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β) Hypothetischer Monopolistentest

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Zur Beurteilung der Nachfragesubstitution führt die Bekanntmachung der Kommission zusätzlich den aus dem amerikanischen Anti-Trust-Recht übernommenen hypothetischen Monopolistentest in seiner Ausprägung als sog. SSNIP-Test (Small but significant non-permanent increase in price-Test) an. Um die Produkte, die im gleichen relevanten Markt liegen, bestimmen zu können, sei ein gedankliches Experiment durchzuführen, „bei dem von einer geringen, nicht vorübergehenden Änderung der relativen Preise ausgegangen und eine Bewertung der wahrscheinlichen Reaktion der Kunden vorgenommen“217 werde. Festzustellen sei dann, ob der mit der angenommenen kleinen, bleibenden Erhöhung der relativen Preise um 5–10 % einhergehende Absatzrückgang aufgrund des Ausweichens der Kunden auf leicht verfügbare Substitute den durch die hypothetische Preiserhöhung erzielten Gewinn aufzehrte und damit die Preiserhöhung nicht mehr einträglich wäre.218 In einem solchen Fall wären weitere Produkte (bzw. Gebiete) in die Prüfung mit einzubeziehen, bis die gedachte Preiserhöhung profitabel wäre. Wichtig erscheint, dass – anders als nach der oben (S. 89–93) wiedergegebenen amerikanischen Variante des SSNIP-Tests – nicht darauf abgestellt wird, ob ein gewinnmaximierender Monopolist den Preis tatsächlich um 5–10 % erhöhen würde: Denkbar ist, dass eine Preiserhöhung um 5–10 % noch profitabel wäre, der gewinnmaximierende Preis aber bereits bei einer Erhöhung um z.B. 3 % erreicht würde. Nach der referierten US-amerikanischen Spielart des Tests wäre der Markt in einer solchen Situation noch nicht zutreffend abgegrenzt, vielmehr durch Hinzunahme der Produkte und Gebiete zu bestimmen, bei denen der gewinnmaximierende Preis im Bereich einer Erhöhung von (wenigstens) 5 % läge. Dagegen könnte nach dem in der Kommissionsbekanntmachung vertretenen Ansatz der Markt bereits als zutreffend abgegrenzt gelten, sobald eine Preiserhöhung um 5–10 % profitabel wäre.

Anwendungspraxis. Die aus dem Jahr 2001 datierende Entscheidung CVC/Lenzing219 betrifft die Frage des Produktmarktes von Kunstspinnfasern für textile und nicht-textile Verwendung. Zur Anwendung des SSNIP-Tests führte die EU-Kommission zunächst eine umfassende Marktuntersuchung durch. Befragt wurden sowohl direkte wie indirekte Kunden der Parteien als auch die Parteien selbst sowie deren Wettbewerber. Mittels Fragebögen sollten so die maßgeblichen nachfrager- sowie anbieterseitigen Daten ermittelt werden.220 Weitere Beispiele für die Generierung von Daten durch Befragung der Marktteilnehmer finden sich in mehreren anderen Entscheidungen.221 Zur Frage der Repräsentativität solcher Marktuntersuchungen nahm die Kommission im Fall CVC/Lenzing den Standpunkt ein, dass eine Rücklaufrate von über 50 % sowohl hinsichtlich der absoluten Zahl der befragten Unternehmen als auch der von ihnen generierten Umsätze als Grundlage der weiteren Analyse ausreichend sei.222

Dass Marktbefragungen nicht stets zuverlässige Ergebnisse generieren, wird in der Entscheidung Südzucker/ED&F Man besonders deutlich. Im Rahmen der räumlichen Marktabgrenzung ging die Kommission der Frage nach, inwieweit industrielle Zuckerabnehmer, die ihren Bedarf typischerweise national auf dem italienischen Zuckermarkt deckten, im Falle einer 5–10 %igen Preiserhöhung auf ausländische Bezugsquellen ausweichen würden. Die Mehrheit der Nachfrager gab an, dass sie im Falle einer 5–10 %igen Preiserhöhung Zucker auch von ausländischen Anbietern beziehen würden. Diese Angabe stand jedoch in deutlichem Widerspruch zum vergangenen Verhalten der betroffenen Unternehmen, da in den vorangegangenen fünf Jahren in Italien bereits signifikante Preiserhöhungen von mehr als 5–10 % erfolgt waren und die große Mehrheit der Nachfrager dennoch nicht auf ausländische Bezugsquellen ausgewichen war.223

Um zwei Produkte als Substitute ansehen zu können, muss nach Ansicht der Kommission der Nachfrager den Wechsel von dem einen Produkt zum anderen, z.B. wegen eines kleinen, aber signifikanten, nicht nur vorübergehenden Preisanstiegs, in relativ kurzer Zeit als realistisch und rational möglich ansehen; bei ökonomischer und technischer Betrachtung müssen beide Produkte jeweils als sinnvolle Alternative zum anderen erscheinen.224

