Читать книгу Die Zitadelle - Daniel Sigmanek - Страница 8
Das Monster
ОглавлениеErschöpft und von Schmerzen gepeinigt lehnte sich Lukdan an einen großen Felsen irgendwo in den Klippen, die das Graustaubtal nach außen hin abschirmten. Sein ganzer Körper schien noch immer zu brennen von dem schwarzen Nebel Volds. Dass er diesen Kampf überlebt hatte, verdankte er keinesfalls seinen übermenschlichen Kräften; letzten Endes war es unglaubliches Glück gewesen, dass ihn der Angriff des Herakinen unmittelbar an den Fuß der Felswand schleuderte. Zwar mochte sie zu hoch und zu steil sein, um an ihr hochzuklettern, doch lag ganz in der Nähe der Leichnam einer Blauechse, und in dem er den großen Körper des Reptils gegen die Wand lehnte, war es ihm gelungen – die Leiche als Trittstufe benutzend – sich mit einem beherzten Sprung an die zerklüfteten Klippen zu retten, die auf der Felswand thronten.
Einen Moment lang dachte er darüber nach, aufzustehen, zu versuchen, irgendwo einen Magier zu finden, der ihm medizinische Hilfe leisten konnte. Noch kannte ihn immerhin niemand außer dem Heer, das sich in diesem Moment inmitten des Graustaubtals befand. Angesichts der Tatsache jedoch, dass er kaum noch stehen konnte und der hohe Blutverlust ihm ebenfalls zu schaffen machte, ließ er es bleiben. Mit diesen Verletzungen würde er ohnehin nur noch wenige Stunden zu leben haben, wenn überhaupt.
Aus dem Augenwinkel gewahrte er eine Bewegung zwischen den Klippen zu seiner Linken. Als er seinen Kopf langsam in jene Richtung drehte, stellte er überrascht und auch ein wenig erschrocken fest, dass es sich bei der Gestalt, die unerwartet geschickt über die scharfen Felsen turnte, um Spiffi handelte. Der Bogenschütze bewegte sich direkt auf den Mann aus Akhoum zu. Er befand sich in einem nur wenig besseren Zustand als Lukdan: Zwar konnte er seine Arme und Beine scheinbar schmerzfrei bewegen, doch seinen Bauch zierte eine geradezu gigantische Wunde, die notdürftig und wenig wirkungsvoll mit einem dreckigen Stück Stoff verbunden worden war.
„Du bist noch immer am Leben?“, fragte er Spiffi ein wenig verwundert.
„Ja“, antwortete der Bogenschütze. „Nachdem Volds Angriff mich erwischte, habe ich für einen kurzen Moment die Besinnung verloren. Als ich wieder zu mir kam, war um mich herum eine große Menge Asche aufgewirbelt worden und ich konnte kaum noch etwas erkennen. Um einen besseren Überblick zu erhalten, bin ich in Richtung der Felswand gegangen; im Schutz des Aschestaubs hat mich wohl niemand gesehen. Ich fand eine Stelle, an der offenbar ein mächtiger Zauber oder dergleichen ein Stück Felsen herausgesprengt hatte. Dort bin ich hochgeklettert. Doch bevor ich Stellung beziehen und aus sicherer Deckung Pfeile verschießen konnte, überwältigte mich erneut eine Ohnmacht, aus der ich erst vor wenigen Momenten erwachte. Dann sah ich dich.“
Lukdan kommentierte Spiffis Erläuterungen mit einem leichten Nicken. Dann glitt sein Blick ins Tal hinab. Die aufgewirbelte Asche begann langsam wieder zu Boden zu sinken; der Kampf schien vorüber zu sein. Er sah die Leichen vieler Magier, einiger Blauechsen und einen zerteilten Blutskorpion. Das feindliche Heer hatte einen weitläufigen Kreis gebildet, in dessen Mitte sich einige – offensichtlich gefesselte – Personen befanden. Wenn ihn nicht alles täuschte, befanden sich auch Yala und Tado unter ihnen. Das leuchtende Gelb von Lillyophas Gewand sah er nicht.
„Es sieht nicht so aus, als würden sie sie töten wollen“, bemerkte Spiffi.
„Vermutlich bringen sie sie ebenso wie die Besatzung des Schiffes in die Mine, von der uns die Magier erzählten“, erwiderte Lukdan.
Sie konnten mitansehen, wie die Gefangenen nach und nach auf einen hölzernen Wagen verschafft wurden, den ein Blutskorpion zog.
„Wir sollten sie verfolgen“, fand Spiffi und stand auf. „Es ist sicher leichter, sie zu befreien, bevor sie die Mine erreichen.“
Lukdan hielt ihn mit der ihm noch verbliebenen Kraft zurück.
„Das mag sein“, antwortete er. „Doch in unserem Zustand können wir weder mit der Geschwindigkeit unserer Feinde mithalten, noch wäre es eine gute Idee, bei derart vielen Magiern unsere Deckung zu verlassen. Im Moment wären wir jedem Gegner unterlegen. Wie es aussieht, scheint das Heer dort unten es nicht sehr wichtig damit zu haben, sich Gewissheit über unseren Verbleib zu verschaffen. Wir sollten vorerst lieber alles daransetzen, uns selbst am Leben zu erhalten. Danach können wir uns immer noch auf die Suche nach der Mine machen.“
Es bedurfte nur wenig Nachdruck in den Worten Lukdans, um Spiffi zur Zustimmung zu bewegen. Selbst wenn sie im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen wären, hätten sie es niemals mit der Geschwindigkeit des Blutskorpions aufnehmen können. So machten sie sich schließlich daran, einen Weg aus den Klippen heraus zu finden. Der Bogenschütze musste Lukdan dabei stützen, da der Krieger sein rechtes Bein praktisch nicht mehr benutzen konnte. So kamen sie nur quälend langsam voran, erreichten nach einer halben Stunde halsbrecherischer Kletterei einen der wenigen Pfade, die hinab ins Tal führten, und schleppten ihn sich in entgegengesetzter Richtung hinauf. Es muss irgendwann zu später Stunde gewesen sein, wo außerhalb Telkors normalerweise die Dunkelheit einsetzte, da sie die Undai-Ebene erreichten. Finstere Wolken verdeckten den orangeroten Himmel nun fast vollständig, und die Luft fühlte sich an, als sei ein Sturm im Begriff, heraufzuziehen.
Sie verliefen sich hoffnungslos in dem Labyrinth von Hügeln, die allesamt gleich aussahen, und auch die verkümmerten Kiefern zeigten bald schon in ihren müden Augen keine Unterschiede mehr, an denen man sich hätte orientieren können.
Irgendwann brachen Spiffi und Lukdan schließlich zusammen – kraftlos, von ihren Verletzungen zermürbt, und das Bewusstsein begann ihnen zu entschwinden. Sie waren auf den Südhang eines wohlgeformten, etwa acht Meter hohen Hügels gefallen, auf dem eine außergewöhnlich kräftige Kiefer wuchs, nicht sehr groß, aber mit einem dicken Stamm und zahlreichen Nadeln; und verborgen im dichten Geäst schimmerte das einzigartige Gefieder eines weißen Mondscheingleiters wie das bleiche Licht eines Sterns. Dieser Vogel, der so anders als seine dunkel gefärbten Artgenossen aussah, war das letzte, was Spiffis Augen erblickten, ehe er, nur wenige Momente nach Lukdan, das Bewusstsein gänzlich verlor.
* * *
Viele Stunden waren vergangen, ehe Tado in der zurückliegenden Nacht Schlaf hatte finden können. Der Gedanke, den Rest seines Lebens in einer Mine auf Telkor verbringen zu müssen, ebenso wie das scharfkantige, nahezu unbearbeitete Holz des Wagens, mit dem man ihn und die wenigen Überlebenden der Widerstandsgruppe in scharfem Tempo nach Südwesten kutschierte, hielten ihn lange Zeit wach. Er war nicht die einzige Person des ungleichen Trupps, die sich von Zeit zu Zeit ausruhen musste: Auch die Steinzwerge schienen, im Gegensatz zu den Magiern, eine gewisse Menge Schlaf zu benötigen. Allerdings hielten sie es nicht für nötig, nur deswegen den unermüdlichen Sprint der Blutskorpione aufzuhalten; sie nächtigten schlichtweg auf dem Rücken der Kreaturen.
Auf dem Wagen der Gefangenen hielten zwei Steinzwerge Wache und sorgten dafür, dass die Mitglieder der Widerstandsgruppe weder miteinander sprechen konnten noch irgendein anderes auffälliges Verhalten an den Tag legten. Mit den ordanen Handschellen, die die Kräfte der Magier weitgehend unterdrückten, waren sie sowieso zu keiner Gegenwahr imstande und machten die meiste Zeit über einen erschöpften Eindruck.
Sie kamen unglaublich schnell voran. Am Ende des Tages hatten die Blutskorpione eine Strecke zurückgelegt, für die Tado zu Fuß wohl mindestens die vierfache Zeit benötigt hätte. Die Landschaft, an der sie vorbeikamen, zeigte sich äußerst abwechslungsreich, doch sie zog zu schnell vorbei, als dass man sich den Weg hätte merken können. Der kleine Trupp schien ganz bewusst einem Pfad zu folgen, der fernab jeglicher Zivilisation durch das Land führte. Kein einziger Magier kreuzte ihren Weg, sie sahen keinerlei bewohnte Gebäude, nur gelegentlich zog eine überwucherte Ruine an ihnen vorbei. Was Tados Blick jedoch weitgehend fesselte, seit sie das trübe Graustaubtal verlassen hatten, war eine schlanke, finstere Silhouette am nördlichen Horizont, die sich gelegentlich zeigte, wenn sie einen flachen Landstreifen durchquerten. Sie war allerdings zu weit weg, um Einzelheiten erkennen zu können und gegen Abend, als sie in ein kleines Waldstück einbogen, verschwand sie gänzlich aus seinem Sichtfeld. Er vermutete, dass es sich dabei um die Zitadelle handelte.
In der zweiten Nacht schlief Tado deutlich besser, denn er hatte nun endgültig realisiert, dass die Steinzwerge ihm nicht nach dem Leben trachteten. Seine größte Sorge in diesem Moment galt seinen Gefährten, über deren Verbleib er leider nicht viel wusste. Yala schien vorerst außer Gefahr zu sein, zumindest, solange sie Beldas‘ Magie standhielt. Über Lukdans und Spiffis Schicksal konnte er in diesem Moment jedoch nur Vermutungen anstellen. Auch ob Crius, Lillyopha und Juphien überlebt hatten, lag im Ungewissen.
Am frühen Morgen des nächsten Tages blieben alle neun Blutskorpione des Trupps abrupt stehen, sodass ein Ruck durch den hölzernen Wagen ging und Tado mit einem leichten Schreck erwachte. Sie befanden sich am Boden einer etwa vierzig Meter tiefen und über zweihundert Meter breiten Grube. Rings um sie herum herrschte geschäftiges Treiben. Es waren hauptsächlich Steinzwerge, die große Kisten mit verschiedenen Gesteinen darin eifrig hin und her trugen. Er sah merkwürdige, hölzerne Konstruktionen, mit denen schwere Lasten gehoben und auf von Blutskorpionen gezogene Wagen gehievt wurden. Der Boden der Grube war größtenteils flach, nur zum Rand hin bildeten herabgestürztes Geröll und Sand eine leichte Steigung. Offenbar hatte man die ganze Anlage direkt in das umliegende Land hineingegraben, denn die senkrecht aufragenden Wände, die die Grube begrenzten, bestanden aus schwarzer Erde und waren keine Felsen wie im Graustaubtal. Es gab, wie es schien, nur einen einzigen Eingang – in nordöstlicher Richtung gelegen – der von zahlreichen Steinzwergen stark bewacht wurde. Pflanzen wuchsen hier unten keine.
