Sergost hatte die Stärke der Echsenwesen unterschätzt. Eine der Kreaturen entledigte sich soeben seinem zweiten Widersacher und brachte sich mit einer schnellen Bewegung zwischen die Gefährten und den Rand des Schiffes, um sie am Entkommen zu hindern. Das Wesen überragte sie alle deutlich; in der aufrechten Position, in der es sich fortzubewegen pflegte, maß es ungefähr zwei Meter fünfzig.

Spiffi fackelte nicht lange: Er zielte auf die Brust des Wächters und ließ einen Pfeil fliegen. Das Geschoss prallte ab. Der Bogenschütze war derart verwirrt über die Ineffektivität seiner Waffe, dass er einen Moment lang vergaß, sich vor einem Gegenangriff in Sicherheit zu bringen. So musste Lukdan eingreifen, um ihn vor den tödlichen Klingen der Echse zu bewahren. Es schien ihn viel Kraft zu kosten, die einhändige Attacke seines deutlich größeren Gegenübers abzuwehren, denn er wich einen Schritt zurück und wankte ein wenig unter der brachialen Gewalt des Schlages. Dennoch schaffte er es nach ein paar Sekunden, die Klingen der Echse zurückzudrücken und seinerseits einen Angriff zu starten; auch dieser Versuch blieb erfolglos. Der mächtige Schild der Kreatur parierte die Säbel mühelos; die gesamte Macht der Attacke verpuffte wie ein Faustschlag im Federkissen. Tado griff ein, als Lukdan erneut die Klingen der Echse abwehren musste und einen schmerzhaften Tritt gegen das Schienbein kassierte.

Eigentlich war er sich sicher, seine Drachenklinge mit großer Kraft und Präzision geführt zu haben, doch irgendwie musste der Wächter Telkors ihm dennoch ausgewichen sein, denn das Schwert traf auf keinen Widerstand, sondern glitt mit einem zischenden Geräusch durch die Luft. Erst als Tado etwas Hartes auf den Fuß fiel und ihn vor Schmerz aufschreien ließ, wusste er, dass das so nicht stimmte. Der Gegenstand stellte sich als ein gut dreißig Zentimeter großes Stück des Echsenschilds heraus. Fassungslos starrte Lukdan auf den schwarzen Klumpen. Tado hingegen wusste nun, dass es sich bei der Rüstung und dem Schild um Drachenfels handeln musste; jenem unzerstörbaren Material, das nur durch Magie verformt werden konnte und das die Drachenklinge seit jeher so zuverlässig durchtrennte. Yala rief ihm und Lukdan zu, sie sollen in Deckung gehen. Die beiden Angesprochenen ließen sich zur Seite fallen, und im nächsten Moment krachte ein metallener Pfeil in die Rüstung des Echsenkriegers. Das Resultat war derart grotesk, dass viele der Besatzungsmitglieder für einen Moment verwundert zu ihnen herübersahen. Das Geschoss vermochte keineswegs, den Drachenfels zu zerstören, es fügte ihm nicht einmal einen Kratzer zu. Die Wucht des Pfeils allerdings holte die Echse von den Füßen, stieß mit solch gewaltiger Macht gegen ihre Brust, dass die Kreatur etliche Meter durch die Luft flog; über den Bug des Schiffes hinweg. Noch im Fallen verstaute das Wesen seinen Schild auf dem Rücken und zog seine Klingen zurück, dann drehte es sich mit der Geschicklichkeit einer Katze in Bauchlage und landete schließlich wenige Schritte entfernt von den beiden bisher tatenlos dem Geschehen zusehenden Magiern auf allen Vieren. Der Aufprall war abrupt, die Echse rutschte keinen Zentimeter über den glatten Steinboden der Promenade; sie verharrte kurz in dieser Position, wedelte mit ihrem Schwanz etwas Staub auf und ließ dann einen halb knurrenden, halb zischenden Laut vernehmen.

Yala hielt sich ihr Handgelenk. Aus irgendeinem Grund fiel es ihr seit Kurzem immer schwerer, ihren Bogen zu spannen. Lukdan wies sie überdies darauf hin, dass die Durchschlagskraft der Pfeile in gleichem Maße zuzunehmen schien. Was für eine Waffe hatte sie sich damals in Turg bloß angeschafft?

Die beiden Magier hingegen zeigten sich gar nicht erfreut darüber, dass eine ihrer Echsen so scheinbar mühelos hatte vom Schiff gefegt werden können. Offenbar sahen sie es nun als ihre Pflicht an, dieser Sache auf den Grund zu gehen, denn sie lösten sich langsam aus ihrer Starre und gingen auf den Schauplatz des Geschehens zu. Einer der beiden hielt wenige Sekunden später wieder inne, als er einen Blick auf die Echse warf und den lädierten Schild erspähte. Sein Begleiter drehte sich zu ihm um und erkundigte sich nach dem Grund für das plötzliche Zögern. Der erste Magier machte nur eine undeutliche Handbewegung in Richtung der Echse, dann rief er die Kreatur, die soeben wieder das Kampfgeschehen ansteuerte, zurück. Auch der zweite Magier bemerkte nun den durchtrennten Drachenfels.

„Schicke nach dem Lord“, sagte der erste zu dem Wesen. „Und hole einen Sammler her. Wir haben interessanten Besuch bekommen.“

Die Gefährten waren indes von Bord gegangen und erreichten soeben den schwarzen Strand. An Deck des Schiffes rang noch immer ein Teil der Besatzung mit den echsenartigen Kriegern, allerdings vermochten sie ihre Kontrahenten nicht zu überwältigen und wurden einer nach dem anderen auf brutale Weise niedergeschlagen und mit Handschellen aus Drachenfels vollkommen handlungsunfähig gemacht. Der Rest der Besatzung, zu dem auch Sergost gehörte, kämpfte unterdessen an Land gegen die dort postierten Echsen oder versuchte, auf eines der umliegenden Schiffe zu gelangen. Ehe die Gefährten den vor ihren Augen stattfindenden Kampf überhaupt richtig überblicken konnten, sahen sie sich schon einem neuen Feind gegenüber. Einer der beiden Magier – ein unscheinbar wirkender Mann von durchschnittlichem Wuchs und einem neugierigen Ausdruck im Gesicht – erwartete sie bereits. Tado hätte gerne gewusst, warum ihr Gegenüber sich ausgerechnet ihnen zuwandte. Vom Ufer aus hatte er unmöglich sehen können, wer für den Zwischenfall mit der Echse verantwortlich war.

Lukdan und Tado ergriffen die Initiative und stellten sich dem Magier entgegen, noch bevor dieser seinerseits zum Angriff ausholen konnte. Ihr Kontrahent schien unbewaffnet zu sein, doch trug diese Tatsache eher zu ihrer Beunruhigung bei, denn es bedeutete im Allgemeinen, dass seine natürlichen Fähigkeiten umso beängstigender waren. Unterstrichen wurde diese Vermutung schon im nächsten Moment, als der Magier der Drachenklinge beinahe spielerisch mit einer halben Drehung auswich, als hätte er den Angriff schon seit Langem kommen sehen, und Tado stolperte ungeschickt an ihm vorbei. Lukdans Waffen wehrte er mit seiner rechten Hand, die ein metallener Handschuh schützte, ohne große Mühe ab, spannte seine Finger eine Sekunde lang krampfartig an, sodass der Mann aus Akhoum trotz seiner gewaltigen körperlichen Kräfte die Säbel nicht mehr aus dem Griff zu lösen vermochte, und stieß ihm anschließend seine zur Faust geballte und ebenfalls gepanzerte linke Hand in den Bauch. Wie von der Druckwelle einer Explosion erfasst, wurde Lukdan durch diesen einen Schlag mehrere Meter durch die Luft geschleudert, ehe er im seichten Wasser niederging und sich mühsam wieder auf die Beine erhob. Yala hatte in seiner Flugbahn gestanden und war ebenfalls umgerissen worden.

Der Magier drehte sich indes wieder zu Tado um. Er machte sich dieses Mal gar nicht erst die Mühe, der Drachenklinge auszuweichen: Sein eigener Angriff war schneller als das Schwert. Mit einer kaum sichtbaren Bewegung stieß er seinem Gegenüber die Faust vor die Brust, und so erhielt auch Tado einen schweren Schlag, der ihn an den rechten Rand des Strandes trieb, nahe der Stelle, an der das Steilufer begann. Fast hätte ihn noch im Flug ein Pfeil Spiffis durchbohrt: Der Bogenschütze hatte das Geschoss abgefeuert, als der Magier einen Moment lang mit dem Rücken zu ihm stand, und dennoch wich der Mann aus Telkor dem präzise gezielten Angriff geradezu beiläufig aus, ohne den Pfeil auch nur gesehen oder sich überhaupt zu Spiffi umgedreht zu haben.

Der zweite Magier war indes auf Sergost zugegangen. Dieser hatte sich mit einem Streitkolben bewaffnet (ein bisschen erinnerte diese Waffe an Regans Morgenstern, doch saß die stachelbesetzte Metallkugel dem Griff direkt auf und hing nicht an einer Eisenkette) und gab weiterhin eifrig Befehle, mit denen er das entstandene Chaos zu ordnen versuchte. Einige Besatzungsmitglieder schienen es tatsächlich geschafft zu haben, ein neues Schiff zu kapern, dafür waren allerdings sämtliche Krieger auf dem alten Boot mittlerweile von den Echsen überwältigt und vorerst gefangen genommen worden. Sergost bemerkte die nahende Gefahr erst sehr spät, wahrscheinlich, weil der in Braun gekleidete Mann, der, mit einem kaum fingerbreiten, aber gut zwei Meter langen Metallstab bewaffnet, zwischen all den hochgewachsenen Blauechsen ein wenig schmächtig wirkte. Einen richtigen Kampf gab es nicht: Sergost hieb seinem Kontrahenten mit einem lauten Kampfschrei den Streitkolben entgegen; der Magier blockte diesen Angriff mit dem zerbrechlich wirkenden Stab. Als beide Waffen aufeinandertrafen, begann der Streitkolben seine Form zu verlieren und ergoss sich als flüssiges Metall in den schwarzen Sand. Nur einen Augenblick später holte der Magier einen dunklen Klumpen Drachenfels hervor, warf ihn auf den entwaffneten Anführer, und noch während das unzerstörbare Material durch die Luft flog, verformte es sich durch die Magie des Mannes aus Telkor, wurde zu Handschellen und fesselte Sergost, der noch immer nicht begriff, was gerade geschehen war.

