Читать книгу Die Zitadelle - Daniel Sigmanek - Страница 6
Bei den Schwankmotten
Оглавление„Das war zu erwarten“, erwiderte die Magierin relativ gelassen. „Und doch wundert mich ihre Schnelligkeit ein wenig. Veranlasse den sofortigen Aufbruch.“
Der Mann machte auf dem Absatz kehrt und gab die Anweisungen an die anderen Leute weiter, die daraufhin begannen, sämtliche Spuren, die auch nur im Entferntesten darauf hindeuten könnten, dass sich jemals ein lebendiges Wesen in der Lagune befunden hat, zu beseitigen.
„Crius, jetzt liegt es an dir“, fuhr Lillyopha an den Magier gewandt fort. Dieser jedoch schien ihre Worte gar nicht wahrgenommen zu haben. Er war längst schon in einen Zustand tiefster Konzentration versunken.
„Was ist los?“, fragte Yala ein wenig beunruhigt.
„Wir haben euch doch erzählt, dass der Lord des Wassers, nachdem wir ihm vortäuschten, das von ihm gesuchte Schwert bei euch nicht gefunden zu haben, einen Suchtrupp entsandte“, sagte die Magierin. „Dieser wird in wenigen Augenblicken hier eintreffen.“
Ein wenig nervös blicke Tado hinauf zur kleinen Öffnung in der Decke der Höhle, die die Lagune umgab. Viel konnte er dahinter nicht erkennen, nur dass der feuerrote Himmel nun offenbar zu einem Teil von dichten, violetten Wolken verdeckt wurde.
„Wie gedenkt ihr aus der Lagune zu entkommen?“, fragte er etwas missmutig. „Soweit ich das beurteilen kann, führen alle Ausgänge nur zu deutlich besser einsehbaren Orten.“
Wortlos deutete Lillyopha auf die landwärtige Seite der Felsnische, in der sie sich befanden. Im Schlagschatten der kuppelartig gewölbten Decke zeichneten sich deutlich die Umrisse einer in den Fels gemeißelten Treppe ab, die einige Meter in die Höhe führte, ehe sie mit der Finsternis eines sich anschließenden Tunnels verschmolz. Tado hätte schwören können, dass an dieser Stelle bis eben noch nichts weiter als nackter Stein gewesen war. Auch in den übrigen Felswänden der Lagune tauchten plötzlich Treppen und Gänge auf.
Zögerlich folgten die Gefährten den drei Magiern, die schnellen Schrittes den ihnen am nächsten liegenden Tunnel ansteuerten.
„Was genau ist der Plan hinter diesem Fluchtversuch?“, fragte Lukdan. „Wollt ihr den Suchtrupp schwächen, in dem ihr ihn zwingt, sich aufzuteilen?“
„Nein“, antwortete Juphien, nachdem die sieben die ausgetretenen Stufen der engen Treppe hinaufgegangen waren und den sich dahinter anschließenden Gang betraten. „Sie können den Tunnel nicht sehen. Crius besitzt die Gabe des Verbergens. Er kann alles und jeden den Blicken seiner Feinde entziehen.“
Sie entzündete eine der bereitliegenden Fackeln. Tado blickte zurück. Er sah gerade noch, wie aus der Öffnung in der Decke der Höhle etwa ein halbes Dutzend Ranken einer ihm unbekannten Kletterpflanze wie die Tentakel eines gigantischen Kraken in die Lagune hinabgriffen, dann machte der Tunnel vor ihm einen Knick und der Ort verschwand gänzlich aus seinem Blickfeld.
„Seid ihr sicher, dass wir unentdeckt bleiben?“, fragte er schließlich die Magier; eigentlich nur, um sich von dem verstörenden Bild, das sich ihm eben geboten hatte, abzulenken. „Immerhin ist die Lagune ein nichtmagischer Ort, und wenn ihr einen Zauber benutzt, um die Ausgänge zu verbergen, so müssten unsere Verfolger dies doch spüren.“
„Wie Juphien euch bereits sagte, ist Crius‘ Magie dazu imstande, wirklich alles zu verbergen“, antwortete Lillyopha. „Selbst ihre eigene Präsenz. Es ist eine merkwürdige, aber ungemein nützliche Kraft.“
Und eine ungemein mächtige, fügte Tado in Gedanken hinzu.
„Unter normalen Umständen fliehen wir nicht vor den Untergebenen des Lords“, lenkte Crius das Gespräch auf ein anderes Thema. „Immerhin wissen sie nicht, dass wir es sind, die Widerstand gegen die Oberen Vier leisten. Doch würde es zwangsläufig Fragen aufwerfen, wenn man uns inmitten eines von Magiern gemiedenen Ortes findet, noch dazu in so großer Zahl.“
„Es erscheint mir ohnehin verdächtig, dass niemand von den Oberen Vier Verdacht schöpft, wenn ihr häufiger solche Versammlungen abhaltet und euch an irgendwelche abgeschiedenen Orte zurückzieht“, bemerkte Yala ein wenig provozierend.
„Nun ja“, entgegnete Lillyopha mit einem etwas verlegenen Lächeln, „Anders als bei den Menschen haben in Telkor nur mächtige Magier etwas zu tun. Alle, die für zu schwach befunden werden, um den Plan der Oberen Vier umzusetzen, sind von Einsätzen außerhalb der Insel befreit. Dies trifft leider auf alle Mitglieder unserer Gruppe zu.“
Tado hätte am liebsten beide Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und wäre schreiend davongerannt. Er befand sich inmitten einer Gruppe von Magiern, die zu schwach waren, um gegen Menschen zu kämpfen, im Gegenzug aber danach strebten, einen Lord niederzuringen. Schlimmer konnte seine Situation kaum werden. Auch die Aussicht, jemals wieder diese Insel zu verlassen, schrumpfte mehr und mehr zu einem blassen Hoffnungsschimmer in der Ferne, jeden Moment Gefahr laufend, vollends zu erlöschen.
Der Tunnel, durch den sie nun schon eine ganze Zeit eilig marschierten, besaß einen nahezu quadratischen Querschnitt, Wände und Boden waren glatt und aus natürlichem Gestein, die Luft kühl und keineswegs modrig.
„Wohin führt dieser Gang?“, fragte Spiffi nach mehreren Minuten des Schweigens.
„Zurück an die Oberfläche“, antwortete Juphien.
„In Kürze wird ein Treffen all jener Magier stattfinden, die sich gegen die Pläne Telkors zur Wehr setzen“, ergänzte Lillyopha. „Ort des Geschehens ist das Graustaubtal, ein zwielichtiges, verwegenes Gebiet, in das sich niemand ohne triftigen Grund hineinbegibt. Angesichts eures Auftauchens und des Suchtrupps des Lords haben wir unseren geplanten Aufbruch nun ein wenig vorverlegen müssen.“
„Und dieser Tunnel führt direkt ins Graustaubtal?“, versuchte Yala die Worte der Magierin wieder auf Spiffis Frage zurückzulenken.
„So einfach ist das leider nicht“, erwiderte Crius. „Ihr müsst wissen, dass Telkor in vier Gebiete aufgeteilt ist, und jedes davon ist einem der Oberen Vier unterstellt: Der Südosten der Insel gehört dem Lord des Wassers, der Südwesten wird vom Lord der Erde beherrscht. Im eher lebensfeindlichen Norden Telkors residieren der Lord des Feuers auf der westlichen Hälfte und der Lord des Windes auf der östlichen. Das Graustaubtal ist allerdings ein sehr großes Gebiet und erstreckt sich daher zu gleichen Anteilen in die beiden südlichen Territorien. Ungeachtet seiner Weitläufigkeit ist es jedoch, wie ihr euch bald schon selbst werdet überzeugen können, eher trostlos, und der erhebliche Aufwand, es zu verwalten, würde den kümmerlichen Nutzen, dem es seinen Besitzer entgegenbringt, nicht rechtfertigen. Daher verlaufen die Territorien der Lords außen um das Graustaubtal herum, sodass jeder, der sich dort hineinbegibt, zwangsläufig eine der Grenzen passiert. Nimmt man den Lord des Feuers einmal aus, ist den Oberen Vier stets daran gelegen, über die in ihrem Gebiet ein- und ausgehenden Magier Kenntnis zu erlangen. Einen Tunnel, der sich unter ihren Füßen befindet, würden die Wachen innerhalb kürzester Zeit aufgespürt haben.“
„Aber sie werden uns erst recht bemerken, wenn wir die Grenze auf normalem Wege überschreiten“, warf Lukdan ein.
„Das schon“, bestätigte Lillyopha. „Doch die Oberen Vier halten niemanden auf, der ihre Grenze überquert. Es geht ihnen nur darum, zu wissen, welche Magier sich zurzeit in ihrem Territorium aufhalten. Ein unterirdischer Gang wäre allerdings nicht nur äußerst verdächtig, er würde sie auch direkt zu unseren geheimen Versammlungsorten führen.“
In diesem Moment endete der Tunnel vor einer breiten Treppe, die sie wieder hinaus ans Tageslicht brachte. Soweit es Tado beurteilen konnte, hatte sie ihr Weg direkt in einen Wald geführt. Hohe Bäume mit breiten, glatten Stämmen und teilweise mannshoch aus dem Boden ragenden Wurzeln warfen finstere Schatten auf den laubbedeckten Grund. Spärlich begrünte Sträucher begrenzten die Sicht auf wenige Dutzend Schritte. Die weit ausladenden, vom beginnenden Herbst rötlich angefärbten Baumkronen, die sich stets auf das obere Drittel der Stämme beschränkten, ließen nur selten einen Blick auf den feuerroten Himmel zu, dessen schwaches Licht kleine, goldene Flecken auf den Waldboden warf; und jedes Mal, wenn ein schwacher Wind durch das Geäst wehte, tanzten die Lichtstrahlen um die Schatten des Blattwerks herum und ließen das trockene Laub funkeln.