Der hölzerne Wagen, der die Gefangenen bis hierher transportiert hatte, erzitterte leicht, als man den vorgespannten Blutskorpion von seiner Last befreite und sich anschließend daran machte, die Mitglieder der Widerstandsgruppe von dem Gefährt herunterzuzerren. Sie befanden sich unmittelbar vor einem kleinen Hügel ziemlich genau im Zentrum der Grube, und zahlreiche Eingänge – gegraben und mit Holzbalken abgestützt – führten in sein Inneres.
Tado wurde vom Rest der Magier getrennt. Offensichtlich pflegten die Steinzwerge Menschen zu einem anderen Teil der Mine zu bringen, denn während man ihn bereits mit unfreundlichen Worten durch einen der Eingänge trieb, mussten sich die übrigen Mitglieder der Widerstandsgruppe zunächst einer offenbar schmerzhaften Prozedur unter Leitung eines besonders breitschultrigen Steinzwerges unterziehen, an deren Ende sie allesamt das Bewusstsein verloren und in diesem Zustand zügig über einen etwas abgelegenen Eingang ins Innere der Mine gebracht wurden. Was genau der Steinzwerg gemacht hatte, um all die Gefangenen in Ohnmacht fallen zu lassen, konnte Tado nicht erkennen. Seine Aufmerksamkeit galt in diesem Moment ohnehin dem vor ihm liegenden, recht steil bergab führenden Gang, durch den er in recht forschem Tempo von vier Steinzwergen getrieben wurde. Wenige Fackeln spendeten mäßiges Licht. Nach kurzer Zeit gelangten sie an eine ausgetretene Treppe, die sie etliche Meter tiefer unter die Erde brachte, wo es kühl und modrig roch. Als sie die letzte Stufe hinter sich ließen und der Boden wieder abzuflachen begann, wurde es schließlich unübersichtlich. Nicht weniger als acht Gänge zweigten in die unterschiedlichsten Richtungen ab; einige führten nach oben, andere noch weiter in die Tiefe, wieder andere verliefen weitgehend gerade. Die Steinzwerge entschieden sich ohne großes Zögern für einen der zweitgenannten Gänge, in dem die Fackeln noch spärlicher angebracht waren als im zurückliegenden Abschnitt.
Als Tado gewahrte, dass auch von diesem Stollen zahlreiche Türen und Durchgänge in den Wänden rechts und links abzweigten, stieg eine gewisse Unruhe in ihm auf. Er mochte sich zwar zurzeit in der Gewalt des Feindes befinden, doch hatte er die Hoffnung auf eine mögliche Flucht noch längst nicht aufgegeben. Nun schien die Situation jedoch mehr und mehr außer Kontrolle zu geraten. Diese sogenannte Mine, in die man ihn gebracht hatte, entpuppte sich als ein wahres Labyrinth aus hunderten miteinander verzweigten Gängen, mal bergauf, dann wieder steil bergab führend. Selbst wenn sein Orientierungssinn nicht so schlecht gewesen wäre, wie er damals im Grenzgebirge feststellen musste, würde er aus diesem unterirdischen Irrgarten nie wieder allein herausfinden.
Seine Gedanken überschlugen sich. Draußen in der großen Grube, unter der die Mine sich auszudehnen schien, hatte er weder Menschen noch Magier gesehen. Solange er sich also in der Gewalt der Zwerge befand, würde er das Tageslicht vermutlich nie wieder erblicken. Doch auch wenn er seinen Feinden irgendwie entkäme, säße er für immer in den Stollen dieser Mine fest.
Zwei Steinzwerge bogen einige Meter vor ihnen von rechts in den schmalen Gang ein und kamen der kleinen Gruppe anschließend entgegen. Sie waren, wie offenbar alle Mitglieder ihres Volkes, bewaffnet. Tado hatte sich derweil in seiner Verzweiflung einen mehr oder weniger erfolgversprechenden Plan einfallen lassen, sich den Verlauf ihres Weges durch das Labyrinth zu merken. Mit einer ungeschickten Bewegung täuschte er ein Stolpern vor und ließ sich zu Boden fallen. Seine Hände krallten sich in die festgetretene Erde und bekamen ein winziges, spitzes Steinchen zu fassen, ehe er unsanft von seinen Begleitern wieder hochgezerrt wurde. Anschließend bogen sie nach links ab und gingen eine steile Treppe hinunter.
Tado begann nun, den Weg durch die Mine mitzuschreiben. Mit dem Stein ritzte er Symbole in seine eigenen Fingernägel: Einen waagerechten Strich, wann immer sie links abbogen; einen senkrechten, gingen sie nach rechts. Er zählte die Türen und Durchgänge, an denen sie vorbeigingen, ehe sie erneut ihre Richtung änderten und schrieb ihre Zahl vor das nächstfolgende Symbol. So verging fast eine ganze Stunde, ein schier endloser Marsch durch Gänge und Stollen, bevor schließlich, als seine Fingernägel kaum noch Platz für neue Symbole boten, der helle Klang etlicher Spitzhacken, die hartes Gestein bearbeiteten, an sein Ohr drang. Nur wenig später verbreiterte sich der Gang zusehends, ehe er schließlich in eine durch kompliziert aussehende Holzkonstruktionen gestützte Höhle überging.
Man brachte Tado zu einem finster dreinblickenden Steinzwerg mit dem Namen Faugol. Er trug eine schwere Axt auf dem Rücken und einen Bund mit zahlreichen Schlüsseln am Gürtel. Er bedeutete den vier Männern, die Tado begleiteten, sie könnten verschwinden und zerrte den Gefangenen im Anschluss zu einer steinernen Bank. Dort legte er Tado eine Fußfessel aus Drachenfels an und löste anschließend die Seile, die seine Hände auf dem Rücken fixierten. Er nahm ihm den Waffengürtel ab und übergab ihn einem anderen, deutlich schmächtiger, aber immer noch sehr kräftig aussehenden Steinzwerg, der den überreichten Gegenstand, ohne ihn einer genaueren Prüfung zu unterziehen, in einen Nebenraum brachte.
Tado spielte einen Moment lang mit dem Gedanken, die Drachenklinge herbeizurufen und Faugol zu überwältigen, entschied sich jedoch nach wenigen Sekunden dagegen. Er hatte die Kraft der Steinzwerge während des Kampfes im Graustaubtal zu spüren bekommen. Gegen derartige Stärke war er machtlos.
Faugol gab ihm anschließend zu verstehen, dass er sich von nun an in der Gewalt der Steinzwerge befände, für sie würde arbeiten müssen und ihnen stets zu gehorchen hatte. Jeder Versuch eines Widerstands sollte er mit grenzenlosem Schmerz bezahlen. Tado nickte nur. Anschließend brachte man ihn über einen kurzen, breiten Durchgang in eine andere, unwesentlich kleinere Höhle, von der wiederum sechs hohe, breite Stollen abzweigten. Von dort gelangten sie schließlich an den Ort, an dem die tatsächlichen Minenarbeiten stattfanden. Es handelte sich um einen niedrigen, aber sehr weitläufigen und unübersichtlichen Raum, erfüllt von stickiger Luft und der quälenden Hitze zu vieler Fackeln. Von überall her drang das laute Geräusch vom Schlagen massiven Eisens auf festen Stein. Und er sah Menschen. Dutzende von ihnen, allesamt wie er auch mit einer Fußfessel aus Drachenfels bestückt, schlugen sie auf die Wände der Höhle ein, brachen große Gesteinsbrocken heraus und hievten sie anschließend in hölzerne Kisten, die von Zeit zu Zeit von mehreren Grauzwergen in einen durch eine Metalltür verschlossenen Nebenraum gebracht wurden. Die meisten Menschen verrichteten ihre Arbeit in einer derart gleichmäßigen Monotonie, scheinbar ohne ihre Umgebung überhaupt wahrzunehmen, dass Tado im ersten Moment glaubte, sie befänden sich in einer Art Trancezustand. Dann jedoch erblickte er ein paar der Besatzungsmitglieder des Schiffes, das sie nach Telkor gebracht hatte. In ihren Augen lag eine nur allzu natürliche Erschöpfung, und immer wieder sahen sie hasserfüllt zu den wenigen Wache haltenden Steinzwergen hinüber, die mit einer Peitsche und einer doppelschneidigen Axt bewaffnet waren und jeden Versuch einer Kommunikation zwischen den Gefangenen sofort gewaltsam unterbrachen.
Faugol brachte Tado ungeduldig an eine noch unbesetzte Stelle an der hintersten Wand des weitläufigen Raumes, wo es besonders stickig und weniger hell war, und erklärte ihm, was er zu tun hatte. Das Gestein war überwiegend zweifarbig marmoriert; der größere Teil zeigte eine gräuliche Färbung, nur vereinzelt fanden sich kleine, schwarze Flecken, bei denen es sich Faugols Worten nach um Drachenfels handelte. Tados Aufgabe bestand nun darin, jene wenigen Anteile des unzerstörbaren Materials aus der Wand herauszuschlagen, wobei er jedoch vermeiden sollte, mit der Spitzhacke, die er ihm in diesem Moment aushändigte, direkt gegen den Drachenfels zu hämmern, denn das würde das Werkzeug wohl nicht allzu lange durchstehen. Der Grauzwerg fügte außerdem hinzu, dass das begehrte schwarze Gestein sehr fest vom übrigen Felsen umschlossen wurde und es daher zunächst ausreichte, größere Brocken aus der Wand zu lösen, die beiden Gesteine nicht weiter voneinander zu trennen, sondern als marmorierte Klumpen in der bereitgestellten Kiste zu sammeln. Es mochte zudem vorkommen, dass Tado während seiner Arbeit auf Kristalle stoßen würde, wie Faugol ihm erklärte und anschließend auf eine etwa faustgroße, blau schimmernde Stelle in der Felswand deutete. Der Steinzwerg bezeichnete sie als wertlose Substanz und sagte, sehr zu Tados Überraschung, dass er sämtliche Kristalle, die er fand, behalten konnte. Dieser wusste zwar weder, was er damit anfangen, noch, wo er die glänzenden Steine aufbewahren sollte, aber er beschloss, sie vorerst einmal zu sammeln.
Faugol ließ ihn allein. Einer der Wache schiebenden Steinzwerge beäugte ihn misstrauisch, als Tado die Spitzhacke hob und gegen die Wand schmetterte. Nichts geschah. Es bedurfte fast einer halben Stunde unermüdlichen Schlagens, ehe sich der erste Gesteinsbrocken (nackter, grauer Fels und damit wertlos) löste und ihm vor die Füße fiel. Auf dem Boden fanden sich braune Schlieren und einige Spritzer. Vermutlich handelte es sich um getrocknetes Blut. Wer auch immer vor ihm die Wand bearbeitet hatte, schien hier ein nicht allzu schönes Ende gefunden zu haben. Diese Erkenntnis trieb Tado – wenngleich schon jetzt erschöpft und kurz davor, sich einfach hinzusetzen und eine Weile auszuruhen – zum Weitermachen an. Er warf das herausgelöste Stück Fels in die Kiste für wertloses Gestein und hob die Spitzhacke. Irgendwo hinter sich hörte er eine Peitsche knallen, zuckte kurz zusammen und traf mit seinem Hieb versehentlich auf ein Stück Drachenfels. Ein gewaltiger Schmerz durchfuhr seine Arme und breitete sich bis in seinen Rücken aus, als das eiserne Werkzeug durch den Aufprall kurz zu vibrieren begann und der gesamte Impuls in Tados Körper übergeleitet wurde. Die Peitsche hatte jedoch keineswegs ihm gegolten. Dem Knall war der halblaute Schrei eines eher schmächtig gebauten Mannes gefolgt, der unter dem mächtigen Schlag auch prompt zu Boden ging. Er arbeitete den Steinzwergen wohl offensichtlich zu langsam.