Die merkwürdige Kraft des anderen Magiers hatte derweil dafür gesorgt, dass sich die Gefährten nun relativ weit abseits vom Strand befanden, etwa fünfzig Meter von den anderen entfernt am steinigen Hang des Steilufers. Gegen ihr Gegenüber konnten sie nur wenig ausrichten, trotz ihrer großen Überzahl. Jeden Angriff, den sie planten, schien der Mann vorauszuahnen, und immer, wenn sie ihrerseits einen Schlag kassierten, raubte ihnen die Wucht seiner gepanzerten Faust fast die Sinne. Als Lukdan es endlich schaffte, den Magier für einen Moment in Schach zu halten und Spiffi seinen Bogen in tödlicher Nähe spannte, holte der Mann Telkors ein Stück Drachenfels hervor, und wie zuvor bei Sergost fesselte er die Hände des Bogenschützen. Ein paar Sekunden später traf Lukdan ein Schlag gegen die Schulter und er wurde den Hang des Steilufers hinaufgeschleudert. Als der Magier ein weiteres Stück Drachenfels hervorholte, warf sich ihm Tado in einem Akt der Verzweiflung entgegen und ließ die Drachenklinge mit einem vertikal geführten Schlag auf sein Gegenüber niederfahren. Dieser versuchte, die Attacke mit seinem Handschuh abzuwehren. In diesem Moment jedoch griff eine weitere Person in das Kampfgeschehen ein. Es war der Schutzzauber vom Lord des Feuers, der die Kraft des Magiers umkehrte und nun den Mann aus Telkor von den Füßen holte. Er stürzte den Hang des Steilufers hinab und landete unsanft im schwarzen Sand des Strandes. Zwar reichte dieser kleine Erfolg bei weitem nicht, um den Magier zu verletzen oder gar zu besiegen, doch er gab den Gefährten ein kleines Zeitfenster, in dem er sie aus den Augen verlor, sodass sie schnell Deckung hinter den hohen Felsen suchen konnten, die die Krone des Steilufers übersäten. Sie würden diesen Kampf nicht gewinnen können; ihre einzige Hoffnung bestand darin, irgendwie an ihrem Gegenüber vorbei zurück zu den Schiffen zu kommen. Tado wunderte sich ein wenig, dass der Lord des Feuers ihm geholfen hatte. Jetzt, wo sich das Schwert endlich in Telkor befand, gab es eigentlich keinen Grund mehr, ihn weiterhin zu beschützen.

Der Magier hatte sich inzwischen wieder erhoben. Er schien gar nicht darüber erfreut zu sein, dass die Gefährten sich seinen Blicken entzogen hatten. Er durfte sie unter keinen Umständen frei durch Telkor spazieren lassen, immerhin besaßen sie eine magische Waffe. Normalerweise hätte er deshalb sofort zur Verfolgung angesetzt, doch eine weitere Person betrat soeben das Schlachtfeld, und der andere Magier rief ihn zu sich heran.

Aus seiner Deckung heraus konnte Tado einen recht guten Blick auf den Neuankömmling werfen. Es handelte sich um einen Jungen. Wäre es ein Mensch gewesen, hätte er wohl um die zwölf Jahre alt sein müssen, aber da er nicht wusste, wie schnell Magier alterten, konnte er nicht sagen, ob seine Schätzung auch in diesem Fall zutraf.

Der Magier mit den metallenen Handschuhen (sein Name war, wie sich aus einigen in der kühlen Nachtluft zu den Gefährten herangetragenen Wortfetzen eines kurzen Gesprächs mit dem anderen Mann Telkors ergab, Parschald) traf derweil bei dem Jungen ein. Es handelte sich dabei um den Sammler, dessen Kommen er zuvor bei einem der Echsenkrieger veranlasst hatte. Parschald zeigte sich etwas unzufrieden darüber, dass man nur ein Kind gesandt hatte; aber natürlich wusste er, dass nahezu alle erwachsenen Sammler sich außerhalb Telkors befanden, insofern überraschte ihn diese Tatsache eigentlich nicht.

„Hättet ihr nicht warten können, bis der Kampf vorbei ist?“, fragte der Junge die beiden Magier, während sein Blick unablässig zu den Echsenkriegern und den wenigen noch verbliebenen Besatzungsmitgliedern abglitt. „Ich wäre nicht besonders glücklich über eine direkte Konfrontation mit einem dieser barbarischen Menschen.“

Seine Stimme klang irgendwie müde, was merkwürdig war, da Magier keinen Schlaf brauchten. Tado verstand trotz des günstig stehenden Windes, der das Gespräch in Teilen zu ihm herübertrug, nicht viel von dem, was der Junge sagte, weil er zudem noch ziemlich leise sprach und die Gefährten sich immerhin fast fünfzig Meter entfernt befanden.

„Traust du uns nicht zu, dich gegen ein paar Menschen zu verteidigen?“, fragte der Magier mit dem dünnen Metallstab ein wenig ungehalten. Sein Name lautete übrigens Gorson.

„Warum habt ihr mich gerufen?“, überging der Junge die Bemerkung.

„Vermutlich ist einer der Menschen, die mit diesem Schiff dort drüben hier gestrandet sind, im Besitz einer magischen Waffe“, antwortete Parschald. „Einer unserer Krieger wurde meterweit durch die Luft geschleudert.“

„Es gibt allein eintausendzweihundertvierundneunzig Telkor bekannte Waffen, die zu so etwas imstande wären; deine eigenen Handschuhe miteingeschlossen“, erwiderte der Junge etwas enttäuscht. „Das ist nichts, worüber man sich Sorgen machen müsste.“

„Ich habe aber noch nie von einem Bogen mit derartigen Kräften gehört“, sagte Gorson und hielt dem Kind einen Pfeil vor die Nase.

„Warum berührst du eine magische Waffe der Feinde, über die dir nichts bekannt ist? Willst du sterben?“, fragte der Junge ein wenig provozierend, riss dann allerdings seinem Gegenüber das Geschoss aus der Hand und betrachtete es etwas genauer. Gorson ignorierte seine Bemerkung.

„Möglicherweise ist es eine bisher unentdeckt gebliebene Waffe“, fuhr der Junge schließlich fort. „Oder aber sie besitzt keine magischen Kräfte und ist einfach nur sehr merkwürdig konstruiert. In jedem Fall lässt sich ohne den Bogen nichts Genaueres sagen. Der Pfeil jedenfalls ist nichts anderes als reines Metall.“

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Ein wenig überrascht registrierte Tado – sich noch immer in seiner Deckung verborgen haltend – dass die Magier sich offenbar uneinig waren, ob es sich bei Yalas Waffe um einen magischen Gegenstand handelte. Da der Bogen aus Turg stammte, hatte er diese Möglichkeit überhaupt nicht in Betracht gezogen.

Urplötzlich überkam ihn ein ungutes Gefühl. Es stand keineswegs im Zusammenhang mit den drei Magiern am Strand, es war vielmehr eine tief verwurzelte, fast schon vergessene Empfindung, die ihn jäh übermannte und eine unangenehme Hitze in ihm aufsteigen ließ.

„Wir müssen zurück zum Strand“, sagte Lukdan in diesem Moment. „Solange noch einige der Besatzungsmitglieder gegen die Echsen kämpfen, haben wir eine geringe Chance, unbemerkt auf das neue Schiff zu gelangen.“

Mit diesen Worten stand er auf; Yala tat es ihm gleich. Und Tado erinnerte sich schließlich, woher er das ungute Gefühl, dass seinen Körper belastete und ihm das Atmen schwermachte, bereits kannte. Geistesgegenwärtig sprang er auf und riss Yala zurück hinter den Felsen, im gleichen Augenblick warf Spiffi Lukdan zu Boden, noch ehe die Magier am Strand einen der Gefährten bemerken konnten.

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„War das der einzige Grund, aus dem ihr mich gerufen habt?“, fragte der Junge ein wenig verärgert.

Parschald schien das Verhalten seines viel jüngeren Gegenübers nicht gerade zu begeistern, aber er verzichtete auf eine entsprechende Bemerkung und beantwortete stattdessen die Frage des Kindes: „Natürlich nicht. Viel interessanter ist das dort.“

Er rief den Echsenkrieger zu sich, der vorhin gegen die Gefährten gekämpft hatte und ließ sich dessen Schild aushändigen. Mit einer überflüssigen Geste deutete er auf die abgetrennte Ecke und warf den Gegenstand anschließend vor die Füße des Jungen, der erschrocken einen Schritt zurückwich, um nicht unter dem fallenden Schild, der annähernd genauso groß war wie er selbst, begraben zu werden. Als er die beschädigte Stelle gewahrte, weiteten sich seine Augen und jede Müdigkeit verschwand aus seinem Gesicht.

„Ihr solltet eine höhere Autorität hinzuziehen“, sagte er zögernd. „Und alle Menschen dieses Schiffes, die ein Schwert bei sich tragen, unverzüglich töten.“

„Kein einziges Mitglied der erbärmlichen Besatzung führte eine solche Waffe“, erwiderte Gorson.

„Nur einer“, widersprach Parschald ein wenig geistesabwesend und blickte in Richtung des Steilufers.

„Sag mir nicht, du hast ihn entkommen lassen“, erwiderte der Junge mit fast verzweifeltem Blick.