Der Eingang zum Tunnel, der die sieben hierhergebracht hatte, lag, eingerahmt von zwei massiven Wurzeln, direkt unter einem der großen Bäume, von außen kaum sichtbar, denn die Zweige eines niedrigen Gebüschs störten neugierige Blicke. Wenn Tado ehrlich war, konnte er eigentlich überhaupt keinen Tunnel oder dergleichen ausmachen, obwohl er genau wusste, dass er sich dort befand. Crius‘ Fähigkeit beeindruckte ihn aufs Neue.
„Es ist bald Mittag“, stellte Lillyopha fest. „Sobald der Morgen vollends vorüber ist, wird es in diesem Wald ziemlich ungemütlich. Wir sollten hier nicht allzu lange verweilen.“
Es war Tado ein Rätsel, woher die Magierin die Tageszeit kannte. Unter dem orangeroten Himmel fühlte es sich stets so an, als sei die Sonne gerade im Begriff, unterzugehen. Yala musste Ähnliches denken, denn sie sprach Lillyopha nur kurze Zeit später darauf an.
„Als Magier kennt man die Uhrzeit instinktiv“, antwortete diese nach kurzem Überlegen. „Für einen Menschen muss es tatsächlich schwierig sein, ohne Sonne oder Mond das Zeitgefühl zu bewahren.“
„Aber wie kommt es, dass der Himmel die ganze Zeit über seine Farbe nicht ändert?“, fragte Yala weiter.
„Der Lord des Windes hat hierbei seine Finger im Spiel“, erwiderte Crius an Lillyophas Stelle. „Zu jeder Jahreszeit ändert der Himmel sein Aussehen, wobei jede Farbe einen der Oberen Vier repräsentieren soll: Im Herbst lodert er in grellem Orange, wie die Flammen eines ewigen Infernos; im Winter wird er in ein tristes Grau getaucht, verwaschen und schwer in Worte zu fassen, so wie der kühle Wind, der um diese Jahreszeit über die Insel zu ziehen pflegt. Im Frühling dann erstrahlt der Himmel in einem tiefen Blau, ähnlich dem weiten Ozean, der Telkor zu Füßen liegt. Am wundersamsten ist seine Farbe allerdings im Sommer. So wie die finstere Erde, auf der das Reich der Magier erbaut worden ist, färbt sich auch der Himmel pechschwarz, und doch ist es hier unten heller als zu jeder anderen Zeit, denn scheinbar aus dem Nichts fällt ein goldenes Licht auf das Land herab und lässt es verhalten schimmern.“
Obwohl seine Worte das Werk der Oberen Vier recht ansehnlich kleideten, merkte man Crius an, dass er von dem Aufwand, den die Herrscher Telkors sich gemacht hatten, nicht allzu viel hielt. Tado hingegen ärgerte sich nun ein bisschen, dass er nicht schon einige Tage zuvor auf der Insel gelandet war, denn er hätte den Sommerhimmel gerne einmal bewundert.
In der Zwischenzeit hatten die sieben einen relativ breiten Weg erreicht, der sie in sanften Schlängellinien durch den Wald führte. Die weit ausladenden Kronen der nebenstehenden Bäume warfen allerdings weiterhin dunkle Schatten auf den ausgetretenen Boden, sodass es auch hier nicht unbedingt heller war als im zurückliegenden Dickicht.
„Weicht nicht vom Weg ab“, mahnte Lillyopha die Gefährten nach einer Weile. „In diesem Wald leben Kargahle; äußerst abscheuliche Kreaturen, die einst geschaffen wurden, um sie in die Armee der Oberen Vier einzugliedern. Die Wesen ließen sich jedoch nicht bändigen und ein paar von ihnen entkamen eines Tages den Fängen der Magier und flüchteten sich in diesen Wald. Es war zunächst unmöglich, ihr Versteck ausfindig zu machen, und so vermehrten sie sich, bis schließlich das Vorhaben ihrer Ausrottung aussichtslos wurde und man sie in diesem Gebiet gewähren ließ. Sie verschlafen meist die ersten Stunden des Tages, ehe sie erwachen und auf Beutefang gehen. Doch solange man die Wege nicht verlässt, ist man vor ihnen relativ sicher.“
„Ein paar von ihnen scheinen uns gewittert zu haben“, stellte Juphien plötzlich fest.
Tado blickte sich nervös um, bildete sich ein, im angrenzenden Gebüsch einen Schatten zu sehen, der sich jedoch als Ast entpuppte. Noch konnte er nichts entdecken, was die Worte der Magierin bestätigt hätte.
„Vielleicht würden wir uns weniger Sorgen um einen Angriff machen, wenn man uns endlich unsere Waffen zurückgäbe“, warf Lukdan ein wenig ungeduldig ein.
Crius musterte ihn daraufhin mit einem prüfenden Blick und beschloss dann, dass es an der Zeit sei, den Gefährten ein wenig mehr Vertrauen entgegenzubringen. Mit einer fahrigen Geste brachte er nach und nach die Waffen der vier zum Vorschein und übergab sie ihnen. Tado wunderte es, wie der Magier die ganze Zeit über all dieses Kriegsgerät mit sich hatte herumschleppen können, vor allem ohne dass es irgendeiner der Anwesenden bemerkte.
„Doch denkt daran: Solltet ihr ein verdächtiges Verhalten an den Tag legen, werden wir gezwungen sein, euch eurer Waffen wieder zu berauben“, sagte Crius mahnend.
Spiffi fragte ihn daraufhin, ob es nicht einfacher wäre, wenn der Magier sie alle mit seiner Fähigkeit vor den Blicken der Kargahle verbergen könnte. Dieser erwiderte jedoch, dass das nicht möglich sei, verzichtete allerdings auf weitere Erklärungen. Tado überraschte es nicht. Es hätte ihn auch sehr gewundert, wenn Crius ihnen so unvermittelt das Geheimnis hinter seiner Kraft erläutern würde.
Der Waldweg zog sich eine ganze Weile eben dahin, und mehrere Stunden verstrichen, ohne dass es irgendwelche Anzeichen dafür gab, dass Kargahle sie belauern würden. Die ganze Zeit über folgte die kleine Gruppe dem Verlauf des Pfades weitgehend schweigend; die drei Magier gingen voraus, die Gefährten folgten in kleinerem Abstand dahinter.
„Was glaubt ihr, ist mit den anderen Besatzungsmitgliedern geschehen?“, fragte Yala schließlich, als sie das Schweigen nicht länger aushielt, an die anderen gewandt, wohlweißlich aber nur so laut, dass ihre Führer sie nicht hören konnten.
„So wie es den Anschein hatte, muss der Lord des Wassers sie gefangen genommen haben“, erwiderte Tado. „Sie haben sich recht große Mühe gemacht, die Besatzung möglichst unverletzt zu lassen.“
„Ich bezweifle, dass es auf Telkor so etwas wie ein Gefängnis gibt“, meinte Lukdan nach kurzem Überlegen. „Es wäre ein sehr großer Aufwand, all die Menschen einzusperren und sie zu versorgen. Nach allem, was ich bisher von den Magiern gesehen habe, entspräche dies so gar nicht ihrer Denkweise.“
„Aber wenn sie sie ganz bewusst am Leben lassen, muss es doch einen Grund dafür geben“, entgegnete Yala.
„Den werden dir aber wahrscheinlich nur unsere drei Magier da vorne nennen können“, fuhr Lukdan fort. „Ich würde sie allerdings lieber nicht danach fragen. Wenn sie sehen, dass wir an dem Schicksal der Besatzung Interesse zeigen, könnten sie auf den Gedanken kommen, dass wir andere Pläne haben als ihnen bei ihrem aberwitzigen Vorhaben zu helfen.“
„Wäre das denn allzu weit von der Wahrheit entfernt?“, warf Spiffi ein.
„Natürlich nicht“, beantwortete Lukdan diesen eher rhetorischen Einwand. „Allerdings würde uns ihr Misstrauen unserer Handlungsfreiheit berauben.“
Spiffis Bemerkung hatte jedoch noch eine ganz andere Frage aufgeworfen: Wie genau sah ihr weiteres Vorgehen eigentlich aus? Dass sie nicht länger im Schlepptau der Magier bleiben wollten, mochte zwar feststehen, darüber hinaus hatten sie sich allerdings noch keine Gedanken gemacht. Sie beschlossen, sich darüber an einem weniger ungünstigen Ort zu beraten.