Tado schaffte es nach einer weiteren halben Stunde dann endlich, den ersten Felsbrocken mit einer kleinen, darin eingeschlossenen Drachenfelsader herauszulösen. Umsichtig hatte er, wohl als einziger in der gesamten Höhle, wie er überrascht feststellte, die Kiste schon im Vorfeld so platziert, dass das Gestein direkt dort hineinfallen würde. Den gut halbmeterbreiten Felsblock hätte er mit seiner bescheidenen Kraft auch gar nicht anheben können. Das Holz der Kiste ächzte zwar bedrohlich unter der schweren Last, die aus beträchtlicher Höhe zu Boden flog, hielt dem Aufprall aber stand. Mit dieser Taktik, die ihm eine Menge Kraft sparte, schaffte er es bis zur Mittagszeit der Anstrengung standzuhalten und füllte eine ganze Kiste mit jenen marmorierten Felsbrocken. Zwei Steinzwerge, die bereits mehrmals bei ihm vorbeikamen, um das wertlose graue Gestein abzuholen, trugen nun, offenbar sichtlich zufrieden, die Ladung Drachenfels in den Nebenraum.
Der helle Klang einer Glocke ertönte. Die Menschen rings um ihn herum legten in einer fast synchronen Bewegung ihre Spitzhacken nieder und begaben sich in Richtung Ausgang. Tado zögerte einen Moment, doch als er sah, dass sich auch die Steinzwerge zum Gehen abwandten, folgte er den übrigen Gefangenen. Sie betraten nach kurzem Fußmarsch eine weitere Höhle: Sie entpuppte sich als ein gewaltiges Gewölbe, deren Decke sich erst in gut dreißig Metern Höhe zu einer ungleichmäßigen Kuppel wölbte. Der Zweck dieses Raumes erschloss sich Tado schnell. Steinerne Tische erstreckten sich über die gesamte Länge der gut zweihundertfünfzig Meter messenden Halle. Ziemlich genau in der Mitte des riesigen Raumes, aus dessen zahlreichen Zugängen nun aus allen Richtungen Gefangene herbeiströmten, befanden sich mehrere dutzend gigantische Kessel, die über lodernden Feuerstellen hingen. Man hatte sie ein gutes Stück weit in den Boden herabgelassen, damit die Steinzwerge, die darin offenbar etwas zu essen zubereiteten, überhaupt über den Rand hinaussehen konnten. Überraschend schnell, nach kaum zehn Minuten des Wartens, hielt Tado eine warme Suppe in den Händen. Das Gericht sah nicht sehr appetitlich aus, wirkte im Schein der Fackeln wie ein grauer, klumpiger Brei, doch es schmeckte einigermaßen und sättigte vor allem, denn es war eine sehr große Portion.
Er hatte sich bewusst in die Nähe zweier Männer gesetzt, die im gleichen Raum arbeiteten wie er, denn er wollte sichergehen, auch wieder rechtzeitig zurückzufinden, um nicht ebenfalls Bekanntschaft mit der Peitsche zu machen. So geschah es eher zufällig, dass er Teile ihres mit gedämpfter Stimme geführten Gesprächs aufschnappte. Sie redeten über die Arbeit in der Mine, doch waren ihre Worte gekennzeichnet von Nervosität, und von Zeit zu Zeit mischte sich auch eine Spur von Furcht in ihre Stimme. Diese galt jedoch keineswegs den Steinzwergen und ihren brutalen Methoden, wie sie sich von den Gefangenen Gehorsam verschafften, sondern einer gänzlich anderen Person, die sich anscheinend ebenso in diesem Gewölbe befand, jedoch keineswegs zu den Untergebenen der Magier gehörte.
Einer der Männer sagte plötzlich, er müsse aufpassen, weil er heute bereits zu gute Arbeit geleistet hätte, und wollte nach dem Mittagessen ein wenig langsamer weitermachen, auch auf die Gefahr hin, einige strafende Peitschenschläge zu kassieren. Schließlich fasste Tado sich ein Herz und fragte die beiden Gefangenen nach dem Grund für ihr merkwürdiges Verhalten.
„Du musst noch ziemlich neu hier sein“, sagte der eine; Tado bestätigte diese Vermutung und er fuhr fort. „Wer außergewöhnlich gute Arbeit in der Drachenfelshöhle leistet, erregt die Aufmerksamkeit der Steinzwerge und wird kurze Zeit später an einen anderen Minenabschnitt gebracht, wo die Arbeitsbedingungen besser sind und die Wachen keine Peitschen mehr bei sich tragen.“
„Inwiefern ist das nicht erstrebenswert?“, fragte Tado ein wenig verwundert.
„Darum geht es ja auch nicht“, antwortete der andere Mann. „Die Bedingungen mögen in unserer Höhle zwar schlechter sein, doch solange wir in der Drachenfelsmine bleiben, sind wir wenigstens vor ihm sicher.“
„Wen meinst du?“, hakte Tado nach. „Einen der Aufseher?“
„Nein“, erwiderte der Mann, der zuerst gesprochen hatte. „Es sind nicht die Zwerge, vor denen wir uns fürchten. Irgendwo in den tiefer liegenden Gewölben der Mine befindet sich ein Gefangener, ein Mann von brutaler Gestalt, so sagt man. Jeder hier lebt in der ständigen Angst, ihm eines Tages zu begegnen. Schlimmes soll jenen widerfahren sein, die sich zu lange in seiner Gegenwart aufhielten. Ein Gefangener beschimpfte ihn einst mit üblen Worten (der Grund dafür blieb ungeklärt), und ein paar Nächte später war er spurlos verschwunden. Man fand nur eine Blutlache, die keinem der übrigen Arbeiter zugeordnet werden konnte. Ein anderer Mann, der in der gleichen Zelle wie jene furchteinflößende Person lebte, wurde eines Morgens tot geborgen, erdrosselt mit seiner eigenen Fußfessel!“
„Niemand kennt den Namen des mysteriösen Gefangenen“, ergänzte der zweite Mann. „Alle nennen ihn nur das Monster.“
Tado lief ein kalter Schauer über den Rücken. Die Worte der beiden Männer vermochten ihn jedoch nur kurz zu beunruhigen, denn ein kühner Gedanke begann in seinem Kopf zu reifen.
„Warum glaubt ihr, dass wir in der Drachenfelsmine vor dem Monster in Sicherheit sind?“, fragte er die beiden nach einigen Sekunden des Überlegens.
„Weil er seine Arbeit stets zur Zufriedenheit der Steinzwerge verrichtet haben soll“, antwortete der eine. „Einen solch wertvollen Gefangenen würden sie niemals in die schlimmste aller Minen schicken. Wenn dir dein Leben also lieb ist, dann solltest du dafür sorgen, die Anforderungen der Aufseher nie vollends zu erfüllen.“
Genau das gedachte Tado jedoch zu tun. Die beiden Männer mochten sich mit dem Gedanken, den Rest ihres Lebens im Untergrund dahinzuvegetieren, abgefunden haben; er allerdings hatte die Hoffnung, den Steinzwergen zu entkommen, noch immer nicht aufgegeben. Schließlich kannte er den Ausgang aus diesem Labyrinth. Das einzige, was ihm fehlte, war die nötige Kraft, um es mit den Aufsehern und eventuellen weiteren Gegnern, die sich ihm bei einer Flucht entgegenstellen würden, aufzunehmen. Wenn er das Monster jedoch auf seine Seite ziehen könnte, mochte die Sache schon wieder ganz anders aussehen.
Es blieb keine Zeit für weitere Gespräche. Der helle Klang der Glocke ertönte ein zweites Mal, und sofort erhoben sich sämtliche Gefangenen, ließen alles stehen und liegen und gingen zu ihrem Arbeitsplatz zurück.
Tado hackte wie ein Wahnsinniger. Er wollte die Steinzwerge um jeden Preis auf ihn aufmerksam machen, um so schnell wie möglich in eine andere Höhle gebracht zu werden und dem Monster näher zu kommen. In jeder anderen Situation hätte sich sein Körper mit aller Macht gegen dieses Vorhaben gesträubt, denn die Geschichten der Männer waren ihm durchaus eine Warnung gewesen. Doch in seiner derzeitigen Lage gab es keine andere Möglichkeit. Wenn er es rechtzeitig schaffte, aus der Mine zu fliehen, würde er vielleicht sogar seine Gefährten wiedersehen können. Zumindest bei Yala wusste er, dass sie noch lebte. Dieser Gedanke trieb ihn zu Höchstleistungen an, und bis in den späten Nachmittag hinein schuftete er ordentlich, ehe er seinem vergleichsweise schwachen Körper Tribut zollen musste und bald kaum mehr imstande war, die Spitzhacke überhaupt anzuheben. So trafen auch ihn gegen Ende des Tages die ersten Peitschenhiebe, deren Zahl nach der Mittagspause in der ganzen Höhle immer weiter angestiegen war.
Ein weiterer Glockenschlag besiegelte das Ende des ersten Tages für Tado. Er hatte insgesamt zweieinhalb Kisten voll Drachenfels aus der steinernen Wand befreit; ein Ergebnis, mit dem er gerade einmal im Mittelfeld der Gefangenen lag. Zwei faustgroße, bläulich schimmernde Kristalle konnte er schließlich sein Eigen nennen. Er wusste zwar noch immer nicht, was er damit anstellen sollte, doch übten sie eine gewisse Faszination auf ihn aus und so nahm er sie vorsichtshalber mit.
Ein paar Steinzwerge – unter ihnen auch Faugol – führten die Gefangenen aus der Drachenfelsmine heraus, zurück in jenen Raum, in dem es vorhin die breiige Suppe gegeben hatte. Von dort aus ging es durch zwei dunkle, schmale Stollen an den Ort, wo sie vermutlich die Nacht verbringen würden.
Auf dem Weg dorthin kam ihnen eine andere Gruppe Männer, angeführt von sechs Steinzwergen, entgegen; geradewegs auf die Drachenfelsmine zusteuernd. Es wurde also in zwei Schichten gearbeitet. Die Gänge waren somit zu jeder Zeit mit Wachen besetzt.
Die Zellen, die die Männer beim Mittagessen bereits erwähnt hatten, entpuppten sich als schmale, in den Fels gehauene Nischen, deren Eingänge mit einem einfachen, leider nicht aus Drachenfels, sondern aus gewöhnlichem, bereits angerostetem Eisen bestehenden Gitter versiegelt waren, sodass das gesamte Innere von draußen aus einsehbar war. In jeder Zelle gab es zwei kastenförmige, steinerne Erhebungen, die man mit viel gutem Willen als Bett bezeichnen konnte und einen dünnen Abzugsschacht in der Decke, durch den der Rauch einer eventuell brennenden Fackel entwich.