„Was ist das Besondere an dem Schwert?“, überging er die mahnenden Worte seines Gegenübers. Noch bevor das Kind antworten konnte, drangen aufgeregte Rufe vom Schlachtfeld an ihre Ohren. Als sie sich zu den wenigen Kämpfenden umdrehten, hätten die Magier am liebsten angefangen zu weinen.

„Wie unfähig kann man eigentlich sein?!“, herrschte Gorson eine Gruppe von Echsenkriegern an, die nur tatenlos zusehen konnten, wie eines der Schiffe sich plötzlich aus Telkors Hafen entfernte. Er war nicht der einzige, der über den Vorfall in Rage geriet. Etwa sechs Mitglieder der Besatzung kämpften noch immer gegen die Echsen an Land und riefen fassungslos den zwei Dutzend Kriegern hinterher, die sie und die bereits gefangen genommenen Männer am Strand zurückließen.

„Zur Seite!“, schrie Gorson die machtlosen Kreaturen an, die zwischen ihm und dem sich entfernenden Schiff standen. Dann brachte er zwei der Schilde seiner Echsenkrieger an sich und schleuderte sie zusammen mit einigen Klumpen Drachenfels den Flüchtenden hinterher. Im Flug begann das Material sich zu verformen, wurde zu einem fast hundert Meter langen Stab, um dessen eines Ende sich die Hand des Magiers schloss, und an dessen anderem Ende sich ein großer Enterhaken bildete, der das Heck des Schiffes durchschlug und sich dort festklemmte. Die Kraft Gorsons reichte tatsächlich, um das Gefährt der Flüchtenden für einen Moment aufzuhalten, doch der Strandsand gab den Füßen des Magiers nur wenig Halt, und so begann er langsam auf das Meer zuzutreiben, ehe das Holz des Schiffes mit einem lauten Ächzen nachgab und der Enterhaken ein großes Stück des Hecks herausriss, die Weiterfahrt der Fliehenden allerdings nicht länger aufzuhalten vermochte.

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„Was macht ihr denn da?“, rief Lukdan ungehalten und befreite sich mit wenig Mühe aus Spiffis Griff.

„Spürt ihr es nicht?“, fragte der Bogenschütze mit fast panischer Stimme an ihn und Yala gewandt. „Dieses plötzliche, erdrückende Gefühl? Ich kenne es, ich habe es schon einmal gehabt!“

„Seit wir Telkor betreten haben, ist mir nicht mehr ganz wohl“, antwortete Yala. „Geht es dir erst jetzt so?“

„Das ist es nicht, was Spiffi meint“, erwiderte Tado. „Diese unsichtbare Schwere, das fast schon lähmende Gefühl, das seit unserer Ankunft auf unseren Körpern lastet, ist die Anwesenheit von Magie. Telkor muss so sehr davon erfüllt sein, dass sie nicht nur körperlich zu spüren ist, sondern uns regelrecht unsere Kräfte raubt.“

„Vor wenigen Augenblicken nahm das erdrückende Gefühl der Magie plötzlich zu“, führte Spiffi Tados Gedanken weiter. „Als hätte sich etwas Großes in Bewegung gesetzt. Es dauerte eine Weile, bis ich mich erinnerte, wo ich dieses Gefühl schon einmal durchlebt hatte.“

„Oh nein!“, unterbrach ihn Yala und deutete in Richtung Strand. Als die anderen ihrer Geste folgten, schwand auch der letzte Rest ihrer Hoffnung dahin, denn sie wurden in diesem Moment Zeuge, wie das Schiff, das ein Teil der Besatzung gekapert hatte, ins Meer hinaustrieb.

„Ich sage es nur ungern, denn es ändert nichts an unserer Situation, aber ihr hättet auf mich hören sollen“, meinte Lukdan verärgert.

„Nein“, erwiderte Tado. „Etwas sehr Mächtiges ist auf dem Weg hierher. Das Schiff wird Telkor nicht verlassen.“

Alle Besatzungsmitglieder, die am Ufer mit den Echsenkriegern gekämpft hatten, waren mittlerweile überwältigt und gefesselt worden. Dennoch zeigten sich die beiden Magier ganz und gar nicht zufrieden. In diesem Moment vernahmen sie Flügelschlagen. Der Himmel über ihnen verdunkelte sich unter den Schwingen eines Glutvogels. Das Tier landete auf dem festen Untergrund der Promenade, und eine vollständig verhüllte Gestalt von imposanter Statur sprang von seinem Rücken in den schwarzen Sand. Langsam ging sie auf die beiden Magier und den Sammler zu. Keiner der drei sagte etwas. Kleine Rinnsale strömten dem Neuankömmling vom Spülsaum her zu, als versuchte der Ozean selbst nach der mysteriösen Person zu greifen. Die gefangenen Besatzungsmitglieder blickten geradezu angsterfüllt in die Richtung der unheimlichen Gestalt, und einige von ihnen rangen ob der mächtigen Präsenz des Magiers nach Luft. Es war unschwer zu erraten, dass es sich hierbei um einen der Oberen Vier handelte.

„Ich hoffe, es gibt einen guten Grund für mein Kommen“, sagte er, ohne jedoch einen der Anwesenden auch nur eines Blickes zu würdigen.

„Menschen“, brachte Parschald schließlich hervor. „Sie kamen mit einem unserer Schiffe, wir haben sie überwältigt und gefangen genommen.“

Weiter wollte er offenbar nicht sprechen, denn alles, was er jetzt noch zu sagen hatte, war höchst unerfreulich.

„Einige konnten jedoch entkommen“, ergänzte Gorson zögerlich. „Sie eroberten eines der vor Anker liegenden Schiffe und sind–“

„Ihr seid nutzlos“, unterbrach ihn der Magier. Er steuerte auf das Ufer zu.

„Wenn die Entkommenen die Route weiterverfolgen, treiben sie auf eine Strömung zu, die sie direkt aus dem Meer Telkors herausbringt“, fügte Parschald noch hinzu, während er, Gorson und der Junge in einigen Schritten Abstand hinter dem Mitglied der Oberen Vier hinterhergingen.

„War das ein Versuch, mich über meine eigenen Gewässer zu belehren?“, empörte sich der mächtige Magier und ließ seinen Begleiter dessen Worte auf der Stelle bedauern. Dann blieb er abrupt stehen und streckte seinen Arm in Richtung des auf den Horizont zusteuernden Schiffes der Fliehenden aus. Langsam schloss er die Hand zur Faust. Das Wasser wurde unruhig. Wellen breiteten sich in alle Richtungen aus, ließen die vor Anker liegenden Boote bedenklich schaukeln. Fassungslos weiteten sich die Augen der Gefangenen am Strand, als sich der Ozean unter dem Schiff der Fliehenden emporzuwölben begann, zu einer gewaltigen Welle wurde und das riesige Gefährt einige Meter in die Höhe wuchtete. Schließlich setzte sie sich in Bewegung; zunächst nur langsam, dann immer schneller trieb die Welle das auf ihrer Krone thronende Schiff zurück zum Strand. Mit einem lauten Donnern krachte das Heck in den schwarzen Sand, und das Überbleibsel der Welle ging als feiner Sprühregen über die Krieger und die Magier nieder. Dünne Wassersäulen schossen aus dem seichten Küstengewässer empor, und wie einst die Donneraale stießen sie auf das Deck herab, schlangen sich um die Besatzungsmitglieder und rissen sie in die Höhe. In Anwesenheit des übermächtigen Unbekannten kannte das Wasser keine Gesetze. Wie ein Ungeheuer mit dutzenden Armen holte das Meer die vollkommen machtlose Besatzung von Bord und warf sie unter dem Kommando des Magiers an den Strand, wo sich sogleich die Echsenkrieger auf die zumeist unbewaffneten Menschen stürzten und sie gefangen nahmen. Einer der Männer schaffte es, sich einen Weg zu den Magiern zu bahnen. Mit einem lauten Kampfschrei wuchtete er seinen Speer in Richtung des Mitglieds der Oberen Vier. Gorson und Parschald verharrten regungslos. Ihr Anführer hielt die Waffe seines deutlich kleineren Gegenübers mit der linken Hand fest, während er mit einem einzigen Finger der rechten Hand die Stirn des Mannes berührte.

„Schweig“, sagte er. Der Krieger explodierte.

Dieser Zauber ließ die Gegenwehr aller verbliebenen Besatzungsmitglieder auf der Stelle ersterben. Der Blick des Magiers fiel indes auf den jungen Sammler, der sich, entsetzt über das viele Blut, das sich soeben über den Strand verteilt hatte, hinter Gorson versteckte.

„Was hat ein Sammler auf einem Schlachtfeld verloren?“, fragte er, jedoch nicht an den Jungen, sondern an seine beiden erwachsenen Begleiter gewandt, die daraufhin etwas betreten zu Boden sahen.

-

Fassungslos hatten die Gefährten die Geschehnisse unten am Strand beobachtet. Tado war außer sich vor Entsetzen. Er wusste, dass der Magier eine große Stärke besaß; das Gefühl, dass ihm seit dessen Ankunft beinahe den Atem raubte, kannte er bereits: Bei seiner ersten Begegnung mit dem Lord des Feuers hatte er Ähnliches verspürt, die Fähigkeiten dieses Wesens dort unten überstiegen seine schlimmsten Befürchtungen aber bei weitem.

„Was ist gerade passiert?“, fragte Yala, und ein leichtes Zittern begleitete ihre Stimme. „Er ist einfach verschwunden.“

Natürlich meinte sie damit den Krieger, dessen Körper vom Zauber des Magiers in winzige Stückchen zerfetzt worden war. Niemand antwortete ihr. Keiner der Gefährten brachte es zustande, in dieser Situation etwas zu erwidern. Nur eines stand fest: Wenn sie diesem Magier jemals gegenüberstehen sollten, wäre ihr Leben zu Ende.