Der Weg begann abschüssig zu werden, zunächst kaum merklich, dann jedoch in einem derart steilen Winkel, dass normales Gehen kaum mehr möglich war, ohne Gefahr zu laufen, jeden Moment auf dem trockenen Laub auszurutschen. Auf diese Weise verlief der Pfad noch etwa hundert Meter, ehe er erneut abzuflachen begann. Die Magier hatten allerdings bereits inmitten des bergab führenden Teils des Weges angehalten, sich einen Moment lang beraten und warteten nun offenbar darauf, dass die Gefährten zu ihnen aufschlossen. Dazu kam es jedoch nicht. Zwischen den Bäumen zur Rechten bewegten sich Schatten; große, schwarze Umrisse gefährlicher Kreaturen. Eine ganze Horde unheimlicher Wesen sprengte im nächsten Moment aus dem Dickicht heraus auf den Waldweg, trennte die sieben in zwei Gruppen und umzingelte sie beide im Anschluss. Tado zweifelte keine Sekunde daran, dass es sich hierbei um die von Lillyopha erwähnten Kargahle handelte. Schon vorhin war es ihm verdächtig vorgekommen, dass sie die Kreaturen als abscheulich bezeichnete, denn wenn ein Magier dieses Wort benutzte, dann musste es sich wirklich um grausige Bestien handeln, und in der Tat konnte er sich nicht erinnern, jemals zuvor derart scheußliche Wesen erblickt zu haben. Grauer Schleim bedeckte die violett schimmernde Haut dürrer, vierbeiniger Geschöpfe, träufelte bisweilen auf den Boden und verklebte das Laub zu unansehnlichen Klumpen. Auf dem zum Gesicht hin konkaven Hals, dessen spitze Wirbelknochen weiß und deutlich hervorstachen, thronte ein langer, pferdeähnlicher Kopf, jedoch aufs Grausamste entstellt: Blutunterlaufene, in zartem Rosa schimmernde Augen lagen in großen, dunklen Höhlen, starrten mit geweiteten Pupillen auf die umzingelte Beute. Das langgezogene Maul der Kreaturen troff vor Schaum und Speichel; die zu mickrigen Wülsten verschrumpelten Lippen gaben fortwährend den Blick auf braune, abgenutzte, aber nichtsdestotrotz scharfe Zähne frei, die ungeordnet ineinandergriffen wie die eines Krokodils. Über den geblähten Nüstern lag ein schützender, knochiger Auswuchs, der sich bis zu den Augenhöhlen hinaufzog und dann in zwei spitz zulaufende, wuchtige Hörner überging, die sich in imposantem Bogen über Hals und Rücken der Kreaturen wölbten. Die meisten dieser abscheulichen Wesen bewegten sich auf allen Vieren fort, doch gab es auch einige wenige, die sich auf zwei Beine aufrichteten, und auf diese Weise jeden der Gefährten um mehr als einen Meter überragten.
Nachdem die Kargahle ihre Opfer vollständig umzingelt hatten, griffen sie an, ohne jede Vorwarnung und ohne die sieben eines prüfenden Blickes zu unterziehen. Mit ungeheurer Wucht schmetterten sie ihre gesenkten Häupter den Gefährten entgegen, ließen ihre massiven Hörner auf die Beute niederkrachen. Tado und Lukdan blockten die Angriffe mit ihren Waffen. Letzterer schaffte es trotz der enormen Kraft seines Gegners, sich irgendwie auf den Beinen zu halten, während Tado der Stoß von den Füßen holte, und da er mit dem Rücken zum steil abfallenden Weg stand, endete sein Sturz weitaus schmerzhafter, als er zunächst erwartet hatte. Zwar entging er durch seinen Fall dem zornigen Angriff eines zweiten Kargahls, nur um jedoch wenige Sekunden später in den Fängen einer dritten Kreatur zu landen.
Spiffi schaffte es zunächst, mit einem hastig geschossen Pfeil einen seiner Widersacher auf Distanz zu halten, ehe sich eine andere Bestie von hinten auf ihn warf und ihn unter sich begrub. Der verletzte Kargahl schien indes tatsächlich außer Gefecht gesetzt worden zu sein; das Geschoss hatte die Kreatur etwas unterhalb des Halses erwischt. Zwar linderte die schleimige Oberfläche der Haut des Ungetüms die Wucht des Einschlags ein wenig, doch da der Pfeil aus kürzester Distanz abgefeuert worden war, reichte es, um die Kreatur dazu zu bringen, sich unter rasselndem Keuchen an den Wegesrand zurückzuziehen.
Lukdan wurde unterdessen von drei Kargahlen gleichzeitig attackiert. Diejenige Bestie, die Tado kurz zuvor den Hang hinabgeschleudert hatte, eilte nämlich ihren beiden Artgenossen zu Hilfe, die es trotz ihrer Überzahl und der Tatsache, dass sie bergab kämpfen konnten, nicht schafften, ihr Gegenüber zu überwältigen. Ununterbrochen stürzten sich die drei Kreaturen nun auf Lukdan, sprangen von einem höher gelegenen Punkt des Weges auf ihr Opfer nieder und schmetterten, stets mit gesenktem Kopf und vorgestreckten Hörnern ihr gesamtes Körpergewicht auf Lukdan nieder, der dem Ganzen keinen Konter entgegenzusetzen vermochte und nur jeden der Angriffe mit seinen Säbeln blockte. Immer weiter wurde er den Hang hinabgedrängt, und es war nur eine Frage der Zeit, bis auch seine Füße irgendwann den Halt verlieren würden.
Yala erwischte einen unglücklichen Start in den Kampf, denn das Auftauchen der Kreaturen hatte sie sehr erschreckt, sodass sie, obwohl als einzige mit nur einem Angreifer konfrontiert und zudem noch bergab kämpfend, beinahe umgehend die Oberhand verlor. Der Kargahl warf sie zu Boden und bekam ihr rechtes Bein mit seinen abgenutzten, aber, wie sie sofort feststellte, trotzdem noch äußerst scharfen Zähnen zu fassen, biss mit aller Kraft zu, sodass sie vor Schmerzen aufschrie, und zerrte dann wild daran herum. Yala trat nach dem Kopf der Kreatur, doch der knöcherne Wulst ließ diesen Versuch wirkungslos verpuffen. Sie rammte ihre Hand vor Schmerz in den Waldboden und riss sich dabei einen Fingernagel an einem kleinen Stein ein, den sie daraufhin an sich nahm und verzweifelt dem Kargahl entgegenschleuderte. Das kleine Geschoss besaß keine große Wucht, denn zu allem Überfluss hatte sie mit links geworfen, doch auf groteske Weise sollte dieser Wurf eine erhebliche Wirkung zeigen: Der Stein traf zunächst nur eines der Hörner, prallte von dort zu Boden, traf anschließend den knöchernen Nasenwulst und glitt von dort, durch die heftigen Bewegungen der Kreatur maßgeblich beeinflusst, in die übergroße Augenhöhle, wo er sich zwischen Augapfel und Lid einklemmte. Der Kargahl tobte. Zornig warf er seinen Kopf in den Nacken und schlug mit einem seiner Vorderbeine gegen den Schädel. Der Stein schien sich bei diesem wilden Versuch tatsächlich gelöst zu haben, zumindest wandte sich das Wesen jetzt wieder Yala zu, die sich in der Zwischenzeit in den Besitz ihres beim anfänglichen Sturz verlorengegangenen Bogens gebracht hatte. Als der Kargahl sich erneut auf sie stürzte, diesmal in seiner vollen Größe, aufgerichtet auf den Hinterbeinen stehend und zielgerichtet ihren Hals anvisierend, ließ sie einen Pfeil fliegen. Das silberne Geschoss traf schlecht, denn die Kreatur hatte sich sehr stark bewegt, erwischte den Angreifer nur an der Schulter, doch die Macht des Bogens reichte aus, um das rechte Vorderbein aus der Gelenkpfanne zu reißen und den Körper des Kargahls ein paar Schritte zurückzuwerfen, wobei er sich überschlug und in seine weiter hangabwärts gegen die drei Magier kämpfenden Artgenossen krachte.
Tado befand sich noch immer in der Gewalt einer der Bestien. Bei seinem Sturz war ihm die Drachenklinge abhandengekommen, sodass er sich nun relativ wehrlos dem triefenden Maul eines Kargahls ausgesetzt sah. Ein nervöser Blick hangaufwärts verriet ihm, dass die Kreatur, die ihn bei seinem unfreiwilligen Fall vorhin verfehlt hatte, sich ebenfalls auf dem Weg zu ihm befand. So vergaß er jede Vorsicht und bediente sich des Goblinzaubers, um das verlorene Schwert wieder in seinen Besitz zu bringen. Er wollte nicht, dass die drei Magier mitbekamen, dass er zu niederer Magie fähig war, doch angesichts seines durchaus gefährdeten Lebens beschloss er, darauf zu hoffen, dass sie sich eher mit ihrem eigenen Kampf beschäftigten und nicht auf sein Treiben achteten. So gelang es ihm schließlich, die Klinge tief in den Bauch der über ihn gebeugten Kreatur zu rammen, ehe deren Zähne seinen Hals erreichten und womöglich durchtrennten. Die starke Steigung des Hanges machte es ihm leicht, sich gegen das Gewicht des auf ihm liegenden Kargahls aufzurichten, das Schwert aus dem Körper der Bestie zu ziehen und die schwer verletzte, aber offenbar noch immer lebendige Kreatur den steil abfallenden Weg hinunterzustoßen.