Tado erhielt einen besonders unansehnlichen Raum, an dessen Wänden sich schwarzer Schimmel gebildet hatte. Er teilte sich seine Unterkunft mit einem kleinen, schmächtigen Mann, dessen dürre Arme durchaus Zweifel aufkommen ließen, ob er überhaupt in der Lage wäre, die relativ schwere Spitzhacke Tag für Tag zu bedienen. Seine am Rücken aufgerissene Kleidung und die darunter zu erkennenden Wunden zahlreicher Peitschenschläge mochten diese Vermutung zunächst untermauern, doch die recht beachtliche Sammlung einiger dutzend Kristalle, die der Gefangene am Kopfende seines Bettes verwahrte und derer er soeben drei weitere Stücke hinzufügte, überzeugten ihn letztendlich vom Gegenteil.
Tado versuchte mehrfach, mit dem Mann Kontakt aufzunehmen, doch dieser schien ihn gar nicht wahrzunehmen. Mit blutunterlaufenen Augen, in denen zudem ein unheimlicher, bläulicher Schimmer lag, starrte er seit seiner Ankunft in der Zelle auf nichts anderes als seine Kristallsammlung, strich vorsichtig mit einer Hand über die weitgehend glatte Oberfläche der Steine und befreite seine heutige Ausbeute von kleineren Gesteinsresten.
Als Tado auch nach seinem dritten Versuch, den Mann anzusprechen, noch immer keine Antwort erhielt, gab er es schließlich auf. Vermutlich hätte er den Lord des Feuers herbeirufen können und der Gefangene würde seinen Blick trotzdem weiter auf die Kristalle richten. Genau das hatte er eigentlich auch vorgehabt. Er wollte unbedingt mit dem Mitglied der Oberen Vier sprechen, vielleicht würde der Magier ihm bei einer möglichen Flucht behilflich sein. Immerhin spielte seine derzeitige Situation auch dem Lord nicht unbedingt in die Karten. Tado befand sich zwar auf Telkor, hatte die Drachenklinge jedoch unmittelbar nach dem Ende der Schlacht nach Gordonien zurückgeschickt, sodass der Magier erneut den Kontakt zu seiner Heimatinsel verlor. Hier, inmitten dieser Zelle, in der es keine Möglichkeit gab, auch nur den kleinsten Gegenstand vor den Augen der draußen auf dem Gang auf- und abpatrouillierenden Steinzwerge zu verbergen, konnte er den Lord jedenfalls unmöglich herbeirufen.
So versuchte er zunächst, seinen erschöpften Körper ein wenig zu Ruhe zu betten, um neue Kraft für den nächsten Tag zu sammeln. Das harte Bett machte dieses Vorhaben nicht unbedingt leicht, und so fand er lange Zeit keinen Schlaf. Außerdem überkam nun auch ihn mehr und mehr das Verlangen, die merkwürdigen Kristalle näher zu untersuchen. Noch hielt er der Versuchung stand; er machte sich stattdessen daran, im schwachen Licht einer der Fackeln, die draußen im Gang unmittelbar neben der Eingangstür (die die Steinzwerge übrigens sorgsam verschlossen hatten) brannte, den auf seinen Fingernägeln mitgeschriebenen Weg durch die Mine auswendig zu lernen. Er wusste nämlich nicht, wie lange die eingeritzten Symbole angesichts der schweren Arbeit, die er von nun an vermutlich täglich würde verrichten müssen, noch in aller Klarheit zu erkennen waren. Dieses Unterfangen dauerte weit mehr als eine Stunde; erst dann hatte er das Gefühl, den Weg sicher zu beherrschen. Danach wagte er es schließlich, als er sich davon überzeugt hatte, dass der andere Gefangene bereits tief und fest schlief, für einen kurzen Moment die Drachenklinge herbeizurufen, um die Symbole in einen seiner beiden erbeuteten Kristalle einzuritzen (er schrieb sie in umgekehrter Reihenfolge, denn schließlich würde er bei einer Flucht die Mine in der entgegengesetzten Richtung verlassen). Erst lange Zeit später fand er endlich in den Schlaf.
* * *
Der nächste Tag verlief ähnlich wie der erste. Ein heller Glockenton weckte ihn am Morgen; nicht so früh, wie er befürchtet hatte, aber dennoch früher, als ihm nach der kurzen Nacht lieb war. Seine Arbeitszeit schien ziemlich exakt einen halben Tag zu umfassen, die restliche Zeit blieb ihm zum Schlafen. So zumindest stellte sich für ihn die Situation dar, als er – ohne Frühstück – auf dem Weg in die Drachenfelsmine die Gefangenen entgegenkommen sah, die seine Gruppe ihrerseits am Vorabend abgelöst hatten.
Tado musste seine Arbeit zunächst ungewollt langsam angehen, da sein ganzer Körper von den gestrigen Strapazen schmerzte und sich erst allmählich wieder an die Belastung gewöhnte. Trotzdem schlug er sich unglaublich gut, schaffte fast doppelt so viel wie am Tag zuvor, und mehr denn je achtete er auf die Reaktionen der Steinzwerge, wann immer sie zum Abholen der gefüllten Kisten vorbeikamen. Sie bedachten seine Leistung stets mit einem zufriedenen Nicken, doch schienen sie noch keineswegs mit dem Gedanken zu spielen, ihn in eine andere Mine zu bringen.
Zum Mittag gab es wieder jenen unansehnlichen, aber sättigenden und daher von allen Gefangenen durchaus mit zufriedenen Blicken entgegengenommenen grauen Brei. Tado versuchte, an weitere Informationen über das Monster zu gelangen, denn praktisch nur während des Essens war es ihm möglich, mit den anderen Menschen in Kontakt zu treten, ohne dass ihn einer der Steinzwerge mit scharfen Worten zurechtwies. Es schien jedoch keiner der Gefangenen wirklich gewillt zu sein, über die mysteriöse Person zu sprechen. Er erfuhr kaum mehr, als er schon wusste, hörte eine sehr verstörende Geschichte über das Monster, in der es hieß, es würde die Menschen, die es tötete, hinterher verspeisen; aber das alles war nichts, was ihm bei seiner Suche weiterhelfen würde. Er beschloss, sich das nächste Mal neben jene Leute zu setzen, die nicht in der Drachenfelsmine arbeiteten. Vielleicht waren diese ja gesprächsbereiter.
Obwohl er am Abend fast fünf Kisten mit Drachenfels gefüllt hatte, überstand er auch den zweiten Tag nicht ohne Peitschenhiebe. Gegen Ende seiner Arbeitszeit verließen ihn immer mehr die Kräfte; noch konnte Tados Körper seinen hohen Ambitionen nicht Folge leisten.
Da sich die Effektivität seiner Arbeit deutlich gesteigert hatte, fand er nun auch wesentlich häufiger jene mysteriösen Kristalle, die eine immer größer werdende Faszination auf ihn ausübten, sodass zu Beginn des dritten Tages neben dem Willen, das Monster zu finden, auch die Begier nach noch mehr bläulich schimmernden Steinen seine Moral steigerte. Es wunderte ihn ein wenig, dass sein Körper sich über Nacht stets wieder nahezu vollständig regenerierte. Eigentlich hatte er zu Beginn seines Aufenthalts in der Mine nicht damit gerechnet, es viel länger als einen Tag durchzuhalten. Er machte sich nicht allzu viele Gedanken über die Ursache dieses Umstandes, sondern akzeptierte ihn dankbar und schob es vorerst auf den klumpigen grauen Brei, den er täglich zum Mittag bekam.
Als seine Schicht sich langsam dem Ende neigte, wurde er Zeuge, wie einer der anderen Gefangenen plötzlich mitten bei der Arbeit zusammenbrach und sich nicht mehr rührte. Zwei Steinzwerge machten sich eher gemächlichen Schrittes auf den Weg zu dem ohnmächtig gewordenen Mann, dessen Rücken die Narben zahlloser Peitschenschläge zeigte. Als er auch nach den etwas rustikalen Versuchen der Steinzwerge, ihn zurück ins Bewusstsein zu holen, keine Regung zeigte, trugen ihn die beiden Aufseher nach draußen. Erst am Abend, als Tado nach einem sehr produktiven Tag – und ohne die Peitsche der Steinzwerge zu spüren zu bekommen – in seine Zelle zurückkehrte, stellte er fest, dass es sich bei dem vermutlich verstorbenen Gefangenen um jenen Mann handelte, mit dem er sich die Unterkunft teilte. Der plötzliche Tod seines Zellengenossen schockierte ihn zwar, doch da er während der gesamten Zeit in der Mine noch kein einziges Wort mit ihm hatte wechseln können, hielt sich seine Trauer eher in Grenzen, und so bemächtigte er sich der zurückgelassenen Kristalle des Mannes, sodass er nun bereits eine beachtliche Anzahl der bläulichen Steine sein Eigen nennen konnte.
Der vierte Tag in der Mine begann schließlich früher als gedacht. Es war diesmal nicht die Glocke, die ihn aus dem Schlaf riss, sondern Faugol persönlich. Der Steinzwerg wies ihn mit knappen Worten an, seine Sachen zusammenzupacken und ihm zu folgen. Tado griff eilig nach den Kristallen, denn sie waren im Moment alles, was er besaß und beeilte sich dann, der Aufforderung des Aufsehers nachzukommen. Gemeinsam gingen sie zurück in die Drachenfelsmine, in der noch die Gefangenen der Nachtschicht die letzte halbe Stunde ihres Arbeitstages verbrachten. Faugol steuerte die metallene Tür an, durch die die vollbeladenen Kisten mit dem Drachenfelsgestein in unregelmäßigen Abständen in einen Nebenraum gebracht wurden, den Tado während seines Aufenthaltes hier noch nie richtig hatte in Augenschein nehmen können, obwohl sein Arbeitsplatz sich nur wenige Meter entfernt befand.
Der Steinzwerg eröffnete ihm, bevor sie die Tür durchschritten, dass der Leiter der Mine seine Arbeit der vergangenen drei Tage zu schätzen wusste und daher beschlossen habe, ihn an eine Stelle zu versetzen, an der seine Kraft dringender gebraucht würde als in der Höhle, die nun hinter ihnen lag. Er hatte es also tatsächlich geschafft.
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Das laute Plätschern eines kalten Gusses riss Lukdan aus dem Schlaf. Müde und erschöpft setzte er sich auf. Ein paar Sekunden lang verharrte er so, dann durchfuhr ihn ein tiefer Schock. Warum lebte er noch? Die Verletzungen aus dem Kampf gegen Vold – nein, die Verletzungen aus der demütigenden Blamage auf dem Schlachtfeld – waren viel zu schwerwiegend, als dass er sie hätte überleben können. Zitternd besah er sich seinen Körper. Der schwarze Zauber des Herakinen hatte ihn hunderte Male getroffen, er müsste mit Narben von Telkors Magie geradezu übersät sein. Doch er fand nichts. Die Haut an seinen Armen und an seinem Oberkörper war unversehrt. Vorsichtig betastete er sein Bein. Er fühlte keinen Schmerz. Dabei hatte Vold es mit seinen Ranken geradezu zerfetzt. Fassungslos sank Lukdan zurück zu Boden. Alles, was noch von der zurückliegenden Schlacht zeugte und ihm verriet, dass er jenes schreckliche Erlebnis nicht bloß geträumt hatte, war seine an vielen Stellen aufgerissene Kleidung. Unruhig ließ er seinen Blick in den Himmel schweifen. Zumindest versuchte er das. Seine Augen trafen die Unterseite eines undichten Holzdaches, durch das der Regen in kleinen Rinnsalen aus zahlreichen Spalten hindurchtropfte. Erst jetzt registrierte er, dass er sich nicht mehr am gleichen Ort befand wie noch am Abend zuvor. Stattdessen lag er nun in einem mehr oder weniger quadratischen Raum einer einstöckigen Hütte, deren Wände – zum Teil beunruhigend schief aufragend – aus einem Gemisch von Lehm und Holz zu bestehen schienen. Kleine, glaslose Fenster gaben den Blick nach draußen frei. Auf dem ebenfalls hölzernen Boden hatte man große, getrocknete Blätter einer ihm unbekannten Pflanze ausgelegt, vermutlich, um die nicht hinreichend von Splittern befreiten Bretter vor der herabtropfenden Feuchtigkeit zu schützen – ein wenig erfolgreiches Unterfangen.