„Wir sollten von hier verschwinden“, sagte Tado nach einer Weile. „Der Magier, der uns vorhin angegriffen hat, wird uns wahrscheinlich schon bald suchen.“

„Wohin sollen wir gehen?“, fragte Lukdan. „Wir befinden uns auf Telkor. Man wird uns überall sofort töten, sobald wir als Menschen entlarvt sind.“

Ihr Gespräch fand ein jähes Ende, als sie Schatten hinter ihrem Rücken gewahrten. Tado drehte sich um, und alles, was er sah, war eine tiefe Schwärze, die wie ein kühler Lufthauch in Mund und Nase strömte, ihn für ein paar Sekunden ein tief berauschendes Gefühl erleben ließ, ehe ihn eine Ohnmacht überkam.

-

„Was sollen wir mit der Besatzung tun?“, fragte Parschald das Mitglied der Oberen Vier.

„Bringt sie zum Lord der Erde“, sagte der Magier nach kurzem Überlegen. „Als Entschädigung dafür, dass ich vor Kurzem versehentlich ein paar seiner Kreaturen tötete, da ich annahm, sie würden Telkor angreifen.“

Mit diesen Worten drehte er sich um und steuerte auf den Glutvogel zu, doch der Sammler hielt ihn zurück.

„Über eine Sache würde ich euch noch ins Bild setzen wollen“, sagte der Junge leise. „Einer der Menschen führt eine Waffe bei sich, die es ihm erlaubt, Drachenfels zu schneiden.“

„Ich bin kein Sammler“, erwiderte der Magier und hielt einen Moment inne. „Drücke dich klarer aus.“

„Wenn ich mich nicht irre, dann handelt es sich dabei um die Drachenklinge“, fuhr der Junge fort.

Sein Gegenüber horchte auf.

„Wo ist die Waffe?“, fragte er auffordernd.

„Ihr Besitzer ist dem Schlachtfeld entkommen. Wahrscheinlich befindet er sich auf der Flucht“, antwortete der Sammler.

„Findet ihn“, sagte der Magier. „Tötet ihn und bringt mir das Schwert.“

* * *

Das gleiche berauschende Gefühl, dass seine Ohnmacht einläutete, ließ Tado wieder erwachen. Als er seine Augen öffnete, sah er zunächst nichts als tiefe Schwärze, die sich allmählich auflockerte und den Blick auf die Wirklichkeit wie einen langsam sich vervollständigenden Flickenteppich freigab. Er befand sich in einer Art Bucht, die auf allen Seiten von etwa zehn Meter hohen Felswänden umringt war, nur zur Rechten spannte sich das Gestein als dünner Bogen über eine große, halbrunde Öffnung, durch die das Meer sein Wasser an einen flachen, steinigen Strand im Innern der Bucht heranspülte und Tado sowohl den fernen Horizont als auch einen Teil des feuerroten Himmels erkennen konnte. Auf der ihm gegenüberliegenden Seite befanden sich ein paar große, natürliche Spalten und Durchlässe im Fels, die vermutlich in benachbarte, ähnlich aussehende Buchten führten. Insgesamt mochte dieser Ort einen Durchmesser von etwa fünfzig Metern haben.

Erst jetzt registrierte Tado die Lage, in der er sich befand: Er stand mit dem Rücken an einer sonderbar glatten Felswand, die Hände waren an das Gestein gefesselt. Seine Gefährten befanden sich links neben ihm, auf gleiche Weise handlungsunfähig gemacht. Auch sie schienen soeben aus einer Ohnmacht erwacht zu sein. Dann erst erblickte er diejenigen, die diese missliche Lage vermutlich zu verantworten hatten. Es handelte sich um zwei Frauen und einen Mann, alle etwa im gleichen Alter: Mitte dreißig, wenn es sich bei ihnen um Menschen gehandelt hätte. Dies jedoch konnte Tado mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen. Zum einen befanden sie sich auf Telkor und zum anderen konnte er ihre Präsenzen als undeutliches Gefühl wahrnehmen, so wie er einst die Anwesenheit des schwarzen Kriegers in Kors Oldroi gespürt hatte. Diese Tatsache überraschte ihn ein wenig: Am Strand, an dem sie gelandet waren, war die Magie allgegenwärtig gewesen, die Aura einzelner Personen hätte er dort niemals wahrnehmen können; hier jedoch, in dieser kleinen, recht friedlich anmutenden Bucht, fehlte das erdrückende Gefühl Telkors vollständig.

Gespannt betrachteten die drei Magier die Gefährten einige Sekunden, offensichtlich wollten sie mit ihnen sprechen, schienen sich aber noch nicht sicher zu sein, ob ihre Gegenüber tatsächlich wieder vollends bei Bewusstsein waren. Lukdans Versuch, sich mit brachialer Gewalt aus den Fesseln zu befreien, was allerdings keinen Erfolg hatte, ließ die drei Unbekannten ein wenig erleichtert aufatmen, und die Frau in der Mitte ergriff das Wort. Ihr ganzer Körper (mit Ausnahme des Kopfes und ihrer Unterarme) war in Gelb gehüllt, und zwar in ein derart grelles Gelb, dass man sie vermutlich noch aus zweihundert Metern durch das dichte Geäst eines finsteren Waldes in einer nebligen, mondlosen Nacht problemlos erkennen konnte. Überdies trug sie schwarze Handschuhe; das braune Haar reichte ihr nicht ganz bis zu den Schultern.

„Seid unbesorgt“, sagte sie mit überraschend freundlicher Stimme. „Niemand hier trachtet euch nach dem Leben. Ansonsten wäret ihr auch bereits tot.“

Der letzte Satz war so zwingend logisch, dass Tado sich ernsthaft fragte, ob er tatsächlich einer Magierin gegenüberstand, denn derart überflüssige Bemerkungen gehörten nicht unbedingt zu den Gewohnheiten Telkors.

„Warum dann die Fesseln?“, fragte Lukdan auffordernd und unfreundlich wie gewohnt. In diesem Fall war es ihm jedoch durchaus nachzusehen, immerhin gehörte Telkor zu ihren Feinden.

„Um euch vor übereilten Handlungen zu schützen… Und das offensichtlich nicht unbegründet“, antwortete der männliche Magier zur Rechten, einen misstrauischen Blick auf Lukdans noch immer angespannte Arme werfend. Er trug einen Hut, dessen geschwungene Krempe einen Schatten auf seine Augen warf. Seine übrige Kleidung hielt sich eher in Grautönen und schwankte auch schon mal ins Bräunliche; in jedem Fall wäre er, wenn er völlig regungslos verharrte, aus der Ferne wohl durchaus mit einem Felsen verwechselbar. Was Tado jedoch ein wenig überrascht zur Kenntnis nahm, war eine große Narbe, die sich von seiner linken, unbedeckten Schulter über die ganze Länge der Außenseite seines Arms bis zum Handgelenk hinzog. Sie glich den Verletzungen Progons und Yalas; mit anderen Worten stammte sie von Telkors Magie.

Lukdan wollte etwas erwidern, doch Yala kam ihm zuvor, ehe er tatsächlich noch den Zorn der drei Magier auf sich zog und sie ihre Worte revidierten.

„Warum habt ihr uns hierhergebracht?“, fragte sie, wobei sie versuchte, ihrer Stimme einen möglichst neutralen Klang zu geben, doch es war unüberhörbar, dass auch sie ihren Gegenübern nicht traute. „Ich meine, ihr seid doch diejenigen, die uns auf der Steilküste überwältigt haben, oder nicht?“

„Ja“, antwortete die Magierin zur Linken. Sie trug einen dunkelgrünen Umhang mit Kapuze, die zwar den Kopf bedeckte, ihr bleiches Gesicht allerdings nicht verhüllte. Ein bisschen erinnerte sie Tado an Nagoradra, nur mit dem Unterschied, dass ihr kein gefrorener Atem aus dem Mund entwich und sie im Allgemeinen weniger schaurig aussah. Die Gefährten und die beiden anderen Magier sahen sie gespannt an, denn sie erwarteten, die Frau würde das eine gesprochene Wort noch um ein paar Erklärungen oder Hintergründe erweitern. Das Gegenteil war jedoch der Fall: Der Magierin schien so viel Aufmerksamkeit unangenehm zu sein und sie wich den Blicken der anderen schüchtern aus.

„Wir haben das Geschehen am Strand aus der Ferne beobachtet“, unterbrach die Frau in Gelb das unangenehme Schweigen. „Als wir sahen, wie ihr gegen Parschald gekämpft habt und hinterher noch immer am Leben wart, beschlossen wir, euch zu retten.“

„Wovor retten?“, fragte Lukdan. „Wir waren der Gefahr bereits entronnen.“

Die Frau blickte ihn ein paar Sekunden lang an; sie sah aus, als fragte sie sich, ob die Ohnmacht sein Urteilsvermögen beeinträchtigt hatte.

„Der Magier, der das entflohene Schiff an den Strand zurückholte und einen der Männer mit einer einzigen Berührung vom Antlitz der Erde verschwinden ließ, ist der Lord des Wassers, einer der Oberen Vier, der mächtigsten Magier Telkors“, sagte sie mit ernster Stimme.

„In den unteren Kreisen Telkors nennt man ihn auch den Magier mit der Hand des Todes“, fügte der Mann mit dem Hut hinzu. „Niemand weiß, wie er es schafft, einen Körper mit nur einer einzigen Berührung explodieren zu lassen. Es ist jedoch bekannt, dass der Zauber bei allen Lebewesen gleichermaßen funktioniert, egal ob Tier, Mensch oder Magier. Wenn er euch in die Finger bekommen hätte (was wahrscheinlich schon nach wenigen Minuten der Fall gewesen wäre), würdet ihr euch wünschen, man hätte euch stattdessen lieber auf grausamste Weise gefoltert. Also haben wir euch ohne viel Aufsehen zu erregen außer Gefecht gesetzt, von der Küste weggeschafft und dem Lord gemeldet, ihr wäret im Kampf gegen uns gefallen.“

„Warum tut ihr so etwas?“, fragte Spiffi mit unbeabsichtigt entsetzter Stimme, als sei er schockiert, dass sie den Lord hintergingen. „Oder seid ihr keine Magier Telkors?“

„Natürlich sind wir das!“, empörte sich die Frau in Gelb. „Ansonsten hätten wir dem Lord wohl kaum unter die Augen treten können. Trotzdem war es nicht leicht, ihn mit eurem Tod zufriedenzustellen. Er sagte, dass einer von euch ein Schwert bei sich habe und er es unter allen Umständen in seinen Besitz bringen muss.“

„Ihr habt es ihm doch nicht etwa gegeben?!“, unterbrach Tado die Magierin entsetzt, als er mit panischem Herzklopfen feststellte, dass er die Drachenklinge nicht hatte verschwinden lassen, bevor er in Ohnmacht gefallen war. Er wusste nicht genau, warum er derart erschrocken reagierte, doch spürte er auch kein allzu großes Verlangen, zu erfahren, was passieren würde, wenn der Lord des Feuers und der Lord des Wassers zusammenkämen.