Lukdan schien derweil in seinem Kampf die Oberhand gewonnen zu haben. Zwar sah er sich weiterhin den Angriffen der drei Kargahle gegenüber, doch die Vorstöße der schleimbedeckten Kreaturen verloren stetig an Kraft und jedes Mal, wenn ihre Hörner auf die Klingen ihrer Beute trafen, fügten ihnen die Säbel immer tiefere Schnitte zu. Manchmal gelang es Lukdan sogar, einen Schlag gegen die nackte Haut der Wesen auszuführen, sodass seine Kontrahenten mit zahlreichen stark blutenden Wunden im Bereich des Kopfes übersät waren; und als sie sahen, wie auch ihre Artgenossen den Gefährten zu unterliegen drohten, da stießen sie einen dumpfen Laut aus und ergriffen die Flucht, zogen sich schnellen Schrittes in den Wald zurück und ließen ihre übermächtige Beute zurück. Auch die wenigen Kargahle, die trotz des Kampfes gegen die Magier noch immer am Leben waren, wandten sich enttäuscht ab und verschwanden im Dickicht. Für Spiffi stellte dieser Umstand ein Glücksfall dar: Er hatte sich nämlich noch immer in den Fängen einer der Kreaturen befunden und bei dem Kampf viele blutende Schrammen davongetragen. Wären seine Begleiter nur ein wenig zaghafter mit den Kargahlen umgegangen, hätte die Begegnung durchaus tödlich für den Bogenschützen ausgehen können. So kam er noch einmal mit dem Schrecken davon.
Die Magier winkten die Gefährten indes ungeduldig zu sich heran. Sie hatten bei der Auseinandersetzung mit den scheußlichen Kreaturen überraschend wenig Blut vergossen und den Zwischenfall auch deutlich souveräner überstanden. Zwei Kargahle lagen bewusstlos am Wegesrand. Ob sie tot waren, konnte Tado nicht mit Sicherheit sagen; da sie aber keinerlei Verletzungen aufwiesen, vermutete er, dass sie einem Zauber zum Opfer gefallen waren. Anders sah dagegen ein mitten auf dem Waldpfad befindliches Exemplar aus: Sein Körper strotzte nur so vor tiefen Einstichen und gewaltigen Schnittwunden, die ihm mit einer brachialen Waffe zugefügt worden sein mussten.
„Sagtet ihr nicht, dass wir vor ihnen auf dem Waldweg sicher sind?“, herrschte Yala die Magier an, noch ehe diese ihr nervöses Winken mit einigen Worten erklären konnten. Ihr Bein blutete ein wenig, doch die Verletzung schien nicht so schwer zu sein, wie es zunächst den Anschein gehabt hatte. Zumindest schien Yala keine Probleme beim Gehen zu haben.
„Die Kargahle scheinen derzeit etwas aggressiver zu sein als sonst“, antwortete Lillyopha mit hochgezogenen Schulter, als könne sie es sich selbst nicht richtig erklären. „Wahrscheinlich liegt es an der Jahreszeit. Unter dem feurigen Himmel erhitzen sich die Gemüter auf dieser Insel stets etwas leichter.“
„Jedenfalls hat uns ihr Verhalten dazu veranlasst, unsere Pläne ein wenig zu ändern“, ergriff Crius das Wort. „Den restlichen Weg bis ins Graustaubtal werden wir erst morgen zurücklegen. Die Gefahr, dass die Kargahle in vergrößerter Zahl zurückkehren – denn das pflegen sie gewöhnlich zu tun – ist zu groß. Deshalb werden wir den angebrochenen Tag in einem nahegelegenen Gasthaus verbringen, das im Zentrum einer Siedlung von Schwankmotten liegt.“
Mit diesen sehr dürftigen Erläuterungen wollte sich Crius zum Gehen abwenden, doch Spiffis Frage ließ ihn noch einmal innehalten.
„Was genau sind diese Schwankmotten?“, fragte der Bogenschütze ein wenig misstrauisch, denn nach den bisherigen Geschehnissen war er verständlicherweise nicht besonders erpicht darauf, eine weitere von Telkors merkwürdigen Kreaturen kennenzulernen.
„Von ihnen geht keine Gefahr aus“, erwiderte der Magier. „Die Mitglieder unserer Gruppe gehen dort des Öfteren ein und aus, wenn sie auf dem Weg in die Lagune der Phantommagie sind. Schwankmotten sind sehr nette Gastgeber und die Kargahle meiden sie aus nicht ganz geklärten Gründen. Leider ist ihr Dorf auch ein beliebter Aufenthaltsort für die dem Lord ergebenen Magier, also verhaltet euch möglichst unverdächtig.“
Für weitere Erklärungen sah er keine Notwendigkeit; er drehte sich nun endgültig um und folgte wieder dem Verlauf des Weges.
„Keine Angst“, sagte Lillyopha, als sie sah, dass Tado etwas erwidern wollte. „Gorson und Parschald werden wir dort nicht treffen. Dafür sind wir mittlerweile viel zu weit von der Küste entfernt.“
Damit wandte auch sie sich zum Gehen. Die Gefährten zögerten zunächst noch ein wenig, wenngleich sie auch ohne die Anwesenheit der Magier vermutlich keine andere Wahl gehabt hätten, als dem Weg weiter zu folgen, denn irgendwie mussten sie schließlich aus dem Wald herausfinden, wenn sie jemals von dieser Insel entkommen wollten.
„Wenn ihr noch ein klein wenig wartet, werdet ihr den ersten Aasfressern dabei zusehen können, wie sie die Kadaver der Kargahle aufspüren und verzehren“, sagte Juphien verheißungsvoll, und als die Gefährten sie nur verständnislos ansahen, da sie nicht wussten, ob die Worte der Magierin als Warnung oder als Ermutigung, sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen, gemeint waren, wandte sie verlegen den Blick ab und flüsterte noch ein paar ergänzende Worte in den Wald hinein: „Allerdings wäre das keine so gute Idee.“
Nach diesen Ausführungen musste sich Tado zwingen, nicht in einen Laufschritt zu verfallen, als die Gefährten und Juphien wieder zu den anderen beiden Magiern aufschlossen. In der darauffolgenden Zeit kam die kleine Gruppe häufiger an Weggabelungen und Kreuzungen vorbei, doch vorerst behielten sie ihre ursprüngliche Richtung bei, bis sie an eine besonders breite Abzweigung zur Linken gelangten, die aussah, als würde sie des Öfteren von Menschen, beziehungsweise von Magiern, benutzt werden. Auf dem ausgetretenen Pfad befand sich kaum herabgefallenes Laub, die angrenzenden Büsche waren licht und die hohen Bäume standen hier etwas weiter auseinander, sodass der Himmel häufiger Gelegenheit hatte, sein feuriges Orange zu zeigen. Irgendwann musste jemand einmal versucht haben, den Waldweg mit Pflastersteinen zu befestigen; dieser Plan war allerdings von den dicken, bemoosten Wurzeln der angrenzenden Bäume vereitelt worden, sodass die wenigen noch verbliebenen Steine schief und ungeordnet im Boden steckten, zur ernstzunehmenden Stolpergefahr wurden und das Vorankommen eher erschwerten als erleichterten. Glücklicherweise schien der Erbauer die Sinnlosigkeit seines Vorhabens schnell begriffen zu haben, denn schon nach wenigen hundert Metern ging das Pflaster abrupt in weichen Waldboden über.
Wenig später schwand das Dickicht auf der linken Seite nach und nach zu einem niedrigen Efeuteppich und gab den Blick auf eine alte, aber intakte Steinmauer frei, die sich mitten durch den Wald zog und offenbar einen größeren Bereich abgrenzte. An der höchsten Stelle maß sie vielleicht vier Meter in der Senkrechten, an der niedrigsten, an der sie möglicherweise nach einem starken Regenfall im aufgeweichten Boden eingesunken war, nur wenig mehr als zwei Meter. Die hölzernen Dächer niedriger Häuser wurden hinter den dekorativen Zinnen der Mauer sichtbar; kurz darauf, als der Weg in einem schwungvollen Bogen nach links abbog und sich zwischen drei besonders hohen und starken Bäumen, deren Stämme gute sechs Meter breit waren, hindurchschlängelte, wurde auch eine hölzerne Eingangspforte in der an dieser Stelle etwas schief aufragenden Mauer sichtbar. Die Baumwurzeln brachten es hier ebenfalls auf eine beachtliche Größe, manche kreuzten den Weg in seiner gesamten Breite und ragten so hoch auf, dass man ein Loch in sie hineingeschlagen hatte und die Gefährten nun unter ihnen wie durch eine Unterführung hindurchgehen konnten, ohne sich bücken oder wenigstens den Kopf einziehen zu müssen.