Lukdans Blick glitt nach links. Dort lag Spiffi; auch ihn schien keinerlei Verletzung mehr zu plagen. Getrocknetes Blut, über den ganzen Bauch verteilt, verlieh ihm ein eher schauriges Erscheinungsbild, doch die Wunde, die dafür verantwortlich war, konnte er nirgends entdecken. Allmählich kam auch der Bogenschütze zu sich. Er brauchte, ebenso wie Lukdan, einige Sekunden, ehe er die Situation vollständig erfasst hatte.
„Was ist passiert?“, fragte Spiffi. „Wo sind wir?“
„Ich weiß es nicht“, antwortete der Mann aus Akhoum. „Wir sollten tot sein. Etwas Merkwürdiges ist hier am Werk.“
„Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass uns jemand da draußen in der Ebene finden würde“, überlegte der Bogenschütze.
„Das ist bei weitem nicht das Verwunderlichste“, erwiderte Lukdan. „Unsere Körper waren übersät von Wunden, viele davon entstammten Telkors Magie. Wie können all unsere Verletzungen plötzlich verschwunden sein?“
Spiffi betrachtete seinen Körper ein wenig genauer. Auch er stellte nun fest, dass von der großen Wunde, die sich über seinen gesamten Bauch ausgedehnt hatte, keine Spur mehr zu sehen war.
„Solch eine Heilkraft kenne ich nur von der Quelle des Lebens, einem kleinen Wasservorkommen in Gordonien“, überlegte Spiffi. „Doch ich bezweifle, dass es etwas Derartiges hier in Telkor gibt.“
Ihr Gespräch verstummte, als sie durch das Plätschern des Regens hindurch das Nahen leiser, zögerlicher Schritte vernahmen.
„Ihr seid also endlich wieder zu euch gekommen?“, begrüßte sie die Stimme einer Frau, die soeben aus einem schiefen Durchgang in der linken Wand in den kleinen Raum trat. Sie war, verglichen mit den anderen Magierinnen dieser Insel eher einfach gekleidet und von zierlicherem Wuchs.
Die Gefährten standen auf, bemerkten die geringe Höhe des Raumes jedoch zu spät und stießen beide mit dem Kopf gegen das marode Dach, und mit der Erschütterung ging ein kleiner Schwall kühlen Regenwassers über sie nieder. Die Frau schien ob dieses Vorfalls amüsiert.
„Das ist meinem Mann früher auch oft passiert“, sagte sie lächelnd.
Noch ehe einer ihrer beiden Gegenüber etwas erwidern konnte, flog die Tür der gegenüberliegenden Wand auf, konnte sich dabei gerade noch in ihren Angeln halten, und ein kräftiger Wind blies eine Kostprobe des Regengusses ins Innere des kleinen Hauses, wo die Tropfen mit einem lauten Schlag auf die dort ausgelegten Blätter prasselten. Ein gebückt gehender Mann trat fluchend durch den Eingang ins Trockene, warf seinen löchrigen und durchnässten Strohhut ärgerlich auf einen nahestehenden Tisch und stellte einen schweren Korb, randvoll gefüllt mit weißlichen Pilzen, erschöpft auf den Boden. Dann erst warf er die Tür zurück ins Schloss.
„Und da ist er schon“, sagte die Frau zu den Gefährten und deutete in die Richtung des Neuankömmlings. Dieser betrachtete Spiffi und Lukdan eine kurze Weile und erkundigte sich dann nach ihren Namen.
„Ihr habt Glück, dass Aphosa so ein gutes Herz hat“, sagte er dann und bedeutete ihnen, sich an den neben der Tür stehenden Tisch zu setzen, an dem auch er und seine Frau – sie war es, die er mit Aphosa gemeint hatte – Platz nahmen. „Ich hätte euch normalerweise einfach dort liegen lassen, aber sie meinte, es wäre angesichts des bevorstehenden Unwetters eine Unzumutbarkeit, und so brachten wir euch dann vor ein paar Stunden hierher.“
„Wir danken euch für diese Aufmerksamkeit“, erwiderte Lukdan abwartend und sehr darauf bedacht, ihre verschwundenen Verletzungen noch nicht zu früh zur Sprache zu bringen.
„Es muss etwas sehr Merkwürdiges vorgefallen sein“, setzte Aphosa die Ausführungen ihres Mannes fort. „Immerhin wart ihr ohne Bewusstsein und ohne ersichtlichen Grund voller Blut.“
Die beiden hatten also nichts mit der wundersamen Heilung zu tun, registrierte Lukdan ein wenig überrascht.
„Unseren nicht gerade Vertrauen erweckenden Zustand verdanken wir mehr oder weniger einem fehlgeschlagenen Zauber“, versuchte Spiffi ihre Situation zu erklären, ohne ihre wahre Identität und ihre unbeabsichtigte Beteiligung an der zurückliegenden Schlacht zu erwähnen.
„Es geht uns im Grunde auch gar nichts an“, sagte der Mann (er hieß übrigens Waros) und hob beschwichtigend die Hand. „Es ist nur so, dass es unsere Kinder waren, die euch entdeckten, und euer schauerlicher Anblick hat sie ein wenig erschreckt. Wo sind sie jetzt eigentlich?“
Der letzte Satz galt seiner Frau.
„Draußen“, antwortete Aphosa knapp. Waros nickte zufrieden.
„Ihr lasst eure Kinder bei einem solchen Unwetter draußen herumlaufen?“, fragte Lukdan fast schon entsetzt.
„Sie versuchen doch nur, Flaumau wieder einzufangen“, erwiderte Aphosa und deutete auf das Fenster in der rechten Wand des Raumes. Dort konnten die Gefährten in der Ferne zwischen den Hügeln der Undai-Ebene einen Jungen und ein Mädchen erkennen, die einer Katze hinterherjagten.
„Es tut uns Leid, wenn wir sie verängstigt haben sollten“, sagte Spiffi etwas verwirrt.
„Eigentlich kamen wir den weiten Weg aus dem Reich vom Lord des Windes hierher und haben unseren Zauber in der Undai-Ebene ausprobiert, um zu vermeiden, dass irgendjemand zu Schaden kommt“, versuchte Lukdan der anfänglichen Geschichte des Bogenschützen etwas mehr Tiefe zu geben. „Daher werdet ihr vielleicht unsere Überraschung verstehen, euch inmitten dieser unbewohnten Gegend anzutreffen.“
„Eure Absichten ehren euch“, sagte Aphosa. „Doch warum habt ihr ausgerechnet das Grab Elluhkyas als Ort gewählt, um euren Zauber durchzuführen?“
Lukdan horchte überrascht auf. Der Hügel, an dem sie zusammengebrochen waren, gehörte also Elluhkya, jener Magierin, die auf ungeklärte Weise in der Lagune der Phantommagie den Tod fand. Lillyopha hatte ihnen erzählt, dass ihre bloße Anwesenheit ausreichte, dass auch die tiefste Wunde sich in Windeseile verschloss. Doch war ihre Magie wirklich so stark gewesen, dass der Heilzauber selbst an ihrem Grabe noch Wirkung zeigte?
Waros ersparte den Gefährten, die Frage seiner Frau beantworten zu müssen, indem er nämlich unmittelbar auf Aphosas Worte hin die Anwesenheit seiner Familie auf der Undai-Ebene erklären wollte.
„Ihr scheint nicht aus dem Territorium vom Lord des Wassers zu stammen“, begann er seine Ausführungen. „Ansonsten wüsstet ihr wohl von mir und der Arbeit, die ich hier verrichte. Ich bin der Verwalter der Undai-Ebene und sorge dafür, dass die Gräber sich stets in einem ansehnlichen Zustand befinden. Seit einigen Jahren hat ein Pilz, der Bleiche Weißschirm, in diesem Gefilde Fuß gefasst und droht, die Landschaft zu überwuchern. Er ist schädlich für die Pflanzen und Tiere, die in der Ebene leben, er sorgt dafür, dass der Boden verkommt und die Hügel zerfallen, sodass ihre Erde vom Wind davongetragen und das Andenken an die gefallenen Magier zerstört wird. Mit viel Mühe gelang es mir, ihn weitestgehend zurückzudrängen, nur vereinzelt sprießt er noch an den Wegrändern.“
Waros deutete auf den Korb voller Pilze, den er vorhin im Regenguss ins Haus geschleppt hatte.
„Ich weiß, was ihr nun denkt“, fuhr er fort. „Derartige Aufgaben sind für einen Magier doch eigentlich zu nieder. Leider bleibt uns kaum eine andere Wahl. Aphosa und ich sind Heradachen. So nennen die Oberen Vier die Nachkommen zweier Magier, die nicht in der Lage sind, Magie zu nutzen.“
„So etwas kommt hin und wieder vor, doch so selten, dass die meisten Bewohner Telkors nichts davon wissen“, fügte seine Frau hinzu. „Und wie ich euren mehr oder weniger erstaunten Blicken entnehme, hört ihr auch zum ersten Mal davon. Bei den meisten Magiern dauert es eine gewisse Zeit, bis sie lernen, ihre Magie einzusetzen oder bis sie überhaupt merken, dass sie sie besitzen. Wir mussten viele Untersuchungen über uns ergehen lassen, denn die Oberen Vier wollten sicherstellen, dass es sich bei uns nicht womöglich um Menschen handelte; einmal brachte man uns in die Lagune der Phantommagie, um zu sehen, ob wir wenigstens eine magische Aura ausstrahlten, dann sogar aufs Festland, doch beides blieb ohne Erfolg. Man hielt uns lange Zeit unter Beobachtung, und erst, als wir nach einem Jahrhundert noch immer nicht alterten, erklärte man uns schließlich für Heradachen und gestattete uns, weiter auf Telkor zu leben. Ihr müsst wissen, dass die ersten zwanzig Lebensjahre bei Menschen und Magiern ähnlich verlaufen und dass das Altern bei uns erst im Anschluss daran langsamer vonstattengeht.“
„Doch werdet ihr verstehen“, fuhr Waros fort, „dass wir mit unserer geringen Macht keine Rolle in Telkors Plänen spielen und daher nur schlecht über die Dinge informiert sind, die sich außerhalb der Ebene auf der Insel abspielen. Vor ein paar Tagen jedoch ließ uns Beldas (allerdings nur über irgendwelche zweitklassigen Handlanger seiner niederrangigsten Untergebenen) wissen, dass wir uns in diesen Tagen vom Graustaubtal fernhalten mögen. Nun gibt es dort zwar beim besten Willen nichts, was wir derzeit schmerzlich vermissen würden und die Anordnung kümmert uns eher am Rande, aber wir dachten, wenn wir euch in der Ebene auflesen und hierherbringen würden, wärt ihr vielleicht gewillt, uns ein wenig mehr über Beldas‘ Vorhaben zu erzählen.“
„Er hat eine Armee in das Tal gesandt“, begann Spiffi.