„Natürlich nicht“, entgegnete die Frau in Grün mit beleidigter Stimme, als hätte Tado sie gerade mit furchtbaren Worten beschimpft. Wieder warteten alle Anwesenden darauf, dass sie ihre Worte weiter erläuterte, und wieder schwieg sie nur betreten, als sie registrierte, dass alle Aufmerksamkeit nun ihr galt.

„Wir wissen zwar nicht, was genau es mit dem Schwert auf sich hat, aber da der Lord es in die Finger bekommen wollte, hielten wir es für besser, es vorerst selbst zu behalten“, versuchte die Frau in Gelb erneut, die von ihrer Begleiterin verursachte Stille zu durchbrechen. „Also erzählten wir ihm, dass wir keine derartige Waffe bei euch gefunden hätten. Dies ließ ihn dann zu der Annahme kommen, dass ihr das Schwert entweder irgendwo versteckt oder einem Komplizen überbracht habt, sodass er einen Suchtrupp entsandte, was unsere Situation zugegebenermaßen nicht unbedingt vereinfacht.“

„Was genau soll das bedeuten?“, fragte Lukdan ein wenig verwundert, denn die Worte der Magierin schienen ihn zu überraschen.

„Wir werden euch alles erklären“, erwiderte der Mann mit dem Hut. „Doch lasst uns dafür an einen geschützteren Ort gehen. Die Bucht hier lässt sich von oben zu leicht einsehen.“

Tado blickte nach links, wo in einigen Metern Entfernung steile Felswände in die Höhe ragten, auf deren Kamm ein paar niedrige, blattlose Bäume wuchsen.

„Wir werden eure Fesseln jetzt lösen“, sagte die Frau in Gelb. „Doch seid gewarnt: Wenn ihr versucht, uns anzugreifen oder davonzulaufen, werden wir nicht zögern, unsere Magie gegen euch einzusetzen.“

Tado hatte nichts dergleichen vor, denn es interessierte ihn sehr, warum die drei Magier sie so freundlich behandelten. Der Mann mit dem Hut streckte seine Hand aus. Die Fesseln, die die Gefährten bis zu diesem Moment nahezu bewegungsunfähig gemacht hatten, verschmolzen mit dem Felsen hinter ihnen und gaben ihre Arme frei. Die Magier bedeuteten den Gefährten, ihnen zu folgen. Gemeinsam begaben sie sich auf die gegenüberliegende Seite der Bucht, durchquerten eine große Spalte in der dortigen Felswand und gelangten an das flache Ufer eines gelblich schimmernden Gewässers, das sich weit über hundert Meter ins Landesinnere erstreckte, zu allen Seiten von hohen Felsen umgeben, die allesamt einem gemeinsamen Punkt irgendwo über ihnen zustrebten, jedoch nicht vollends erreichten, sodass ein kegelförmiges Dach mit einer unregelmäßig geformten Öffnung entstand, durch das nur wenige Strahlen des feuerroten Himmels in die Grotte hineindrangen. Was Tado zunächst als einen kleinen See interpretierte, entpuppte sich bei genauerem Hinsehen als ein Ausläufer des großen Meeres, das durch ein kleines Loch unterhalb der Wasseroberfläche in der Felswand zur Rechten mit dem Inneren der Grotte in Verbindung stand.

„Wie heißt dieser Ort?“, fragte Yala fasziniert.

„Telkor“, erwiderte die Frau in Gelb sichtlich verwirrt.

„Ich meine nicht die Insel“, sagte Yala stockend, denn die Worte der Magierin hatten sie wohl ein wenig durcheinandergebracht. „Ich rede von dieser Höhle hier.“

„Oh“, antwortete die Magierin mit entschuldigendem Blick. „Wir nennen sie die Lagune der Phantommagie. Die Geschichte hinter diesem Namen ist allerdings düster und unbehaglich. Vor vielen tausend Jahren, als Telkor noch jung war und sein Einfluss kaum weiter als die Grenzen dieser Insel reichte, lebte eine Magierin mit dem Namen Elluhkya unweit der südöstlichen Küste. Sie war zarten Alters, fast noch ein Kind, doch eine gewaltige magische Fähigkeit schlief tief in ihr: Die Kraft zu heilen. Ihre bloße Anwesenheit, das wärmende Gefühl ihrer Aura allein reichte aus, um auch die schwerste Verletzung in Sekundenschnelle zu kurieren. Mehr noch: Eine Berührung ihrer sanften Finger ließ das Leben erblühen und verlorene Kräfte wieder erstarken. Manche sagen sogar, sie vermochte selbst das Altern aufzuhalten. In jedem Fall waren derartige Kräfte den Magiern Telkors gänzlich unbekannt, und man begann sich über die Grenzen ihrer Fähigkeit Gedanken zu machen. Die magische Präsenz Elluhkyas wuchs jeden Tag, wurde schließlich derart mächtig, dass die Oberen Vier auf sie aufmerksam wurden. Sie boten ihr den Titel eines Lords an, wollten sie in ihren Rang erheben, und die Herrschaft über Telkor zu fünft führen. Es heißt, sie wären getrieben von der Vorstellung, die starke Magie der Heilung würde eines Tages dazu fähig sein, Tote wieder lebendig zu machen. Doch Elluhkya war nicht wie die meisten Magier Telkors. Ihr lag nichts an Einfluss und Macht. Sie schlug das Angebot der Oberen Vier aus und setzte ihr Leben an der Küste der Insel fort. In dieser Lagune hier verbrachte sie den größten Teil ihrer Zeit, sinnierte über das Leben und ließ ihre Kräfte wachsen, so, wie es die Magier damals zu tun pflegten. Eines Tages dann erschütterte ein heller Schrei die sonst so erhabene Stille Telkors, durchpflügte das Wasser des angrenzenden Ozeans, schäumte die hohen Wellen auf, durchdrang das feste Gestein der Steilküsten und ließ die ganze Insel erbeben. Eine Woge entfesselter Magie fegte über das Land hinweg und raubte all seinen Bewohnern für einen Moment die Sinne.

Einige Magier machten sich daraufhin auf den Weg zur Lagune, denn von dort war der Schrei erklungen, und als sie auf das ruhige, glitzernde Wasser blickten, sahen sie Elluhkya – tot. Ihr bleicher Körper trieb in der Mitte des kleinen Gewässers, übersät von unzähligen Wunden: Riesige, vernarbte Aufschürfungen und Hautrisse, wie sie nur durch die Magie Telkors entstehen können. In ihrer Stirn klaffte ein Loch; dessen Ränder waren verbrannt. Bis heute weiß niemand, wer hinter der Gräueltat steckte oder warum er es tat, doch der grausame Tod Elluhkyas raubte diesem Ort seine Magie für immer, und so wurde er zur Lagune der Phantommagie, dem einzigen nichtmagischen Platz in ganz Telkor.“

Dies erklärte zumindest, warum das unbehagliche Gefühl der Präsenz von Magie sowohl hier als auch in der Bucht von eben fehlte. Nach diesen Worten behagte Tado der Ort jedoch nicht mehr ganz so sehr wie noch vor wenigen Augenblicken.

„Ich verstehe das nicht“, kommentierte Spiffi die Geschichte nach kurzem Überlegen. „Wenn sie so eine große Kraft besaß, warum war sie dann nicht in der Lage, sich selbst zu heilen?“

„Das ist in der Tat eine sehr bittere Ironie“, erwiderte der Mann mit dem Hut. „Jeden anderen hätten ihre Fähigkeiten retten können, nur sich selbst vermochte sie nicht vor dem Tod zu beschützen. Selbst die Oberen Vier waren regelrecht erschüttert über diese Erkenntnis. Hätten sie über diesen Umstand vorher Bescheid gewusst, hätten sie sie vermutlich unter ihren persönlichen Schutz gestellt.“

Tado konnte sich lebhaft vorstellen, wie der Lord des Feuers getobt haben musste, als er davon erfuhr – vorausgesetzt, er lebte zu dieser Zeit überhaupt schon.

In der Lagune hielten sich außer den Gefährten und den drei Magiern, die sie anführten und in diesem Moment eine kleine Nische in der Felswand zur Linken ansteuerten, noch andere Personen auf, die ihnen aber keine große Beachtung schenkten. Tado bezweifelte, dass es sich dabei ebenfalls um Magier handelte; sicher war er sich aber nicht.

Während sie recht gemächlichen Schrittes durch die Lagune der Phantommagie wanderten, erkundigten sich ihre drei Retter schließlich nach den Namen der Gefährten und teilten ihnen im Gegenzug die Ihrigen mit: Die Frau in Gelb, die ihnen in diesem Augenblick bedeutete, auf einigen unmittelbar im Schatten einer steilen, zerklüfteten Felswand befindlichen, wenig Vertrauen erweckend aussehenden Säcken Platz zu nehmen, hieß Lillyopha. Der Mann mit dem Hut, der den Gefährten auf ihre misstrauischen Blicke hin erklärte, dass sich in den Säcken nur getrocknete Blätter einer im Norden Telkors häufigen Pflanze mit angeblich heilender Wirkung befanden, nannte sich Crius. Der Name der Frau in Grün, die die ganze Szenerie nur schweigend beobachtete und schließlich als erste völlig lautlos Platz nahm, war Juphien.