Je näher sie der hölzernen Eingangspforte kamen, desto mehr Geräusche schlugen ihnen entgegen: Schritte, Stimmen, unregelmäßiges Flattern und ein stetes Summen, das so gleichmäßig und unaufdringlich war, dass sie es schon nach wenigen Sekunden nicht mehr wahrnahmen. Im Gegensatz zum Rest des Waldes musste hinter den steinernen Mauern ein reges Leben herrschen. Diese Vermutung bestätigte sich, als sie das Tor hinter sich ließen und eine kleine Siedlung betraten, die sich aus gut einhundert einstöckigen, niedrigen Gebäuden zusammensetzte, die jeweils in großem Abstand zueinander in die Baumlandschaft integriert worden waren. Die Bewohner jener Häuser, bei denen es sich ohne jeden Zweifel um die von Crius erwähnten Schwankmotten handelte, schwirrten emsig über schmalen, ausgetretenen Wegen hinweg. Manche liefen durch niedriges Gebüsch, das die meisten der Gebäude umgab, und verwendeten offenbar all ihre Konzentration darauf, kleine, goldgelbe Früchte von den Zweigen der Pflanzen abzutrennen und in einem geflochtenen Korb zu sammeln, während sie gleichzeitig andere, etwas weniger gelbe Früchte ebenfalls von den Gewächsen entfernten, diese jedoch sofort in ihren Mund stopften und nach kurzem Kauen hinunterschluckten. Die merkwürdigen Wesen waren etwas größer als einen halben Meter und besaßen zwei dünne, hellbraune Flügel, die ihrem dunklen, eiförmigen Körper entsprangen, aus dem wiederum sechs schlanke Beine wuchsen, mit denen sie relativ schnell über die Erde hasten konnten. Das Gesicht der Schwankmotten sah dagegen eher schaurig aus, es glich dem Kopf gewöhnlicher Motten, wobei Tado dies erst später feststellte, denn bis zu diesem Zeitpunkt hatte er es gewöhnlich vermieden, Insekten aus nächster Nähe zu betrachten. Im Gegensatz zu den Gefährten, die der Siedlung der Wesen mit ungezügelter Neugier begegneten, schienen die Schwankmotten kein Interesse an den Neuankömmlingen zu zeigen, und auch die Magier, die nach wie vor mit unveränderter Geschwindigkeit vorweggingen, bedachten ihre Umgebung nur mit wenigen Blicken. Erst als ein gut fünfzig Meter breites Haus, das von der gleichen flachen Bauweise wie die übrigen Gebäude hier war und dessen Dach aussah, als sei es mit Baumrinde gedeckt worden, vor ihnen auftauchte, hielten sie inne.
„Wo ist Crius?“, fragte Yala, noch bevor die beiden Magierinnen auch nur dazu ansetzen konnten, den Grund für ihr abruptes Halten näher zu erläutern. Tado hätte das Fehlen des Mannes ohne diesen Einwand wahrscheinlich gar nicht bemerkt, so sehr war er damit beschäftigt, die Schwankmotten zu beobachten. Er erschrak nicht wirklich über diese plötzliche Erkenntnis. Ehrlich gesagt hatte er sich ohnehin bereits gewundert, warum der Magier überhaupt bis in die Siedlung mitgekommen war.
„Nun ja“, begann Lillyopha ausweichend. „Er hat sich seiner Fähigkeit bedient, um sich unerwünschten Blicken zu entziehen. Während unseres Aufenthaltes solltet ihr seinen Namen lieber nicht laut aussprechen.“
„Aber warum nicht?“, hakte Yala nach, denn die Antwort gefiel ihr nicht.
„Wegen der Narbe“, erwiderte Tado anstelle Lillyophas, als die Magierin einen Moment nach Worten suchte. „Er hat eine Narbe an der linken Schulter, die ihm nur durch die Magie Telkors beigebracht worden sein kann.“
„Aber dann hätte es doch gereicht, einfach nur die Narbe zu verbergen“, warf Spiffi ein.
„Nicht unbedingt“, fuhr Tado fort. „Dass er durch Telkors Magie verletzt wurde, bedeutet, dass er einen Kampf mit einem anderen Magier geführt haben muss. Derartige Auseinandersetzungen würden aber kaum ohne triftigen Grund geschehen. Ich vermute daher, dass vor einiger Zeit jemand herausgefunden hat, dass er gegen die Oberen Vier arbeitet und ihn daher versuchte zu töten. Da Crius mit seiner Fähigkeit eigentlich keine Probleme haben sollte, einem Kampf zu entkommen, schätze ich, dass es ein relativ mächtiger Magier war, der ihm die Wunde zufügte. Da nun also in ganz Telkor bekannt wurde, dass er ein Feind der Oberen Vier ist, kann er es sich nicht leisten, an einem Ort wie diesem, an dem sich, wie er selbst sagte, auch viele den Lords ergebene Magier befinden, frei herumzulaufen.“
Juphien starrte ihn entgeistert an.
„Beeindruckend“, sagte Lillyopha und nickte. „Ein solch umfangreiches Wissen hätte ich nie von einem Menschen erwartet. Es ist alles wahr, was du gesagt hast. Crius wurde vom Lord des Wassers höchstpersönlich verletzt, kam aber glücklicherweise mit dem Leben davon. Seitdem suchen die Oberen Vier fieberhaft nach ihm, bis jetzt jedoch ohne Erfolg.“
Zwei Magier kamen schnellen Schrittes aus dem flachen Gebäude gestürmt; eine Schwankmotte begleitete sie. Sie schienen jedoch keinerlei Interesse an den Gefährten zu zeigen, sondern verschwanden mitsamt ihrem fliegenden Begleiter zwischen zwei dornigen Büschen, was sehr zu Lillyophas Erleichterung beitrug.
„Hört zu“, sagte sie dann an die Gefährten gewandt. „In dem Gasthaus da vorne wimmelt es nur so von Magiern. Was auch immer geschieht, gebt auf keinen Fall preis, dass ihr Menschen seid. Man würde euch sofort töten.“
Dieser Hinweis war überflüssig. Als sie das Gasthaus betraten, schlug ihnen der nicht unangenehme Geruch diverser Speisen entgegen, und Tado erinnerte sich, dass er seit seiner Ankunft in Telkor noch nichts zu sich genommen hatte. Er ließ einen neugierigen Blick in die Runde schweifen. Das Gebäude schien auf den ersten Blick aus nur einem einzigen, gigantischen Raum zu bestehen, in dem hunderte Magier an unzähligen Tischen versammelt waren. Erst bei genauerem Hinsehen zeichnete sich an der etliche Schritte zur Linken liegenden Wand ein kleiner Durchgang ab, hinter dem wohl eine Küche liegen musste, denn Dutzende Schwankmotten flatterten fortwährend ein und aus, Essen und Getränke transportierend. Ein paar dicke, schwarz angemalte, hölzerne Pfosten stützten die niedrige Decke und trennten, zumindest rein optisch, den großen Raum in mehrere Abteile, zwischen denen breite Gänge entlangführten. Trotz der vielen Gäste herrschte kein allzu hoher Lärmpegel. Überdies schien keiner der hier versammelten Magier die Neuankömmlinge zu beachten. Bei den Wirten verhielt es sich jedoch anders. Eine Schwankmotte war sogleich zu den sechs herbeigeeilt, um sie nach ihren Wünschen zu fragen. Nach einem kurzen Wortwechsel mit Lillyopha führte sie sie an einen Tisch, der sich direkt an der Wand zur Rechten befand. Die Motte erzählte noch einen Witz, den Tado nicht verstand, der die Magierinnen jedoch zu einem amüsierten Lächeln animierte, und flatterte davon. Da es in der gesamten Halle keine Stühle gab, mussten die sechs auf dem mit einem sonderbaren, filzähnlichen Stoff ausgelegten Boden Platz nehmen. Vermutlich waren die Tische so niedrig gebaut worden, damit den Schwankmotten das Bedienen leichter fiel.
„Nur, um es kurz zur Sprache zu bringen“, begann Lukdan, „Euch ist hoffentlich bewusst, dass wir kein Geld bei uns haben.“
„Alles in Telkor ist umsonst“, antwortete Juphien. Sie hatte ihre Kapuze abgestreift, sodass Tado ihr blasses Gesicht zum ersten Mal ohne ominösen Schatten darauf betrachten konnte. Er vermied es jedoch, sie allzu lange anzusehen, damit sie nicht wieder aus Verlegenheit verstummen würde.
„Wie kann das funktionieren?“, fragte Yala ein wenig erstaunt.
„Ihr wisst doch, dass es in Telkor neben den Magiern noch andere Wesen gibt“, fuhr Juphien fort. „Wir haben gewissermaßen unsere Macht dazu missbraucht, um sie uns untertan zu machen, sodass sie nun jene Arbeiten erledigen, für die sich die Magier zu schade sind. Ein Teil des Ertrages, den sie ernten, zahlen sie an Telkor, sodass wir zu jeder Zeit mit allem Nötigen versorgt sind und uns auf wichtigere Aufgaben konzentrieren können.“
„Aber keine Sorge“, ergänzte Lillyopha, als sie die etwas verstörten Blicke der Gefährten gewahrte. „Die Schwankmotten bewirten uns freiwillig, sozusagen als Dank dafür, dass wir sie auf Telkor wohnen lassen. Sie sind empfindlich gegenüber Sonnenlicht, aber meiden ebenso die Dunkelheit, sodass es auf der Welt nicht viele Orte gibt, an denen sie sich wohlfühlen. Nur hier, wo Sonne und Mond niemals den magischen Himmel durchbrechen, können sie beruhigt ihr Dasein fristen.“
Diese Tatsache machte ihre derzeitige Situation für Tado tatsächlich etwas leichter. Der Gedanke, von Wesen bedient zu werden, die in Wirklichkeit von Telkor versklavt wurden, war ihm befremdlich.
„Dann nehme ich an, dass es sich bei den Kreaturen, die euch mit allem Nötigen versorgen, um Troks handelt“, versuchte Lukdan die schleierhaften Worte Juphiens zu deuten.
„Nicht vorrangig“, antwortete die Magierin, während eine Schwankmotte gerade jedem der sechs ein dunkelblaues, fast schwarzes Gefäß mit einer klaren Flüssigkeit darin hinstellte, bei der es sich allem Anschein nach um Wasser handelte. Juphien machte keine Anstalten, ihre Worte näher zu erläutern, sondern trank erst einmal ausgiebig.