„Mehr wissen wir leider nicht“, unterbrach ihn Lukdan sofort. „Wir sind nicht in seine Pläne involviert. Doch wenn mich nicht alles täuscht, so war das nicht der einzige Grund, warum ihr uns vor dem Unwetter bewahrt habt.“
Waros nickte anerkennend.
„Das ist richtig“, antwortete er. „Nur um unsere Neugier zu tilgen hätten wir nicht die Strapazen auf uns genommen, eure schweren Körper hunderte Meter durch die Ebene zu schleppen.
Nun, wie ihr sicherlich bemerkt habt, ist mein Gang etwas gebückt und schmerzt bereits beim Zusehen. Als Heradache habe ich nicht die körperliche Ausstattung eines Magiers, und wenngleich ich dem Alter nicht in gleicher Weise Tribut zollen muss wie die Menschen, so hat das halbe Jahrtausend, das ich mittlerweile auf Telkor verbracht habe, meinen Rücken sehr in Mitleidenschaft gezogen und die Arbeit auf der Undai-Ebene wird immer beschwerlicher. Zu allem Überfluss ist der kleine Aussichtsturm, der sich an der Westseite meiner bescheidenen Hütte befindet, bei einem Unwetter vor drei Wochen eingestürzt. Ohne diesen Turm ist es aber sehr schwierig, die Ebene zu überblicken, da die Hügel normalerweise nicht betreten werden dürfen. In den vergangenen Tagen konnte der Bleiche Weißschirm sich wieder an vielen Stellen neu ansiedeln, da ich ihn oftmals einfach übersah. Ich weiß, dass es nicht den Aufgaben eines Magiers entspricht, doch wenn ihr mir bei der Reparatur des Turmes behilflich sein könntet, wäre ich euch sehr dankbar. Normalerweise würde ich es mir niemals anmaßen, euch wegen dieser Lappalie zu belästigen, doch als ich Beldas‘ Handlanger fragte, ob er nicht ein paar von Telkors für solche Arbeiten abgerichtete Kreaturen entsenden könnte, haben sie nur nur verächtlich abgelehnt.“
Lukdan überlegte. Ein solches Unterfangen würde sie vermutlich viel Zeit kosten und wäre wahrscheinlich ohne größeren Nutzen für sie. Außerdem machten weder Aphosa noch Waros den Eindruck, als könnten sie zu potentiellen Verbündeten werden und ihnen bei einer Flucht von Telkor behilflich sein. Zwar bezweifelte er, dass sie unter dem Einfluss der Zitadelle standen, doch sie schienen grundsätzlich auch keine Abneigung gegenüber den Magiern zu hegen. Hinzu kam, wie er sich selbst leicht verlegen eingestehen musste, dass er von derartigen Arbeiten überhaupt nichts verstand. Er war ein Krieger, und das seit er denken konnte.
„Wenn der Turm nicht allzu hoch werden soll, bin ich mir sicher, dass wir dafür etwas Zeit erübrigen können“, warf Spiffi zu Lukdans Entsetzen geradewegs in den Raum. „Doch erwartet nicht zu viel. Ich zumindest habe so etwas noch nie zuvor gemacht.“
Nein, dachte Lukdan, und er würde das auch nie wieder tun können, wenn sie dafür länger als einen Tag brauchten und die beiden Heradachen mitbekamen, dass sie zwei Menschen Obhut gegeben hatten. Immerhin würden sie früher oder später schlafen müssen und damit wäre ihre Tarnung dahin. Doch er konnte die Zusage nun nicht mehr zurücknehmen. Yala wäre vielleicht eine plausible Ausrede eingefallen, aber ihm fehlten in diesem Moment die Worte. Normalerweise kam er schließlich nie in derartige Situationen, denn er pflegte nachzudenken, bevor er sprach. Sein Ärger über Spiffi legte sich ein wenig, als die Tür zum kleinen Raum erneut aufgerissen, vom heftigen Wind ergriffen und an die Wand geschleudert wurde. Das morsche Holz ächzte bedrohlich und flog letztendlich aus den Angeln. Wieder kam ihnen ein Schwall des kalten Gusses entgegen. Die beiden Kinder der Heradachen waren zurückgekehrt. Der Junge trug eine völlig durchnässte, zitternde und ein wenig entsetzt dreinblickende Katze auf dem Arm. Die Neuankömmlinge begrüßten die Gefährten kurz, verschwanden dann jedoch mit dem Tier im Nebenraum, als sich dessen goldenes Fell langsam aufzustellen begann.
„Flaumau bekommt es immer mit der Angst zu tun, wenn es draußen regnet und sprintet dann panisch über die Ebene“, sagte Aphosa mit einem leichten Kopfschütteln, während Waros die Tür wieder einhängte.
Lukdan fragte sich, warum die Katze nicht einfach in der Hütte blieb; das Dach war zwar einsturzgefährdet, dafür wurde man hier aber nicht allzu nass. Im nächsten Moment ärgerte er sich, überhaupt über dieses Tier nachzudenken, als gäbe es nichts Wichtigeres, worüber er sich den Kopf zerbrechen konnte.
„Leider haben wir nach unserem unfreiwillig verlängerten Aufenthalt in der Undai-Ebene keine Vorräte mehr bei uns“, sagte er schließlich, um Spiffis voreiligem Hilfsangebot doch noch etwas Gutes abzugewinnen. „Wenn wir euch also bei dem Bau des Turmes unterstützen sollen, werdet ihr für unsere Verpflegung aufkommen müssen.“
„Das sollte kein Problem sein“, winkte Waros ab. „Der Bleiche Weißschirm ist ein hervorragender Speisepilz.“
Um diese Behauptung zu untermauern, machte sich Aphosa sogleich daran, ihnen ein Essen aus jenen Pilzen zuzubereiten. Solange es regnete, konnten sie mit dem Bau des Turmes ohnehin nicht beginnen.
Das Unwetter flaute erst gegen Nachmittag ein wenig ab, sodass sie noch ein paar Stunden in der maroden Hütte zubringen mussten, ehe sie wieder unter freien Himmel treten konnten. Dort zeigte ihnen Waros auch sogleich, an welche Stelle er den Turm wünschte. Er schien mit dem Bau bereits begonnen zu haben, denn an besagtem Ort befand sich bereits eine nicht gerade stabil aussehende Konstruktion von etwa sechs Metern Länge und augenscheinlich identischer Breite, ähnlich einem Gerüst, welches man bei der Errichtung großer Gebäude während der Bauphase aufzustellen pflegte. Daneben lag eine Menge nasses Holz, wahrscheinlich Bambus; außerdem fanden sich Seile, mit denen die einzelnen Balken wohl, wie es die bereits angefangene Konstruktion vermuten ließ, zusammengebunden wurden. Wenn der zerstörte Turm auf die gleiche Weise erbaut worden war, wunderte Lukdan dessen Einsturz überhaupt nicht.
„Wie ihr seht, haben wir bereits mit der Errichtung begonnen“, ergriff Waros das Wort. „Doch mein Rücken bereitet mir große Probleme und so musste ich die Arbeit vorerst ruhen lassen.“
„Seid ihr sicher, dass diese Konstruktion unser Gewicht überhaupt tragen wird?“, fragte Spiffi ein wenig misstrauisch.
„Natürlich“, versicherte Aphosa. „Es mag nicht danach aussehen, aber das Gerüst ist sehr stabil. Ihr braucht es einfach nur so weiterzubauen, wie wir bereits begonnen haben. Nach ungefähr fünfzehn Metern fertigt ihr dann eine Plattform an und darüber ein kleines Dach. Bezüglich der Höhe könnt ihr euch an der Leiter dort orientieren.“
Mit sichtlich wenig Begeisterung machten die Gefährten sich mit dem Grundgerüst des zukünftigen Turmes vertraut. Diese Arbeit würde sie wohl eine ganze Weile beschäftigen.
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Eigentlich hätte Tado über seinen neuen Arbeitsplatz glücklich sein müssen. Immerhin hatte sein Plan, die Drachenfelsmine so schnell wie möglich zu verlassen, recht erfolgreich geklappt. Doch seine Ambitionen, das Monster zu finden, waren seit etwa einem Tag in den Hintergrund getreten. Viel lieber wollte er sich wieder auf die Suche nach den geheimnisvollen Kristallen begeben. Hier allerdings, in der Höhle, in die Faugol ihn nun führte, würde sich dieser Wunsch wohl eher nicht erfüllen. Große Fackeln, befestigt an rostigen Vorrichtungen in der Decke, brannten mit weißem Feuer und erhellten den hohen Raum so stark, dass Tado für einen Moment die Augen zusammenkneifen musste. Sperrige Kisten standen überall verteilt und machten die Höhle unübersichtlich, sodass ihre tatsächliche Größe, die durchaus beachtlich war, erst deutlich wurde, als Faugol ihn einige Minuten herumführte und die hier verrichtete Arbeit erklärte. Es herrschte eine viel größere Lautstärke als in der Drachenfelsmine, obwohl in diesem Raum weitaus weniger Menschen zu Werke gingen. Sie machten jedoch allesamt einen kräftigeren Eindruck als die Gefangenen in der zurückliegenden Höhle.
Was hier getan wurde, überraschte Tado nicht wirklich: Immerhin hatte er drei Tage lang mitansehen können, wie die Steinzwerge den abgebauten Drachenfels durch die metallene Tür in den hell erleuchteten Raum brachten, und so bestand die Arbeit hier weitgehend darin, die verbliebenen Gesteinsreste vom Drachenfels zu trennen. Dazu lag an Tados Arbeitsplatz eine Auswahl an Hämmern verschiedenster Größe bereit, einige davon hätte ein kleines Kind benutzen können, andere wogen so viel, dass kaum einer der Gefangenen sie anzuheben vermochte. Die zunächst recht simpel anmutende Tätigkeit entwickelte sich schon bald zu einer echten Herausforderung, wie Tado schmerzhaft feststellen musste. Er hatte sich den größten Hammer genommen, den er anzuheben imstande war, und ihn auf ein etwa halbmetergroßes Gesteinsstück krachen lassen. Leider traf er dabei auch einen Teil des darin eingeschlossenen Drachenfelses, und so durchfuhr seinen Körper, wie schon bei seinem Missgeschick zu Beginn der Gefangenschaft, ein schwerer Schlag, der insbesondere seinem Rücken zusetzte. Er fragte sich, warum die Magier das unzerstörbare Material mit ihrer Magie nicht einfach verflüssigten und aus dem wertlosen Gestein herausspülten. Die Antwort erhielt er wenig später während des Mittagessens (das übrigens nach wie vor in der gleichen Höhle stattfand wie zuvor, nur an einer anderen Stelle des Raumes) durch einen der Gefangenen, bei dem es sich um ein Besatzungsmitglied des Schiffes handelte, mit dem sie nach Telkor gelangt waren. Er hatte beobachtet, wie Parschald und Gorson in der Lage gewesen waren, Drachenfels ohne die geringste Mühe nach Belieben zu verformen und die Steinzwerge darauf angesprochen. Man sagte ihm, dass das Gestein aus zwei Schichten bestünde: Einem für Magie empfänglichen Kern und einem nur halbmillimeterdicken magieabweisenden Mantel. Erst, wenn man die äußere Ummantelung entfernte, würden die Magier das Material verarbeiten können. Dazu war jedoch ein kompliziertes Verfahren vonnöten, das die Steinzwerge selbst einst entwickelten. So wurde der von jeglichem anderen Gestein getrennte Drachenfels zunächst in ein Säurebad überführt (eine Aufgabe, die die Steinzwerge übrigens stets persönlich ausführten; wahrscheinlich fürchteten sie, die Gefangenen könnten mit der Säure Unfug anstellen), wodurch der äußere Mantel grünliche Salzkristalle anlagerte. In einem weiteren Schritt gaben die Zwerge eine stinkende Lösung geheimer Zusammensetzung dazu, die wiederum in die Salzkristalle eindrang. Ein paar Minuten später wurde das Säurebad abgelassen und das Becken, in dem der nun trocken gelegte Klumpen Drachenfels mit der grünen Salzschicht lagerte, mit einer schweren Eisenplatte verschlossen. Wenig später ertönte dann ein lauter Knall, und der magieabweisende Mantel lag abgesprengt am Boden des Beckens, während der wertvolle Kern unversehrt blieb und in Kisten abtransportiert werden konnte.