„Ich hätte nie gedacht, dass es auf Telkor tatsächlich Magier gibt, die nicht den Wunsch hegen, die Herrschaft über die Welt an sich zu reißen“, sagte Tado, während er sich setzte. Die getrockneten Blätter gaben unter leisem Knistern nach.

„Wie es scheint, habt ihr schon zuvor Bekanntschaft mit Magiern dieser Insel gemacht“, antwortete Crius und warf seinen beiden Begleiterinnen einen triumphierenden Blick zu, als hätte er irgendeine Wette gewonnen. „Oder aber Telkors schlechter Ruf eilt seinem Einflussbereich voraus.“

„Ich würde keines von beidem verneinen“, warf Lukdan ein wenig sarkastisch ein.

„Es ist wahr, dass die meisten Magier Telkors die Unterwerfung der Welt anstreben“, bestätigte Lillyopha. „Und dennoch gibt es auch hier, inmitten der Heimat des Bösen, eine kleine Gruppe – kaum mehr als einhundert Mitglieder – die sich dem Vorhaben der Oberen Vier widersetzt. Das sind wir.“

Einen Moment lang herrschte Stille.

„Wir haben euch von Elluhkya erzählt“, fuhr Crius fort, als keiner der anderen dazu ansetzte, etwas auf die Worte Lillyophas zu erwidern. „Und genau wie sie sehnt sich auch keiner der Magier unserer kleinen Gruppe nach Macht oder der Unterwerfung der Menschen. So wie es einst niemand der heutigen Bewohner Telkors tat.“

Diese Worte überraschten nicht nur Tado. Die Aussage schien jeden der Gefährten zu verwirren.

„Was genau hat das zu bedeuten?“, fragte Lukdan vorsichtig.

„Es liegt an der Zitadelle“, sagte Juphien aus heiterem Himmel. Sie saß in einer derart dunklen Ecke, dass das plötzliche Ertönen ihrer Stimme aus der tiefen Finsternis heraus alle Anwesenden zutiefst erschreckte und die Magierin augenblicklich wieder verstummte.

„Wie es scheint, müssen wir euch zunächst das eine oder andere über Telkors Geschichte erzählen“, sagte Lillyopha schließlich. „Viele der Magier auf dieser Insel sind älter als Telkor selbst. So lebte unser Volk einst in der Nähe Fallashalds, in einer großen Stadt am Rand des Meeres unweit der Siedlungen der Menschen. Dort führten wir ein friedliches und langes Leben, und nichts ließ die schrecklichen Geschehnisse erahnen, die sich bald darauf ereignen sollten. Alles begann damit, dass die Oberen Vier, die bereits damals über uns herrschten, den Beschluss fassten, unser Volk umzusiedeln. Fallashald war ein schönes Land, doch arm an magischen Orten, und die Kräfte eines Magiers beginnen zu schwinden, sofern er sich an keinem dieser besonderen Plätze aufhält. Um zu verhindern, dass unsere Fähigkeiten mit zunehmendem Alter immer weiter abnehmen würden, wollten sie das gesamte Volk der Magier an einen einzigen, großen, magischen Ort bringen. Ein derartiges Gebiet jedoch existierte nirgendwo, und so entschieden die Oberen Vier, eine eigene Insel zu erschaffen, an der ihre Magie niemals verloren gehen würde. Sie erkoren das stürmische Meer der Donneraale als geeigneten Ort aus und machten sich schon bald darauf an die Arbeit: Der Lord der Erde erhob den Grund des Ozeans an die Wasseroberfläche, formte ihn nach seinen Vorstellungen, ließ Berge wachsen und hob Flussläufe aus. Doch die See rings um das neue Land war tückisch, überschwemmte die junge Insel und machte einen großen Teil seiner Arbeit stets wieder zunichte. So bändigte der Lord des Wassers die Wellen und erschuf das stille Meer, das Telkor heute umgibt. Die ersten Magier siedelten nun auf das neue Land über, errichteten die ersten Gebäude und setzten Pflanzen. Unmut begleitete den Neuanfang jedoch, denn obwohl die Wogen des Ozeans geglättet waren, tobten noch immer heftige Stürme über das Land, schließlich befand sich die Insel inmitten des Meeres der Donneraale. Daher nutzte der Lord des Windes seine Kraft, um die Wolken vom Himmel zu stoßen und jegliches Unwetter zu vertreiben, sodass Telkor in diesen Tagen nur selten von einem Gewitter heimgesucht wird und keine Wirbelstürme den Boden umwälzen. Doch kaum war eine Schwierigkeit gebannt, wurden die Magier vor das nächste Problem gestellt: Gewaltige Beben erschütterten die Insel, ließen viele der Gebäude einstürzen und Teile des Volkes wieder zurück nach Fallashald gehen. So musste auch der Lord der Erde einen Schutzzauber wirken und zwang den Boden mit unbarmherziger Gewalt zur Ruhe. Begeistert von der Schönheit der damals noch grünen Insel, siedelten nun sämtliche Magier hinüber auf das neue Land, das unter dem steten Zauber der Oberen Vier sich langsam zum magischen Ort entwickelte. Niemand ahnte zu diesem Zeitpunkt, dass ihnen die größte Katastrophe noch bevorstand. So hatte der Lord der Erde die Beben zwar bezwungen, doch keiner der Magier forschte je nach deren eigentlicher Ursache. Eines schönen Tages dann durchfuhr das Land ein schwerer Schlag: Der Boden brach auf, ein gewaltiger Spalt zog sich durch die neue Heimat der Magier, und in einer ungeheuren Explosion, die die halbe Insel in Stücke riss, spie die Erde Feuer und Asche, ließ flüssiges Gestein über die jungen Städte herabregnen und verwüstete sie. Viele Magier starben. Es bedurfte der Kraft des Lords des Feuers, um der Katastrophe Herr zu werden; mit gewaltigen Zaubern stieß er die zerstörerische Glut hinab in die Tiefen der Erde, und so liegt seit diesem Tag auch seine Magie als schützender Schild über Telkor.

Der Wiederaufbau dauerte einige Zeit, und es regten sich aufrührerische Stimmen unter der Bevölkerung, kritisierten die Führung der Oberen Vier und stifteten Unruhe. Noch wagte jedoch niemand, sich den mächtigsten Magiern der Welt entgegenzustellen. Diese arbeiteten in der Zwischenzeit an einem gänzlich anderen Plan: Um die Schutzzauber aufrecht zu erhalten, bedurfte es großer Mengen an Magie – zu großer Mengen, um sie von der Ferne aus bereitzustellen. Dies führte dazu, dass die Oberen Vier an die Insel gebunden waren; wenn sie sie verließen, würden ihre Zauber zusammenbrechen. Daher begannen sie mit dem Bau eines gigantischen Gebäudes direkt im Zentrum des neuen Landes: Der Zitadelle. Sie wurde zum Sinnbild ihrer Macht und ziert das Wappen Telkors; als riesiger Turm ragt sie hinauf in den Himmel, bis an die Unterkante der Wolken. An dieses Bauwerk banden sie ihre Schutzzauber, sie ist es, die diese Insel zusammenhält.

Die Errichtung nahm sehr viel Zeit in Anspruch, und die Aufstände des Volkes wurden zahlreicher, lange bevor die Oberen Vier die Zitadelle vollendeten. Verantwortlich dafür war ein einzelner Mann, ein finsterer, machtbesessener Magier, dessen Namen niemand kennt; er stachelte die Bevölkerung zum Widerstand gegen die Lords auf und scharte mächtige Verbündete um sich. Als die Zitadelle dann bereits mehrere hundert Meter in die Höhe ragte, kam es zum unvermeidbaren Kampf zwischen den aufständischen Truppen und den Armeen der Oberen Vier. In einer vier Tage dauernden Schlacht konnten die Lords ihre Widersacher schließlich bezwingen; sie vernichteten die Aufständischen restlos, nur der namenlose Anführer entkam ihrem Zorn und versteckte sich irgendwo in den noch unbesiedelten Gebieten der Insel, und da seine magische Präsenz durch den erbitterten Kampf stark geschwächt worden war und das Land in dieser Zeit von großen Mengen Magie geflutet wurde, um es in einen magischen Ort zu verwandeln, vermochten es die Oberen Vier nicht, seine Aura aufzuspüren. So ließen sie ihn vorerst davonkommen und wandten sich wieder dem Bau der Zitadelle zu. Viele Jahre gingen ins Land, ehe sie das Gebäude schließlich vollendeten. Was dann geschah, ist uns bis heute ein Rätsel. Noch am Tag der Fertigstellung der Zitadelle erklärten die Oberen Vier die Unterwerfung der gesamten Welt als das höchste Ziel der Magier. Von nun an trug diese Insel hier den Namen Telkor und die Geschichte nahm ihren Lauf. Nach und nach verfielen die Magier den Worten der Lords und innerhalb weniger Tage verwandelte sich das einst friedliche Volk in ein machtbesessenes Etwas, ein Konstrukt der Zerstörung. Ebenso furchtbar war die Erkenntnis, dass jene Magier, die dem Bösen verfielen, all ihre Erinnerungen an die zurückliegende Zeit verloren – bis zu dem Tag, an dem die Zitadelle vollendet wurde. Unser heutiges Wissen über die Geschehnisse vor der Errichtung des Bauwerks stammt daher ausschließlich von einer einzigen Person: Einem alten, schwachen, kaum zu irgendeiner nützlichen Magie befähigten Magier, der die Übersiedlung nach Telkor miterlebt hatte und sich dem Einfluss der Oberen Vier entziehen konnte. Doch vor einigen Jahren raffte ihn sein hohes Alter dahin, und so gibt es nun in ganz Telkor keinen einzigen Augenzeugen mehr, der über die Ereignisse von damals noch Bescheid weiß. All die Magier, die ihr hier seht, uns drei miteingeschlossen, sind erst wenige tausend Jahre alt und somit nach der Gründung Telkors geboren.“

Tado wünschte, der Lord des Feuers hätte diese Geschichte gehört. Soweit er nämlich wusste, war der Magier noch immer auf der Suche nach seinen Erinnerungen an die Jahre, bevor er dem Bösen verfiel, und die Worte Lillyophas würden ihm vielleicht dabei helfen. Andererseits traute Tado sich nicht, in dieser Situation Gebrauch von der Goblinmagie zu machen und die Drachenklinge herbeizurufen. Wer wusste schon, wie die Magier hier reagieren würden?