„Troks sind zu intelligent, um für solch triviale Dinge wie die Beschaffung von Nahrung eingesetzt zu werden“, ließ Lillyopha schließlich verlauten. „Telkor nutzt sie fast nur für kriegerische Zwecke. Wobei die Sache mit den Troks ohnehin einige Merkwürdigkeiten aufweist…“
Sie brach ihre Ausführungen abrupt ab, als sie aus den Augenwinkeln das Näherkommen einer Person bemerkte. Es handelte sich dabei um eine Magierin von recht beachtlicher Größe, vermutlich würde sie sogar Lukdan um einige Zentimeter überragen, nichtsdestotrotz war ihr Körper schlank und ihre Bewegungen grazil. Glattes, schwarzes Haar fiel ihr bis weit über die Schultern herab und rahmte das leichenfahle, fast weiße, doch auf eine gewisse Weise anmutige Gesicht ein, in dessen dunklen Augen ein geheimnisvoller Glanz lag. Sie trug ein schwarzes Gewand, über das sich rote Verzierungen wie Efeu über die Wand eines verfallenen Gebäudes zogen. Es war von solcher Länge, dass es bisweilen auf dem Boden schleifte und seine Ärmel die Hände der Magierin zur Gänze verbargen.
„Ihr Name ist Talaria“, sagte Lillyopha an die Gefährten gewandt. „Sie gehört zu denjenigen, die die Pläne der Oberen Vier zu durchkreuzen versuchen. Vor ihr brauchen wir uns nicht zu verstellen. Sie ist die Anführerin desjenigen Teils unserer Gruppe, der sich hauptsächlich in einem der südwestlichen Verstecke aufhält. Eigentlich wollten wir uns jedoch erst im Graustaubtal treffen. Ich weiß nicht, was sie hierherführt.“
Die Magierin war inzwischen herangekommen und ließ sich an den Tisch nieder, ehe sie einige Worte mit ihrer klaren, ruhigen Stimme an Lillyopha und Juphien richtete: „Eure Anwesenheit an diesem Ort scheint mir verwunderlich. Ein derart früher Aufbruch sieht euch gar nicht ähnlich, überdies noch in einer solch ungewöhnlichen Gesellschaft.“
Sie musterte prüfend die Gefährten. Tado und Spiffi hielten ihrem Blick nicht stand und wandten sich ab.
„Sie gehören zu unserer Gruppe“, erklärte Lillyopha.
„Wie erfreulich“, antwortete Talaria. „Das erleichtert diesen Wortwechsel ein wenig. Doch es erklärt keineswegs euren Aufenthalt in diesem Gasthaus. Es ist mir durchaus bewusst, wie sehr Crius es hasst, sich mit seiner eigenen Magie zu verbergen. Er begibt sich nur ungern in dieses Dorf. Oder seid ihr ohne ihn gekommen?“
„Nein“, antwortete Juphien und stellte ihren Trinkbecher ab, der, wie Tado inzwischen festgestellt hatte, wohl aus Drachenfels sein musste, denn er besaß ein ganz erhebliches Gewicht. „Kargahle griffen uns an. Der Wald wurde zu gefährlich.“
„Wie ungewöhnlich gesprächig du heute bist“, stellte Talaria fest und sorgte mit diesen Worten dafür, dass Juphien ein wenig betreten zu Boden sah. „Aber soweit habe ich mir die Geschichte bereits zusammenreimen können, als ich euch hier erblickte. Doch was ich meinte, war, warum ihr die Lagune bereits verlassen habt. Das Treffen findet erst morgen Abend statt, ein so frühzeitiger Aufbruch erscheint mir unnötig.“
„Es gab einen unvorhergesehenen Zwischenfall, der uns dazu zwang, die Reise schon heute anzutreten“, sagte Lillyopha ausweichend. „Der Lord des Wassers entsandte einen Suchtrupp, und wir hielten es für besser, wenn man uns in der Lagune nicht entdecken würde.“
„Durchaus vernünftig“, erwiderte Talaria. „Wenngleich mich der Grund für den Suchtrupp interessieren würde. Doch ich bin eigentlich gar nicht hier, um euch wegen eurer Anwesenheit auszufragen, vielmehr wollte ich die Gelegenheit ergreifen, euch bezüglich des morgigen Treffens etwas mitzuteilen, das von großer Wichtigkeit ist.“
Lillyopha und Juphien schienen sich ein wenig über diese Worte zu wundern.
„Die Informationen, die uns zugetragen wurden, bergen jedoch eine Gefahr für jeden, der sie besitzt, daher wollte ich zunächst nur mit euch beiden darüber sprechen“, sagte Talaria mit einem entschuldigenden Blick in Richtung der Gefährten. „Anschließend könnt ihr natürlich selbst entscheiden, ob ihr eure Begleiter ebenfalls dieser Gefahr aussetzen wollt.“
Die beiden Magierinnen tauschten kurz einige Blicke, dann wiesen sie die Gefährten an, einen Moment auf sie zu warten und in der Zwischenzeit nichts Dummes anzustellen, anschließend gingen sie gemeinsam mit Talaria zu einem recht weit entfernten Tisch, an dem bereits einige Personen warteten. Die Gefährten blieben allein zurück.
„Was werden wir als nächstes tun?“, fragte Spiffi mit überflüssig gesenkter Stimme; niemand der Magier an den umliegenden Tischen schenkte ihnen auch nur die geringste Beachtung.
„Unsere Auswahl an Möglichkeiten ist nicht gerade groß“, sagte Lukdan. „Entweder begleiten wir die Magier weiter oder wir verschwinden bei der nächstbesten Gelegenheit.“
„Ich finde es nicht richtig, sie derart zu hintergehen“, wandte Yala ein. „Immerhin retteten sie uns das Leben.“
Dem sprach Tado seine Zustimmung aus. Im Übrigen hatte er auf seiner Reise bisher viele Fluchtversuche durchleben müssen, und an keinen davon dachte er gern zurück.
„Sie haben uns nur vor dem Lord bewahrt, weil sie denken, dass unser Wissen über Telkor ihnen irgendwie von Nutzen sein wird“, erwiderte Lukdan ungerührt. „Allerdings weiß ich nicht, was genau sie sich dabei von uns erhoffen.“
„Vielleicht werden sie uns darüber noch aufklären“, meinte Tado. „Bisher haben sich nicht viele Gelegenheiten ergeben, um die Situation in Ruhe zu besprechen.“
„Und es wäre besser für uns, wenn es dabei bliebe“, ergänzte Lukdan. „Wenn wir ihnen noch weiter folgen, bringen wir uns nur in unnötige Schwierigkeiten. Wir haben auf dieser Insel nichts verloren.“
„Der Meinung bin ich auch“, stimmte ihm Spiffi zu. „Lasst uns versuchen, ein Schiff zu stehlen und damit von hier verschwinden.“
„Eine tolle Idee“, lobte ihn Yala mit deutlichem Sarkasmus in den Worten. „Weißt du überhaupt, in welcher Richtung die Küste liegt?“
„Natürlich“, antwortete der Bogenschütze unbeirrt und deutete in die Richtung, in der die Küche der Schwankmotten lag, von denen nun einige Exemplare ihren Tisch anzusteuern schienen, um ihnen etwas zu essen zu bringen.
„Wenn wir in diese Richtung gingen, kämen wir bloß zurück zur Lagune“, entgegnete Yala. Spiffi schien nicht recht zu verstehen, warum sie diese Tatsache missmutig stimmte, und so erweiterte sie ihre Antwort: „Als wir den, wie es aussah, weit und breit einzigen für Schiffe zugänglichen Küstenstreifen Telkors gestern erreichten, war es mitten in der Nacht. Den Worten der Magier zufolge brach vorhin jedoch, als wir im Wald ankamen, gerade die Mittagszeit an. Berücksichtigt man die paar Stunden, die wir in dem Tunnel verbrachten, müssen wir am frühen Morgen in der Lagune zu uns gekommen sein. Die Magier hatten also mindestens die halbe Nacht Zeit, um uns von der Küste zu ihrem Versteck zu bringen; selbst wenn wir also dorthin zurückfinden, ist die Anlegestelle, an der wir strandeten, möglicherweise noch kilometerweit entfernt und außerdem in einer uns unbekannten Richtung.“
Diese Worte nahmen Spiffi seinen Tatendrang.
„Im Übrigen“, ergänzte Tado nach einer kurzen Pause, die dem Näherkommen der Schwankmotten und dem Auftischen einiger mehr oder weniger appetitlich aussehenden Speisen geschuldet war, „bezweifle ich, dass wir vier in der Lage wären, eines der großen Schiffe Telkors alleine zu steuern.“
Damit hatte er tatsächlich nicht Unrecht, denn keiner von ihnen kannte sich auch nur im Mindesten in der Seefahrt aus. Auch Lukdan schien mittlerweile einzusehen, dass ihnen kaum eine andere Wahl blieb, als den Magiern noch eine Weile zu folgen.