Tado überraschte es ein wenig, dass die Steinzwerge dem Mann all dies so ausführlich erklärt hatten, obwohl es sich bei den Gefangenen im Prinzip um ihre Feinde handelte. Andererseits hatte es, auch dahingehend erkundigte er sich bei dem ehemaligen Besatzungsmitglied, wohl noch nie eine erfolgreiche Flucht aus der Mine gegeben, sodass das Geheimnis hier unten weitestgehend sicher war und sie nicht befürchten mussten, dass die Magier das Prinzip der Drachenfelsförderung erfuhren und die Steinzwerge nicht mehr für ihre Zwecke benötigten. Im Übrigen hatte er aber auch schon bei Faugol festgestellt, dass dieser zu einer gewissen Redseligkeit neigte, wann immer es um die Abläufe der Arbeit in der Mine ging.
Zurück an seinem Arbeitsplatz bearbeitete Tado weiter fleißig den Gesteinsklumpen, um wenigstens ein kleines Stück Drachenfels bis zum Abend freizulegen. Er war der bei weitem Unproduktivste in der gesamten Höhle, doch es störte ihn vorerst nicht. Peitschenhiebe gab es hier keine mehr, und ein bisschen vermisste er die Aufregung bei der Suche nach den blauen Kristallen, deren Zahl er bei seiner jetzigen Arbeit natürlich nicht vergrößern konnte. Der Klumpen Drachenfels, den er bis zum Erklingen der Glocke zum Schichtwechsel von Gestein befreien konnte, hatte die Form eines Trolls, wie er ein wenig amüsiert feststellte.
Auf dem Weg in die neue Unterkunft beobachtete Tado die anderen Gefangenen, die sich außer ihm in der Höhle befunden hatten, ein wenig genauer. Keiner von ihnen wirkte, als müsse man sich vor ihm fürchten. Das Monster schien sich nicht unter ihnen zu befinden. Dafür entdeckte er Sergost. Der Kapitän des Schiffes, das sie nach Telkor gebracht hatte, machte einen ziemlich mitgenommenen Eindruck, wenngleich er von Peitschenhieben weitgehend verschont geblieben zu sein schien. Offenbar war er noch schneller als Tado aus der Drachenfelsmine herausgekommen. Dieser beschloss, am nächsten Tag während des Mittagessens ein paar Worte mit dem Mann zu wechseln.
Die Zelle, in die er gebracht wurde, unterschied sich übrigens kaum von seiner ehemaligen Schlafstätte. Es gab hier keinen Schimmel, doch der Rest war gleich: Die Eingangstür bestand aus Gitterstäben, die Betten aus Stein. Wenigstens schien der Gefangene, der mit ihm in die gleiche Zelle kam, ein wenig gesprächiger zu sein als die bedauernswerte, dahingeschiedene Gestalt aus der Drachenfelsmine zuvor. Er hieß Gropa und war bereits seit zwei Jahren ein Gefangener Telkors. Die beiden führten ein recht belangloses Gespräch, in dem es hauptsächlich um die Kristalle ging, dann legten sie sich schlafen.
Es fiel Tado schwer, sich am nächsten Morgen für den bevorstehenden Arbeitstag zu motivieren. Die Tätigkeit in der gleißend hell erleuchteten Höhle war zwar nicht so monoton wie das beständige Hacken in der Drachenfelsmine, dafür umso schweißtreibender. Vor allem aber verlangte das Bearbeiten der Steinklumpen ein gewisses Maß an Konzentration, die jedoch immer wieder durch einen jähen lauten Knall aus einem der vielen Nebenräume dieser Höhle unterbrochen wurde, wenn die Steinzwerge den bereinigten Drachenfels aus seiner Ummantelung befreiten. So zogen einige Stunden ereignislos dahin, bis Tado auf einmal eine gewisse Unruhe unter den anderen Gefangenen gewahrte. Er hielt einen Moment inne, um sich nach der Ursache für die plötzliche Stimmungsschwankung der Arbeiter zu erkundigen, wurde jedoch, wie die anderen Männer auch, sofort von den Aufsehern ermahnt, weiter ihrer anstrengenden Tätigkeit nachzugehen. Für einige Sekunden kehrte wieder Ruhe ein. Dann erzitterte die Höhle unter einem lauten Krachen. Stimmen riefen durcheinander, unflätige Worte wurden gebrüllt. Einer der Gefangenen hatte eine voll beladene Kiste mit noch unbearbeitetem Drachenfels auf einen der Aufseher niedergehen lassen. Der Steinzwerg konnte die zentnerschwere Last gerade noch mit seinem mächtigen Streithammer davor bewahren, seinen breiten Schädel einzuschlagen, doch das Holz gab unter dem harten Aufprall nach und ein Hagel aus Gestein ging auf den Aufseher nieder; scharfkantige Felsbrocken trafen sein Gesicht und warfen ihn zu Boden. Der Gefangene, der diesen Vorfall zu verantworten hatte, schnappte sich den Streithammer des bewusstlosen Zwerges und warf sich lautstark dessen Artgenossen entgegen, die in dieser Situation zunächst etwas unbeholfen durch tatenloses Herumstehen reagierten. Etwa drei Dutzend Männer, unter ihnen auch Sergost, folgten dem Beispiel des Gefangenen, bewaffneten sich mit den Hämmern, die normalerweise zum Bearbeiten des Gesteins gedacht waren und gingen auf die Aufseher los. Unter den Steinzwergen breitete sich ein gewisses Chaos aus; es wurden Befehle durcheinandergerufen; die Glocke, die normalerweise das Mittagessen ankündigte, erklang in einem geradezu ohrenbetäubenden Scheppern. Überrumpelt von diesem plötzlichen Aufstand versuchten die wenigen Steinzwerge zunächst, ihre Übermacht an Gegnern mit schweren Äxten auf Distanz zu halten.
Tado beobachtete die Szenerie, die sich vor ihm abspielte, ein wenig unentschlossen. Sollte er die Gelegenheit ergreifen und sich ebenfalls unter die Kämpfenden mischen? Wenn alle Gefangenen sich miteinander verbünden würden, wären sie vielleicht in der Lage, die übermächtigen Steinzwerge zu bezwingen und sich einen Fluchtweg zu erkämpfen. Immerhin wusste er, wie er durch das Labyrinth zurück nach draußen käme und dies wäre vielleicht die beste Gelegenheit, Gebrauch von diesem Wissen zu machen. Während er darüber nachdachte, stiegen immer mehr der Gefangenen in den Kampf ein, und kurze Zeit später hatten sie die Aufseher dieser Höhle überwältigt. Die metallene Tür zur Drachenfelsmine öffnete sich. Eine weitere Gruppe Steinzwerge, schwerer bewaffnet als ihre kampfunfähigen Artgenossen, warf sich den Aufständischen entgegen. Auch in den anderen Eingängen dieses Raumes zeigten sich mehr und mehr Zwerge. Offenbar hatte sie das Glockensignal auf den Vorfall aufmerksam gemacht.
Dennoch drohten sie den Gefangenen zu unterliegen. Mit jedem Steinzwerg, den sie überwältigten, konnten sie sich dessen Waffe bemächtigen und ihre eigenen Mitglieder somit verstärken. Vielleicht war es tatsächlich an der Zeit, sich den Männern anzuschließen. Wenn sie diese Gelegenheit richtig nutzten, konnten sie möglicherweise bis ins Labyrinth vordringen und die nachrückenden Aufseher abschütteln.
Als Tado sich erhob und anschickte, die Drachenklinge zu rufen, erschien unter einem niedrigen, mit Holzbalken gestützten Nebeneingang dieser Höhle ein weiterer Steinzwerg. Er unterschied sich von den anderen seines Volkes nicht nur durch ein in dieser Situation sehr besonnenes, fast schon gleichgültiges Auftreten, sondern auch durch einen Körperbau, der selbst für die Verhältnisse der Steinzwerge als gewaltig gelten konnte. Er besaß Arme, deren Umfang Tado selbst bei den kräftigeren Vertretern der Bärenmenschen nicht gesehen hatte, und seine Waffe war ein mächtiger Streithammer, fast so groß wie der Steinzwerg selbst. Trotz seiner geringen Körperhöhe strahlte seine Erscheinung etwas derart Erhabenes aus, dass einige der Gefangenen überrascht und eingeschüchtert zugleich zu ihrem neuen Gegner hinübersahen. Dieser machte jedoch keine Anstalten, sich an dem Kampf, in dem die wenigen noch verbliebenen Steinzwerge hoffnungslos zu unterliegen drohten, zu beteiligen. Als die ersten Männer auf ihn zustürmten, hob er seinen Hammer, dessen Kopf in Richtung des steinigen Bodens zeigte, etwa einen Fuß hoch in die Luft und ließ ihn dann auf die Erde niederfahren.
Tado brach zusammen. Eine unsichtbare Macht schien mit aller Kraft an seinem Körper zu ziehen, ihn zu Boden zu drücken. Seine Arme wurden schwer, als wögen sie einen Zentner, und binnen Sekunden lag er flach auf dem Bauch. Er hatte das Gefühl, ein Troll säße auf ihm und versuchte ihn erbarmungslos in den steinernen Grund zu pressen. Seinen Kopf plagten ungeheure Schmerzen, sein Schädel drohte zu zerbrechen. Er versuchte, sich hochzudrücken, verspürte ein Knacken im Rücken und gab auf. Seine Augen glitten durch den Raum. Er war bei weitem nicht der einzige, dem es so erging. Alle Gefangenen, ja selbst die Aufseher lagen wie festgenagelt am Boden. Nur der Steinzwerg, der die Höhle als letztes betreten hatte, schien von den unheimlichen Kräften seines Hammers nicht berührt zu werden oder (was weitaus beunruhigender klang, Tado aber für wahrscheinlicher hielt) widerstand ihnen mühelos.
So fand der Aufstand ein jähes Ende. Die Gefangenen erhielten hundert Peitschenhiebe und fünfzig weitere für jeden Steinzwerg, der bei diesem Vorfall getötet worden war. Man legte ihnen weitere Ketten an, die ihre Bewegungsfreiheit so weit einschränkten, dass sie gerade noch arbeiten konnten.