„Wie kommt es, dass ihr von der Machtbesessenheit der anderen nicht betroffen seid?“, fragte er stattdessen seine Gegenüber.

„Wir wissen es selbst nicht“, antwortete Crius. „Jeder Magier wird frei von jedwedem bösen Gedanken geboren. Der Wille nach Herrschaft ergreift stets erst im Laufe ihres Lebens von ihnen Besitz. Manche verfallen ihm früher, andere später.“

„Soll das heißen, ihr könntet jederzeit dem Bösen verfallen und uns im nächsten Augenblick töten?“, fragte Spiffi entgeistert.

„Nein“, erwiderte Juphien schnell. Sie wollte ihre Worte noch weiter ausführen, überlegte es sich dann jedoch anders und wandte ihren Blick ab.

„Zumindest vermuten wir das“, vervollständigte Lillyopha Juphiens Einwand. „Sicher sind wir uns nicht. Doch wir halten uns von der Zitadelle fern, soweit es geht, und bisher ist kein Mitglied unserer Gruppe dem Bösen verfallen.“

„Was ist eigentlich mit dem namenlosen Magier passiert, der den Aufstand gegen die Oberen Vier angeführt hat?“, fragte Yala neugierig. „Wurde er auch von der Machtbesessenheit der anderen erfüllt oder hegt er noch immer einen Groll gegen die Lords?“

„Weder noch“, antwortete Crius. „Nachdem er einige Jahre im Verborgenen gelebt hatte, muss er dem Wahnsinn verfallen sein; eines Tages erschien er plötzlich vor den Oberen Vier und forderte sie erneut zum Kampf heraus, um die Herrschaft über die Insel an sich zu reißen, diesmal auf dem einsamen Gipfel eines Berges im Westen. Er allein gegen die Lords – die Auseinandersetzung dauerte nur wenige Minuten, danach kehrten die Oberen Vier siegreich zurück. Von dem namenlosen Magier fehlte jede Spur. All dies ereignete sich unmittelbar vor der Fertigstellung der Zitadelle, also bevor Telkor seinen Namen erhielt und sich dem Bösen verschrieb.“

„Aber wenn die Oberen Vier derart brutal gegen ihre Widersacher vorgehen“, meldete sich Tado zu Wort. „Wie kann eine Gruppe wie die eure überhaupt existieren?“

„Es kostet uns große Mühe, unsere Tarnung aufrecht zu erhalten“, antwortete Lillyopha. „Die anderen Magier wissen, dass es uns gibt, dass einige unter ihresgleichen die Pläne Telkors zu sabotieren versuchen. Bisher haben wir es geschafft, unsere Identitäten vor ihnen geheim zu halten; es ist auch einer der Gründe, warum wir uns ausgerechnet am Ufer der Lagune aufhalten: Da es ein nichtmagischer Ort ist, wird er von den anderen stets gemieden und wir können unser Vorgehen relativ unbehelligt planen. Es gibt auf der Insel noch weitere Verstecke, aber keines ist so sicher und so weit von der Zitadelle entfernt wie dieses hier.“

„Was genau befindet sich eigentlich in dieser Zitadelle?“, wollte Yala wissen. „Ich meine, irgendetwas dort muss doch für den Sinneswandel der Magier verantwortlich sein.“

„Genau das versuchen wir schon seit langem herauszufinden“, erwiderte Crius. „Noch arbeiten wir an einem Plan, unbemerkt in die Zitadelle zu gelangen und möglichst lebendig wieder herauszukommen.“

„Ist das Gebäude wirklich so stark bewacht?“, fragte Lukdan zweifelnd. „Im Grunde genommen haben die Oberen Vier ja nicht wirklich etwas zu befürchten: Andere Länder wagen sich nicht hierher und falls ihnen Widerstand aus den eigenen Reihen droht, können sie sich sicher sein, dass die Zitadelle unangetastet bleibt, da sie zum Schutz Telkors unerlässlich ist.“

„Das stimmt“, antwortete Juphien.

„Um genau zu sein, ist sie derzeit sogar gänzlich unbewacht“, fuhr Lillyopha fort, ohne abzuwarten, ob sich die Magierin in Grün diesmal dazu entscheiden würde, von sich aus weiterzusprechen; Juphien blickte beleidigt zu ihr hinüber. „Das war jedoch nicht immer so. Vor wenigen Jahren noch hielten stets ein bis zwei Magier vor ihren Toren Wache und sorgten dafür, dass keine Unbefugten Zutritt zur Zitadelle erhielten. Das Gebäude beherbergt nämlich nicht nur die Schutzzauber der Lords; auch sämtliche magischen Waffen und andere gefährliche Gegenstände, die die Sammler Telkors aufspüren, werden dort aufbewahrt. Außerdem halten die Oberen Vier in seinem Innern geheime Besprechungen ab und man wollte vermeiden, dass ungebetene Gäste ihre Pläne mitanhörten. Eines Tages jedoch, als ein riesiger Tisch aus Marmor in die Zitadelle geschafft werden sollte, ereignete sich ein unvorhersehbares Missgeschick. Das Möbelstück war so schwer, dass die beiden Wachen vor dem Tor den Magiern, die es bis zur Zitadelle geschleppt hatten, zur Hand gehen mussten, um es durch das Eingangstor zu hieven. Dabei schafften es drei junge Magierinnen, sich unbemerkt ins Innere des für wenige Minuten unbewachten Gebäudes zu schleichen. Keiner weiß heute, was genau sie dort wollten, aber man sagt, sie hätten einen der Lagerräume mit magischen Waffen aufgesucht, wobei sie versehentlich in einen Zauber des Lords des Feuers mithineingezogen wurden. Sie verschwanden spurlos.“

Tado wusste, um wen es sich dabei handelte, und es erklärte auch, woher sie all die magischen Waffen hatten, wo es doch derartige Gegenstände in Gordonien gar nicht gab.

„Was genau war das für ein Tisch, den die Magier in die Zitadelle gebracht haben?“, erkundigte sich Spiffi. „Hatte er irgendeine besondere Fähigkeit?“

„Nein“, antwortete Crius und sah den Bogenschützen verwirrt an. „Der Lord des Wassers wollte mit dem Tisch den Versammlungsraum der Oberen Vier dekorieren. Jedenfalls blieb dieser Vorfall nicht ohne Folgen. Man entschied sich, eine magische Barriere vor der Zitadelle zu errichten, die alle Unbefugten aussperren sollte. Ein solcher Zauber, der nicht nur Magie, sondern auch jedes Lebewesen aufhält, ist unglaublich schwierig auszuführen, und von all den Magiern Telkors war nur der Lord der Erde dazu in der Lage. Seither sind keine Wachen mehr vonnöten, denn außer den Sammlern, einigen höher gestellten Magiern und den Oberen Vier ist es niemandem mehr möglich, in die Zitadelle einzudringen. Daher konzentriert sich unser derzeitiger Plan hauptsächlich darauf, eine Möglichkeit zu finden, den Lord der Erde zu vernichten.“

Wäre es nicht ein Magier gewesen, der diese Worte gerade so selbstverständlich ausgesprochen hatte, hätte Tado jetzt laut aufgelacht. So gab er sich mit dem Versuch zufrieden, den Grund für Crius‘ Wahnsinn zu erfahren: „Gibt es denn keine andere Möglichkeit, die Barriere aufzuheben? Ihr müsstet doch am besten wissen, wozu die Oberen Vier fähig sind.“

„Ja“, antwortete Juphien und beeilte sich diesmal, ihrem einen Wort noch etwas hinzuzufügen, ehe Lillyopha sie wieder unterbrechen konnte, wenngleich es ihr sichtliches Unbehagen bereitete, vor den Gefährten zu sprechen und ihre Stimme sehr leise blieb. „Natürlich wissen wir um ihre Stärke. Aber um seinen Zauber zu brechen, müssten wir schon Magie von ebenbürtiger Stärke aufbringen. Und das ist, naja…“

„Gibt es nicht irgendeinen magischen Gegenstand, der dazu in der Lage wäre?“, fragte Yala, nachdem Juphien nicht mehr weitersprach. „Wie zum Beispiel das mysteriöse Schwert, das der Lord des Wassers unbedingt haben wollte und das einer von uns angeblich bei sich trug?“

Sie warf Tado bei diesen Worten einen unauffälligen Blick zu. Er hieß es nicht gut, wie sie über seine Waffe dachte, wo diese ihnen doch schon so oft das Leben gerettet hatte. Zugleich fand er es allerdings auf eine merkwürdige Weise erschreckend und interessant zugleich, dass sie mit ihrer Vermutung richtiglag. Wahrscheinlich wäre die Drachenklinge tatsächlich dazu imstande, die Barriere zu brechen, dies würde aber auch den Lord des Feuers töten, und er war noch nicht bereit, ihn für ein derartiges Vorhaben zu opfern. Zumindest nicht, bevor er noch einmal mit ihm gesprochen hatte.

„Das bezweifle ich“, antwortete Lillyopha. „Wir haben zwar keinen Sammler in unserer Gruppe und konnten das Schwert daher keiner eingehenden Untersuchung unterziehen, aber es schien nichts Außergewöhnliches an sich zu haben. Die einzigen Waffen, die es mit einem derartigen Zauber aufnehmen könnten, sind die sechs legendären Magiebrecher, doch als die Oberen Vier die Zitadelle errichteten, hat man sie allesamt zerstört, denn sie wurden zu gefährlich für das junge Telkor.“

Offenbar war man dabei nicht besonders gründlich vorgegangen, dachte Tado, denn er erinnerte sich noch gut an das gewaltige magiebrechende Schwert des schwarzen Riesen, der die Gefährten in Uris‘ Namen fast getötet hatte.