„Vielleicht sollten wir doch unsere drei Führer nach dem Verbleib der Besatzungsmitglieder befragen“, sagte er nach kurzem Überlegen. „Wenn sie noch nicht tot sind, können wir sie möglicherweise befreien. Mit etwas Glück erinnern sie sich daran, in welcher Richtung wir die Küste finden.“
Tado hielt nichts von diesem Vorschlag, erwiderte allerdings nichts, sondern nahm sich stattdessen eine goldgelbe Frucht vom Tisch, bei der es sich vermutlich um eine derjenigen handelte, deren Ernte er bereits auf dem Weg zum Gasthaus hatte beobachten können. Sie schmeckte süßlich, enthielt allerdings einen großen Kern, und für einen Moment befürchtete er, sich daran einen Zahn abgebrochen zu haben, konnte sich jedoch einen Moment später beruhigt vom Gegenteil überzeugen.
„Du bist sicher, dass dieses Vorhaben weniger gefährlich ist, als sich gemeinsam mit hunderten Magiern einem der Lords zu stellen?“, fragte Yala ein wenig neugierig, denn offenbar schien sie seinem Vorschlag nicht ganz abgeneigt zu sein.
„Nein“, antwortete Lukdan. „Wie sollte ich mir sicher sein können? Aber es klingt vielversprechender als der Plan der Magier. Selbst wenn sie nämlich den Lord bezwingen, haben sie noch nicht viel erreicht. Immerhin wollen sie herausfinden, was es mit dieser merkwürdigen Zitadelle auf sich hat, und durch seinen Tod würde sich gerade einmal ein kleines Zeitfenster öffnen, in dem sie ins Innere des Gebäudes gelangen könnten. Alles, was danach geschieht, liegt im Ungewissen.“
Damit hatte Lukdan eigentlich Recht, fand Tado. Er vergaß immer wieder, dass das aberwitzige Vorhaben der Magier nur als Stein des Anstoßes für ihren eigentlichen Plan dienen sollte.
„Dein Vorschlag ist gar nicht mal so schlecht“, sagte Spiffi schließlich zu Lukdan. „Nach allem, was wir gehört haben, sind Magier mit dem Umsetzen ihrer Vorhaben auch nicht unbedingt die Schnellsten, und ehe wir es uns versehen, verbringen wir sonst noch den Rest unseres Lebens auf Telkor.“
„Mir behagt zwar der Gedanke, unsere Retter zu hintergehen, noch immer nicht“, wandte Yala ein. „Aber wenn uns schon keine andere Wahl bleibt, dann sollten wir versuchen, alle nötigen Informationen zusammenzusammeln, bevor wir in diesem ominösen Tal ankommen. Ich habe so ein ungutes Gefühl, dass uns die Magier nicht mehr entkommen lassen werden, sobald wir den Rest ihrer Gruppe zu Gesicht bekommen haben.“
Tado wollte ergänzen, dass eine ungefährliche Flucht auch zum jetzigen Zeitpunkt wahrscheinlich bereits unmöglich war, dann jedoch spürte er, wie sich plötzlich aus dem allgemeinen magischen Sud, der ganz Telkor umgab, eine mächtige Präsenz herauszukristallisieren begann und er schluckte den Satz, der ihm auf der Zunge lag, sofort wieder hinunter. Als er den Kopf hob und zur Eingangstür des Gasthauses blickte, sah er, wie ein dunkel gekleideter, nicht gerade freundlich dreinblickender Magier den Raum betrat. Tado hatte keine Zweifel daran, dass die unheimliche Aura von diesem Neuankömmling ausging. Seine Kraft musste gewaltig sein, zwar bei weitem nicht so groß wie die der Oberen Vier, doch würde er wahrscheinlich jeden der hier Anwesenden in Windeseile vernichten können. Zu allem Überfluss schien er nun unmittelbar auf die Gefährten zuzusteuern.
„Wir sollten unser Gespräch später fortsetzen“, sagte Tado leise und deutete unauffällig in Richtung des Magiers. Die Blicke der Gefährten folgten seiner Geste; Lukdan musste sich umdrehen, da er, wie auch Lillyopha und Juphien vor wenigen Minuten, mit dem Rücken zur Tür saß. Sie alle verstanden jedoch, was Tado ihnen sagen wollte.
Der Magier benötigte noch eine ganze Weile, ehe er schließlich am Tisch der Gefährten ankam, da er auf seinem Weg durch den großen Raum immer wieder von einigen Leuten und zum Teil sogar von Schwankmotten angesprochen wurde. Er musste hier in Telkor ziemlich bekannt sein.
„Ich hoffe, es stört euch nicht, wenn ich mich einen Moment setze“, sagte er mit relativ leiser Stimme und ließ seinen Worten auf der Stelle Taten folgen. Er trug recht merkwürdige, unordentliche Kleidung, die auch nach genauerem Hinsehen noch immer den Eindruck machte, als hätte er sich einfach eines der schwarzen Segel von Telkors Schiffen um den Leib gewickelt. Allgemein machte er, verglichen mit Talaria, einen geradezu chaotischen Eindruck. Sein an einigen Stellen bereits grau werdendes Haar hing ihm wild ins Gesicht, am linken Arm hatte er einige Kratzspuren, als wäre er vor kurzem in einen Dornenbusch gefallen. Würde es sich bei ihm nicht um einen Magier, sondern um einen Menschen handeln, hätte Tado ihn auf Anfang fünfzig geschätzt. „Wisst ihr, ich kenne das Reich vom Lord des Wassers recht gut“, fuhr er fort, nachdem keiner der Gefährten es für notwendig befunden hatte, auf seine anfänglichen Worte etwas zu erwidern. „Aber euch habe ich hier noch nie zuvor gesehen; ihr mögt daher meine Neugier verzeihen.“
Nach dieser Ansprache erwartete der Magier nun definitiv eine Antwort. Tado sah einen Moment verstohlen zu dem Tisch hinüber, an dem sich Lillyopha und Juphien nun zusammen mit Talaria befanden, doch eine Schwankmotte, die gerade die Getränke an einer dazwischen liegenden Tafel nachfüllte, versperrte die Sicht. Als er seinen Blick wieder zurückschweifen ließ, bemerkte er, dass keiner der anderen zu wissen schien, was in dieser Situation am besten zu erwidern war. Bevor sie sich durch das peinliche Schweigen vollends verdächtig machten, fasste sich Tado ein Herz und begann, sich eine Geschichte aus den Fingern zu saugen, von der hoffte, dass sie halbwegs plausibel klingen würde und für sein Gegenüber schwierig nachzuprüfen war.
„Das ist nicht weiter verwunderlich“, sagte er schließlich in recht beiläufigen Ton, was ihm zunächst noch recht gut gelang, denn bisher entsprachen seine Worte schließlich der Wahrheit. „Wir leben normalerweise im Reich vom Lord des Feuers und sind nur vorübergehend in diesem Gebiet unterwegs.“
Spiffi weitete bei diesen Worten erschrocken die Augen; Yala versteckte ihr halbes Gesicht hinter ihrem Trinkgefäß aus Drachenfels, in dem sich schon längst kein Wasser mehr befand. Nur Lukdan wahrte eine eher desinteressierte Miene.
„Das ist interessant“, unterbrach ihn der Magier und gab Tado damit die Gelegenheit, sich einen Grund für ihren Aufenthalt in dem Gasthaus auszudenken. „Man sagt, er wäre als einziger der Oberen Vier nicht zurückgekehrt. Wisst ihr vielleicht etwas darüber, wo ihr doch direkt aus seinem Reich stammt?“
„Leider nicht“, antwortete Tado. „Wir kommen gerade erst von einem Einsatz außerhalb Telkors zurück.“
Diese Worte schienen den Magier zu überraschen.
„Beeindruckend“, sagte er dann. „Da ihr alle Waffen bei euch tragt, nahm ich an, dass eure magischen Kräfte nicht allzu mächtig seien und ihr daher keinerlei Arbeiten außerhalb der Insel erledigen würdet.“
Er ließ seinen Blick in die Runde schweifen und blieb an Lukdan hängen.
„Du scheinst mir jedoch ziemlich stark zu sein“, stellte er fest. „Was für eine Art von Magie benutzt du, bei der eine solch große körperliche Kraft vonnöten ist?“
„Schwertmagie“, antwortete Lukdan knapp.
„Schwertmagie?“, wiederholte sein Gegenüber. „Davon habe ich noch nie etwas gehört.“
„Wie solltest du auch?“, erwiderte der Mann aus Akhoum mit erstaunlich gut gespielter Verständnislosigkeit. „Immerhin habe ich sie erfunden.“
Yala verschluckte sich vor Schreck an einer der goldgelben Früchte. Tado jedoch nickte zufrieden. Lukdan hätte einen guten Magier abgegeben, wäre er kein Mensch gewesen. Ihr Gegenüber zeigte sich nun regelrecht begeistert.
„Wie gerne würde ich mehr darüber erfahren“, sagte er etwas wehmütig. „Leider bin ich etwas in Eile. Wie es aussieht, sind vor kurzem ein paar Menschen in Telkor gestrandet. Zwar haben wir sie unschädlich machen können, doch anscheinend brachten sie eine gefährliche Waffe auf die Insel und waren in der Lage, sie irgendwo hier in diesem Gebiet zu verstecken. Der Lord des Wassers hat mich ziemlich aufgebracht damit beauftragt, sie ausfindig zu machen. Ihr habt nicht zufällig etwas Verdächtiges auf eurem Weg hierher bemerkt?“
Die Gefährten verneinten dies.