Tado blieb von den meisten Bestrafungen verschont, da einige der Aufseher bestätigen konnten, dass er und etwa fünfzehn weitere Männer in der Höhle sich nicht an dem Übergriff beteiligt hatten. Allerdings führten die Steinzwerge nun auch in diesem Raum stets eine Peitsche mit sich, und diese bekam Tado an jenem Tag noch oft zu spüren; einerseits, weil die Wut über den Vorfall in den Aufsehern noch längst nicht erloschen war, und andererseits, weil er tatsächlich keine große Produktivität zeigte. Die Schläge störten ihn nicht. Vielleicht wäre es sogar besser, wenn ihn die Steinzwerge aus Unzufriedenheit über seine Arbeit wieder zurück in die Drachenfelsmine brachten. Dort könnte er dann wenigstens weiter Kristalle sammeln. Nach dem beispiellosen Scheitern des Aufstandes von eben hatte er ohnehin nicht mehr die Absicht, zu fliehen. Gegen die Macht dieses einen Zwerges, der alle Anwesenden mit einer kaum nennenswerten Bewegung kampfunfähig machte, würde er niemals ankommen. Vielleicht sollte er sich einfach damit abfinden, den Rest seines Lebens in der Mine zu verbringen. An das Monster verschwendete er schon längst keinen Gedanken mehr. Wahrscheinlich hätte er es sowieso nie gefunden.
Das Mittagessen mussten die Gefangenen dieser Höhle heute unter strenger Aufsicht einnehmen, und jeder Kontakt der Männer untereinander wurde rücksichtslos unterbunden. Der restliche Tag verlief katastrophal. Mit den Gedanken nicht recht bei der Sache brachte Tado kaum etwas Nützliches zustande, konnte bis zum Abend kein einziges Stück Drachenfels mehr vollständig vom übrigen Gestein befreien und brach eine halbe Stunde vor Ende seiner Schicht sogar unter den seiner Meinung nach immer stärker werdenden Peitschenhieben zusammen, wobei er sich eine Platzwunde am Kopf zuzog, als er mit der Stirn auf einen Meißel fiel.
Auf dem Weg zurück in die Zelle dachte er darüber nach, wie lange er diese Tortur wohl noch überstehen würde. Sein Körper jedenfalls war ausgelaugt wie nie zuvor und er blutete an zahlreichen Stellen. Ein den ganzen Leib durchkreuzender Schmerz ließ ihn fast ohnmächtig werden, als er sich erschöpft auf das steinerne Bett niederlegte. Fast hätte er seinen von Peitschenhieben halb zerfetzten Rücken vergessen.
Die Nacht auf dem Bauch war kurz und wenig erholsam, denn wie schon zwei Tage zuvor weckte ihn Faugol früher als gewöhnlich. Sein Zellengenosse, einer der Aufständischen, musste liegen bleiben. Man führte Tado und vier andere Männer, die allesamt nicht an dem Übergriff auf die Aufseher beteiligt gewesen waren, über ihm bisher unbekannte Gänge tiefer ins Höhlensystem hinein. Der Steinzwerg erklärte ihnen, dass man festgestellt habe, die Arbeit in der Höhle, in der sie den Drachenfels vom Gestein befreiten, liege ihnen weniger gut als die Tätigkeit in der eigentlichen Mine, weswegen man sie nun an einen anderen Ort brachte. Tado glaubte jedoch, dass die Steinzwerge eher einen Vorwand suchten, um sie vor dem schlechten Einfluss der Aufständischen oder den brutalen Peitschenschlägen der Aufseher zu bewahren. Wahrscheinlich konnten sie es sich nicht leisten, das Leben wenigstens halbwegs loyaler Sklaven so leichtfertig aufs Spiel zu setzen.
Tado wusste nicht genau, was er davon halten sollte. Er wäre lieber in die Drachenfelsmine zurückgegangen, um weiter nach Kristallen zu suchen, doch offenbar schickte man die Gefangenen, die einmal befördert wurden, nicht wieder dorthin zurück.
Der Raum, den sie nach etwa zehn Minuten Fußmarsch betraten, war weitaus größer als die bisherigen Höhlen – nicht, was die Höhe betraf; das Gewölbe zeichnete sich vielmehr durch eine ungeheure Weitläufigkeit aus. Große Holzkonstruktionen stützten die Decke, von der vergitterte Käfige mit darin brennenden Fackeln herabhingen. Die Wände verliefen unregelmäßig, bildeten viele Nischen, Abzweigungen und Nebenhöhlen sowie Durchgänge zu weiteren Räumen. Zahlreiche Gefangene bearbeiteten das Gestein mit Spitzhacken. Tados Miene hellte sich etwas auf, als er in einiger Entfernung den blassen Schimmer der blauen Kristalle in einem kleinen Geröllberg erblickte. Auf den ersten Blick glich diese Höhle der Drachenfelsmine, doch die Aufseher hier trugen keine Peitschen, viele von ihnen waren gänzlich unbewaffnet und manche schwangen sogar ihrerseits das eine oder andere Werkzeug. Den größten Unterschied aber bildete das Material, das hier gefördert wurde. Nicht etwa Drachenfelsadern durchzogen das dunkle Gestein der Höhlenwände, sondern silbrig schimmerndes Erz.
„Dies hier ist ein Ordanvorkommen, das wir erst kürzlich entdeckt haben“, erklärte ihnen Faugol.
Während der Steinzwerg ihnen einige Einzelheiten über das Metall erklärte, sah sich Tado ein wenig um. Die Arbeit schien sich nicht groß von jener in der Drachenfelsmine zu unterscheiden, nur dass diesmal jegliches aus der Wand herausgeschlagenes Gestein in hölzernen Schubkarren gesammelt und zu einem Haufen in der Mitte der Höhle gebracht wurde, an dem eine Handvoll Steinzwerge fortwährend damit beschäftigt war, das Ordanerz in größere Wagen umzuladen, die anschließend durch einen breiten, hell erleuchteten Tunnel vermutlich zurück an die Oberfläche gebracht wurden. Zumindest bezweifelte Tado, dass sie das Metall hier unter der Erde herausschmelzen würden. Was ihm außerdem auffiel, war, dass es offenbar keine vorgeschriebenen Zeiten gab, zu denen die Gefangenen ihre Arbeit erledigen mussten, denn fortwährend kamen und gingen die mit Fußfesseln versehenen Männer durch einen am anderen Ende der Höhle befindlichen Gang. In diesem Moment erklärte ihnen auch Faugol, dass es hier ein paar abweichende Regelungen im Gegensatz zur übrigen Mine gäbe. So mussten sie jeden Tag eine bestimmte Anzahl Schubkarren voll Ordanerz, was von einem der Aufseher gründlich protokolliert wurde, aus dem Fels herausschlagen; hatten sie die Norm erfüllt, stünde es ihnen frei, die restliche Zeit auf ihrer Zelle zu verbringen. Wie sie sich ihre Arbeit einteilten, sei ihnen ebenfalls überlassen. Allerdings sollten sie achtgeben, die geforderte Anzahl keinesfalls zu unterschreiten.
Wie Tado jedoch schnell feststellen musste, verbarg sich hinter den durchaus freundlich klingenden Worten eine äußerst beschwerliche Arbeit, denn das Gestein in dieser Höhle war weitaus härter als jenes in der Drachenfelsmine und die Luft durch die vielen Fackeln bei viel zu kleinen Abzügen um einiges wärmer und stickiger. Dafür gab es hier mehr Kristalle. Sie erwiesen sich zudem als überaus stabil, denn selbst als Tado die Spitzhacke in einem unachtsamen Moment ein wenig abglitt und einen der bläulich schimmernden Steine unvermittelt traf, trug dieser nur eine kleine Blessur davon.
An die Schubkarre musste er sich erst gewöhnen: Einmal packte er sie so voll, dass er das Gewicht des Ordanerzes nicht mehr balancieren konnte und die Ladung verschüttete, was nicht weiter schlimm, ihm jedoch ziemlich unangenehm war.
Das Essen bekam er in der gleichen Höhle wie zuvor, nur schien die Portion heute größer zu sein. Die Arbeit in der Ordanmine zog sich bis in den späten Abend hinein, so viel Zeit benötigte er, um die geforderte Anzahl Schubkarren zu füllen. Alle anderen Gefangenen kamen ihm deutlich produktiver vor, denn als er schließlich erschöpft und wackligen Schrittes die Höhle in Richtung seiner neuen Zelle verließ, erblickte er unter den anderen Männern keinen mehr, der am Morgen zur gleichen Zeit wie er mit der Arbeit begonnen hatte.
Auf dem Weg in seine Unterkunft wurde er von einem Aufseher angehalten und nach seiner Zelle gefragt. Tado antwortete, dass dies sein erster Tag in der Ordanmine sei und er noch nirgendwo untergebracht wäre. Der Steinzwerg entrollte sogleich ein zerknittertes Papier, blickte einige Sekunden lang nachdenklich auf das darauf Geschriebene und zuckte dann mit den Achseln.
„Ich schätze, es geht nicht anders“, sagte er dann. „Im Moment ist nur Zelle Nummer siebzehn frei. Für diese eine Nacht wirst du damit Vorlieb nehmen müssen. Wir werden uns jedoch darum bemühen, so schnell wie möglich eine andere Unterkunft zu finden.“
Tado verstand die Worte des Steinzwerges nicht recht, fühlte sich jedoch zu müde, um seinerseits eine Frage zu stellen. Viel interessanter fand er im Moment ohnehin die Tatsache, dass offenbar jede Zelle eine Nummer trug und ihm das bis zu seinem sechsten Tag noch immer nicht aufgefallen war.
Er hatte seine Schlafstätte recht schnell gefunden und stellte erleichtert fest, dass sie, im Gegensatz zu seinen vorigen Unterkünften, eine Tür aus Metall besaß, die jegliche Blicke ins Innere der Zelle abschirmten. Vorsichtig öffnete er den Zugang zu dem kleinen Raum mithilfe eines abgenutzten Schlüssels, den ihm der Steinzwerg überreicht hatte. Das Innere unterschied sich allerdings weniger von der bereits gewohnten Ausstattung: Auch hier gab es nicht mehr als zwei steinerne Betten und eine nur noch schwach brennende Fackel unter einem kleinen Abzug. Außerdem fand er eine kleine Kiste, in der er seine Kristalle verstauen konnte, derer er mittlerweile so viele besaß, dass sie sich nur noch schwer mit bloßen Händen tragen ließen.
Auf dem Bett zur Rechten saß indes ein Gefangener, dessen Körper im flackernden Licht der ersterbenden Fackel zu einer dunklen Silhouette verschwamm, und beobachtete den Neuankömmling aufmerksam. Nachdem Tado seine Kristalle abgelegt und sich erschöpft auf das Bett niedergelassen hatte, stand der fremde Mann plötzlich vor ihm, ergriff wortlos die Kiste mit den blau schimmernden Steinen, öffnete die Tür und kippte den gesamten Inhalt in den draußen liegenden Gang. Danach schmetterte er den Zugang zur Zelle wieder zu, schloss ab und stellte das hölzerne Behältnis auf dem Boden, als sei nichts geschehen. Tado empörte sich, wollte zur Tür stürzen und seinem hart erarbeiteten Besitz nacheilen, doch der Gefangene hielt ihn zurück, griff mit einer Hand nach seinem Hals und hielt ihn auf Distanz. Die wütenden Schläge seines Gegenübers gingen wirkungslos auf den starken Arm des Mannes nieder.
Tado fühlte sich plötzlich in die Höhe gehoben, trat nach dem Bauch seines Gegners, doch dieser Angriff bereitete seinem Fuß mehr Schmerzen als dem Gefangenen, der ihn mit einer beiläufigen Bewegung zurück auf das steinerne Bett warf. Langsam beugte er sich hinunter zu Tado, als die Flammen der Fackel jäh aufleuchteten und das Gesicht des Mannes enthüllten.
„Du bist das Monster!“, keuchte Tado mit unbeabsichtigt zittriger Stimme, während sich ein ungeheurer Schmerz in seinem Körper auszubreiten begann.
„Ja.“