„Selbst wenn es irgendwo doch noch einen Gegenstand gibt, der die Macht der Oberen Vier brechen kann, dann würde er sich wohl am ehesten in der Zitadelle befinden“, ergänzte Crius.

„Ihr habt nicht zufällig ein paar ordane Schilde bei euch?“, wollte Lukdan wissen.

„Warum sollten wir?!“, fragte Juphien entsetzt. „Ordan schwächt Magie!“

„Das habe ich anders in Erinnerung“, konterte er.

„Wenn du meinst, dass wir mit Ordan den Zauber des Lords überwinden sollen; das wird nicht funktionieren“, überging Lillyopha seine Bemerkung. „Die Barriere ist dafür zu stark. Das Ordan würde sofort verglühen.“

„Bevor wir unfreiwillig nach Telkor kamen, trafen wir eine Magierin von eurer Insel, die ihre magische Kraft durch Ordan verstärken konnte“, nahm Yala Lukdan in Schutz. „Ihr Name war Uris.“

Die drei Magier wechselten einige Blicke untereinander.

„Was ihr da sagt, ist ein wenig schwer zu glauben“, meinte Crius schließlich. „Die letzte Telkor bekannte Person, deren Magie sich durch Ordan verstärken ließ, soll Elluhkya gewesen sein. Aber selbst wenn es stimmt; keiner in unserer Gruppe besitzt derartige Kräfte.“

„Gibt es denn wirklich nur diesen einen Weg in die Zitadelle?“, fragte Tado, denn er hatte sich noch immer nicht mit dem Gedanken angefreundet, von Magiern umgeben zu sein, die einem der Oberen Vier nach dem Leben trachteten.

„Ja“, antwortete Lillyopha. „Die Zitadelle ist ein massives Konstrukt aus Drachenfels ohne Fenster und Türen, abgesehen von dem Eingangstor, das, wie schon erwähnt, mit einer Barriere versehen ist.“

„Wenn ich mich richtig erinnere, ist Drachenfels mithilfe von Magie verformbar“, wandte Spiffi ein. Erst in diesem Moment schien er zu bemerken, dass die Handschellen aus jenem Material, die Parschald ihm angelegt hatte, verschwunden waren. „Ihr könntet euch einfach selbst einen Eingang schaffen.“

„Dafür, dass ihr nur Menschen seid, ist euer Wissen recht beeindruckend“, sagte Crius anerkennend. Tado störte sich nicht weiter an den Worten des Magiers; er war durch den Lord des Feuers schlimmere Abwertungen gewohnt, Lukdan schien die Wortwahl jedoch gar nicht zu gefallen. „So einfach ist es aber leider nicht. Die Zitadelle wurde von den Oberen Vier erbaut; es ist ihre Magie, die das Gebäude zusammenhält. Der Drachenfels ist unantastbar, solange nicht ein Magier geboren wird, dessen Fähigkeiten die vereinte Kraft aller Lords übertrifft.“

Dies schien Tado ein guter Kompromiss zu sein. Wäre er in der Position der Magier gewesen, hätte er sich vermutlich für das Warten auf jene Geburt entschieden. Glücklicherweise hatte er mit der ganzen Sache jedoch nichts zu tun. Nie wieder würde er sich freiwillig einem Mitglied der Oberen Vier entgegenstellen.

„Wie es scheint, habt ihr also tatsächlich keine andere Wahl, als an eurem Plan festzuhalten“, stellte Lukdan fest. „Die Frage, die mich aber am meisten beschäftigt, ist: Was haben wir als Menschen damit zu tun? Aus welchem Grund erzählt ihr uns das alles?“

„Wir erzählen es euch, gerade weil wir einen Kampf mit dem Lord der Erde planen“, antwortete Lillyopha. „Wie wir euch bereits sagten, haben wir euch an der Küste beobachtet. Nun war es weder die Auseinandersetzung mit Parschald noch die vom Schiff geflogene Blauechse, die unser Interesse weckten. Es war jener Moment, in dem die Präsenz des Lords spürbar wurde und ihr euch fast panisch wieder in Deckung brachtet. Nur jemand, der schon einmal einem der Oberen Vier gegenüberstand, hätte so gehandelt. Und da ihr trotz dieser Begegnung noch immer am Leben seid, dachten wir, ihr könntet uns vielleicht etwas mehr über die Lords erzählen. Immerhin sind mehrere Jahre vergangen, seit einer von ihnen das letzte Mal für kurze Zeit auf Telkor weilte.“

„Es war außerdem der einzige Grund, warum wir euch überhaupt vor dem Lord des Wassers gerettet haben“, fügte Crius hinzu. „Und wir wären sehr unglücklich, wenn wir uns in euch getäuscht haben sollten.“

„Aber es ist wahr“, sagte Spiffi geradeheraus, noch ehe Tado Zeit hatte, sich irgendetwas Besseres einfallen zu lassen. „Vor etwa einem Monat kämpften zwei von uns gegen den Lord des Feuers.“

„Wie seid ihr entkommen?“, fragte Juphien gespannt.

„Gar nicht“, erwiderte der Bogenschütze mit leichtem Stolz. „Wir haben ihn vernichtet.“

Die Magier starrten ihn fassungslos an. So unwohl es Tado auch war, dass seine Gegenüber nun über diese Tatsache Bescheid wussten, so konnte er dennoch ein flüchtiges Schmunzeln nicht unterdrücken, als er den entsetzten Ausdruck in ihren Gesichtern gewahrte.

„Das ist kein guter Witz“, sagte Crius schließlich. „Ihr habt euch vorhin kaum gegen einen mittelklassigen Magier wie Parschald behaupten können; wie soll es euch da gelungen sein, ein Mitglied der Oberen Vier zu besiegen?“

Wenn es nach dem Lord des Feuers ginge, dann spielte unverschämtes Glück eine nicht unwesentliche Rolle in dieser Angelegenheit.

„Wir hatten Hilfe“, antwortete Tado, ehe Spiffi noch mehr von ihren vergangenen Taten schwärmen und ihre Geschichte noch unglaubwürdiger erscheinen lassen konnte, als sie es ohnehin schon war. „Um genau zu sein, kämpften wir zu fünft, bedienten uns eines mächtigen magischen Gegenstands und brachten unsere körperliche Kraft durch den Verzehr silberner Äpfel vorübergehend auf ein übermenschliches Niveau.“

„Eure Verbündeten müssen sehr mächtig gewesen sein“, befand Crius. „Der Lord des Feuers würde selbst gegen einhundert Menschen nicht verlieren.“

„Trotzdem könnten ihre Worte einen Funken Wahrheit enthalten“, überlegte Lillyopha. „Es würde zumindest erklären, warum der Lord des Feuers bei der Rückkehr der Oberen Vier nach Telkor fehlte.“

„Wartet mal“, warf Yala ein. „Ihr sagtet doch vorhin, dass ihr den Lord der Erde vernichten wollt, um seinen Barrierezauber zu brechen.“

„Das stimmt“, bestätigte Juphien überflüssigerweise und brachte sie damit kurz durcheinander.

„Wenn nun der Lord des Feuers tot ist, dann bedeutet das doch, dass auch seine Magie erloschen ist, sein Beitrag zu Telkors Schutzzauber miteingeschlossen“, fuhr Yala fort. „Und das würde wiederum heißen, dass die Insel jeden Moment durch einen unterirdischen Vulkan in Stücke gerissen werden könnte.“

Einen Moment herrschte Stille. Tado sah in den Gesichtern der Magier, dass sie sich dieser Tatsache wohl erst in dem Moment bewusst geworden waren, in dem Yala sie angesprochen hatte.

„Ja“, sagte Lillyopha; in ihrer Stimme lag eine gewisse Unsicherheit. „Wenn der Lord des Feuers tatsächlich nicht mehr am Leben ist, dann wird die zerstörerische Kraft, die seit jeher unter Telkor lauert, früher oder später erwachen.“

Tado wusste zwar, dass der Magier noch lebte, dennoch konnte er eine plötzlich aufkeimende Unruhe nicht gänzlich leugnen. Er hatte nach seinem Kampf gegen den Lord zwar nicht sehen können, was mit der Trollarmee geschehen war, doch wenn er die wenigen Worte, die er im Grenzgebirge mit dem Magier gewechselt hatte, richtig deutete, dann besaß dieser in Gordonien keinerlei Macht mehr, was zwangsläufig bedeutete, dass auch all seine dort gewirkten Zauber bei seiner Niederlage erloschen waren. Sollte dies auch für den Schutzzauber Telkors zutreffen, schwebte die gesamte Insel in großer Gefahr.

„Selbst wenn dem so ist, können wir mit unseren Kräften nichts dagegen tun“, versuchte Crius die Situation ein wenig zu beruhigen. „Die Oberen Vier mögen gewalttätig und unbarmherzig sein, doch sie würden Telkor niemals so leichtfertig aufs Spiel setzen: Wenn sie sich der Situation bewusstwerden, werden sie entsprechende Vorkehrungen treffen.“

Ein unheilvolles Geräusch, das sich aus Richtung des Landesinneren näherte, sorgte für eine plötzliche Unruhe unter den Leuten, die sich außer den Gefährten und den drei Magiern noch an diesem sonderbaren Ort befanden. Es klang wie das dumpfe Rauschen von schnell fließendem Wasser, unterschied sich daher deutlich von dem dumpfen, periodischen Schlagen der niedrigen Wellen des angrenzenden Ozeans an die felsigen Begrenzungen der Lagune. Ein älterer Mann kam aufgeregten Schrittes in die kleine Nische, in der die Gefährten ihre Unterredung führten, hineingestolpert.

„Sie sind da“, sagte er an Lillyopha gewandt.

Die Zitadelle

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