„Wenn dich der Lord mit solch einer wichtigen Aufgabe betraut hat, dann musst du wohl einer seiner mächtigeren Untergebenen sein“, stellte Yala fest, wobei Tado nicht ganz einleuchtete, worauf sie eigentlich hinauswollte.
„Das ist wahr“, bestätigte der Magier. „Mein Name ist Vold. Ihr habt sicher schon von mir gehört.“
„Ja“, antwortete Yala, was natürlich nicht stimmte. „Wie geht die Suche bisher voran?“
„Schleppend“, erwiderte Vold. „In der Lagune der Phantommagie habe ich eine Spur gefunden, doch sie ist sehr undeutlich und nicht gerade vielversprechend. Auch weiß ich nicht, ob sie überhaupt etwas mit meinem Auftrag zu tun hat. Aber ich möchte eure Gemüter nicht mit diesem Problem belasten.“
Mit diesen Worten stand er auf, und sein Blick fiel auf die Drachenklinge, die Tado unvorsichtigerweise noch immer mit sich herumtrug.
„Dieses Schwert“, sagte Vold. „Würdest du es mir für einen Moment aushändigen?“
Spiffi schien bei diesen Worten fast das Herz stehen zu bleiben. Auch bei den anderen breitete sich eine gewisse Nervosität aus.
„Sicher“, erwiderte Tado und reichte ihm die Waffe. „Aber es ist nicht das, wonach du suchst.“
Dieser Satz klang wenig überzeugend.
„Das mag sein“, antwortete Vold. „Leider bin ich kein Sammler und habe daher auch nur vage Vorstellungen über den Gegenstand, den zu suchen mir aufgetragen wurde. Doch der Lord sprach unmissverständlich von einem Schwert. Es hieß, es würde Drachenfels schneiden können.“
Mit diesen Worten ließ er es langsam auf eines der Trinkgefäße sinken und stach zu. Mit einem Knall flog der Becher auf Tado zu, und dieser riss gerade noch eine Hand hoch und fing ihn auf, bevor er sein Gesicht treffen konnte und ihm womöglich noch die Nase brach. Zur Verwunderung der Gefährten und zur Enttäuschung Volds war das Gefäß unversehrt. Tado überraschte dieser Umstand nicht wirklich. Er hatte irgendwie gespürt, dass der Lord des Feuers ihn beschützen würde, denn niemand sonst konnte für das merkwürdige Verhalten des Schwertes verantwortlich sein.
„Schade“, ließ Vold vernehmen. „Verzeiht mir, dass ich euch verdächtigt habe, aber leider bin ich gezwungen, jedem Hinweis nachzugehen.“
Er gab Tado die Drachenklinge zurück und empfahl sich. Die Gefährten warteten, bis sich der mysteriöse Magier sowohl außer Hör- als auch Sichtweite befand, ehe sie es wagten, erleichtert aufzuatmen.
„Warum versteckst du dieses verdammte Schwert nicht irgendwo und besorgst dir eine neue Waffe?“ herrschte Yala Tado an.
Irgendwie schien sie die Tatsache, dass die Waffe den Drachenfels soeben unversehrt gelassen hatte, viel beunruhigender zu finden als die zurückliegende Begegnung mit Vold. Er ging jedoch nicht weiter auf ihre Frage ein, denn im Moment gab ihm etwas ganz anderes zu denken: Wie Yala dem Magier hatte entlocken können, war er es gewesen, der vor kurzem die Lagune der Phantommagie durchsuchte. Mit leichtem Schaudern dachte Tado an jene unheimliche Erscheinung zurück, die er bei ihrer Flucht vom Inneren des Tunnels aus gesehen hatte. Wenn dies tatsächlich Volds Werk gewesen war, dann hoffte er, er würde diesem Magier nie wieder gegenüberstehen müssen, erst recht nicht als Feind.
„Was genau will Telkor eigentlich mit diesem Schwert?“, fragte Yala weiter, als Tado nach etwa zehn Sekunden noch immer nichts auf ihre Worte erwidert hatte.
„Ich weiß es nicht“, gestand er. Einen Moment lang dachte er darüber nach, den anderen davon zu erzählen, wie das Schwert einst durch den Zauber des Lords versehentlich die Insel der Magier verließ, entschied sich dann jedoch dagegen. Derartiges Wissen konnte er nach Kenntnis der Gefährten gar nicht haben. „Vielleicht besitzt es eine geheime Kraft, die die Magier für die Zwecke Telkors missbrauchen wollen.“
Sehr zu seiner Erleichterung kamen in diesem Moment Lillyopha und Juphien zurück. Beide waren kreidebleich; anscheinend lag dies jedoch nicht an ihrem Gespräch mit Talaria.
„Ihr habt euch doch nicht etwa mit dem Mann dort unterhalten?“, fragte Lillyopha unsicher und deutete mit einer fahrigen Geste in die Richtung, in der Vold vor wenigen Sekunden verschwunden war. Zu ihrem Entsetzen bejahten die Gefährten ihre Vermutung. Sie schlug beide Hände an den Kopf und glitt in einer langsamen, fließenden Bewegung zu Boden, griff nach ihrem Trinkgefäß auf dem Tisch und schluckte ihre Verzweiflung mit dem darin befindlichen Wasser hinunter. Auch Juphien setzte sich wieder zu den anderen, allerdings in einer weniger dramatischen Weise.
„Wisst ihr eigentlich, wer dieser Mann ist?“, fragte Lillyopha, wartete jedoch keine Antwort ab, sondern sprach sofort weiter. „Sein Name ist Vold. Er gehört zu den zwölf Herakinen, jenen Magiern, die den Oberen Vier direkt unterstellt sind. Sie beherrschen geheime und bestialische Magie; wenn er eure wahre Identität herausgefunden hätte, wäret ihr auf der Stelle tot gewesen.“
„Ihr habt ihm hoffentlich nichts von unserem Vorhaben erzählt“, sagte Juphien aufgeregt.
„Nein“, erwiderte Tado. „Wenngleich es mich ein wenig erschüttert, wie wenig Vertrauen ihr uns entgegenbringt, auch wenn wir nur Menschen sind.“
Die beiden Magierinnen atmeten erleichtert auf und ignorierten seine provozierende Bemerkung.
„Eigentlich ist sogar das Gegenteil der Fall“, ergänzte Yala die Worte Tados. „Er hat uns von sich aus ein paar Dinge verraten, die allerdings ziemlich beunruhigend sind. Nicht nur ist Vold selbst der Anführer des Suchtrupps, den der Lord des Wassers entsandt hatte, er erzählte uns auch, dass er in der Lagune der Phantommagie eine Spur oder dergleichen gefunden habe.“
Verraten war das falsche Wort, fand Tado, denn immerhin hatte Yala die Preisgabe dieser Informationen regelrecht erzwungen, wofür er sie im Übrigen zutiefst bewunderte. Die Nachricht ließ jedoch die Erleichterung der beiden Magierinnen wieder in eine nervöse Unsicherheit umschlagen.
„Vold ist uns also auch auf die Spur gekommen“, stellte Lillyopha nachdenklich fest. „Eben teilte uns schon Talaria mit, dass wohl einige Einzelheiten über das bevorstehende Treffen an die Oberen Vier gelangt seien. Daher werden wir die Versammlung nun ein Stück weiter südlich als geplant im Tal abhalten.“
Weitere Einzelheiten erfuhren die Gefährten vorerst nicht. Die beiden Magierinnen hielten es wohl für besser, sich zuerst mit Crius abzusprechen, welche Informationen über das bevorstehende Treffen sie gefahrlos weitergeben konnten. Da dieser sich jedoch außerhalb der Siedlung der Schwankmotten befand (denn er vermochte sich zwar vor den Augen der anwesenden Magier zu verbergen, doch zehrte das ständige Benutzen des Zaubers sehr an seinen Kräften, und so hatte er sich in den Wald zurückgezogen, wo er sich nur gelegentlich den Blicken der dort lauernden Kreaturen entziehen musste), Lillyopha und Juphien das Dorf jedoch wegen der Kargahle nicht verlassen konnten, verbrachten die sechs den restlichen Tag im Gasthaus. Tado begann der feuerfarbene Himmel zu stören; sein Zeitgefühl war völlig aus den Fugen geraten, seit er Telkor betreten hatte, denn das durch die dichten Kronen der Bäume scheinende Licht, das von den großen Fenstern des Gasthauses aufgenommen wurde und den Raum mäßig erleuchtete, besaß stets die gleiche Intensität, sodass er nach einigen Stunden an dem noch immer mit Essen beladenen Tisch nicht mehr wusste, ob es Nachmittag, Abend oder bereits mitten in der Nacht war.
Die meiste Zeit verbachten die Gefährten damit, den Magierinnen von den Geschehnissen um Akhoum und Syphora zu erzählen, denn es interessierte sie sehr, wie die Begegnungen mit anderen Magiern Telkors verliefen. Lukdan gelang es irgendwann während des Gesprächs, in unauffälliger Weise den Verbleib der Schiffsbesatzung, die bei ihrer Ankunft von den Untergebenen des Lords des Wassers gefangen genommen worden waren, anzusprechen. Offenbar brachte man sie derzeit in eine Mine oder dergleichen, die sich irgendwo im Südwesten Telkors befand; Genaueres wussten die Magierinnen nicht darüber, da sie sich bisher noch nie in diese Gefilde vorgewagt hatten. Mit derart dürftigen Informationen würde es allerdings schwierig werden, die Besatzungsmitglieder ausfindig zu machen.