Die Ermittlung des Nachfragerverhaltens in Reaktion auf die hypothetische Preiserhöhung stellt jedoch nur den ersten Schritt des SSNIP-Tests dar. Die Beurteilung der Profitabilität der gedachten Preiserhöhung als zweiten Schritt des Tests erfolgt durch die Kommission oft nur kursorisch. Im Fall CVC/Lenzing wird zwar bei der Betrachtung der Kostensituation die Entwicklung der Fixkosten sowie der variablen Kosten erwogen, jedoch nur in recht allgemeiner Weise.225 Die Kommission stellt lediglich fest, dass ein Absatzrückgang von 10–15 % als Reaktion auf eine 10 %ige Preiserhöhung für Lyocell-Fasern nicht zur Annahme der Unprofitabilität der Preiserhöhung führen könne, und bleibt damit eine genaue Analyse schuldig.226

In der Entscheidung New Holland/Case227 zieht die Kommission bei der Abgrenzung des Marktes für leichte Baumaschinen ebenfalls ergänzend den SSNIP-Test heran, ohne das Ergebnis des Tests jedoch näher zu belegen. Es findet sich allein der Hinweis, dass die Nachforschungen der Kommission den Schluss zuließen, eine hypothetische kleine und nicht nur vorübergehende Preiserhöhung führe nicht zu einem Wechsel der Abnehmer auf andere einzelne Produktgruppen von leichten Baumaschinen in einem die Profitabilität der Preiserhöhung in Frage stellendem Maße.228 Insgesamt sei daher nicht von einem gesamten Markt für leichte Baumaschinen, sondern von insgesamt fünf Einzelmärkten auszugehen.229

Anders als von Dritten im Verfahren Exxon/Mobil230 vorgebracht, hat die Kommission in diesem Fall einen gemeinsamen Markt für Erdgas insgesamt angenommen und nicht nach Gas mit niedrigem (LCV, low calorific value) und solchem mit hohem (HCV, high calorific value) Brennwert unterschieden. Zu diesem Ergebnis gelangte die Kommission aufgrund der nachfrageseitigen Substitution: Eine 5–10 %ige Preiserhöhung von LCV Gas wäre in Ansehung der Tatsache, dass die Abnehmer von LCV zu HCV Gas wechseln könnten, unprofitabel.231 Es werden zwar im Zusammenhang mit der Versorgung einzelner Haushalte mit Erdgas kalkulatorische Erwägungen angestellt, jedoch stellen sie lediglich den finanziellen Anreiz und die Profitabilität eines Wechsels von LCV auf HCV Gas durch die Versorger der Haushalte bei einer hypothetischen Preiserhöhung des Preises für LCV Gas um 5 bzw. 10 % dar.232 Der von der Kommission daraus gezogene Schluss, dass eine Preiserhöhung um 5–10 % wegen des Wechsels der Versorgungsunternehmen unprofitabel sei, erscheint daher nicht folgerichtig.233

In ähnlicher Weise schließt die Kommission im Fall Astra Zeneca/Novartis234 aus der kalkulatorischen Vorteilhaftigkeit der weiteren Verwendung von auf Strobilurin basierenden Getreide-Fungiziden auf die Profitabilität einer angenommenen 5–10 %igen Preiserhöhung des alle Strobilurin-Getreide-Fungizide kontrollierenden hypothetischen Monopolisten.235 Im Ergebnis lässt die Kommission die Frage nach einem eigenständigen Markt für Strobilurin-Getreide-Fungizide jedoch offen und unterstellt einen alle Getreide-Fungizide umfassenden Markt.236

Maßgeblich für die Beurteilung ist die Reaktion derjenigen Kunden, die infolge einer Preiserhöhung zuerst auf das Substitut ausweichen würden, nicht dagegen das Verhalten der aufgrund starker Präferenzen oder aus anderen Gründen nicht wechselbereiten oder -fähigen Abnehmer. Auch wenn die große Mehrheit der Kunden unverlierbar ist, kann eine Gruppe der sich an der Grenze zum Wechsel befindenden Kunden, die sog. marginalen Kunden, eine Preiserhöhung unrentabel machen, wie dies im Fall TKS/ITW Signode/Titan237 der Fall war: Hier war zu entscheiden, ob Umreifungsbänder zur Verpackung aus Stahl oder aus Kunststoff zum selben Markt zu rechnen sind. Obwohl für einen Teil der Anwendungsbereiche (wenn Hitzebeständigkeit gefordert ist) die Kunden nicht auf PET-Umreifungsband ausweichen können, sie also unverlierbar sind, ist der Markt weiter zu fassen, insbesondere wenn eine Preisdiskriminierung – wie in diesem Fall zwischen hitzebeständiger und übriger Anwendung – nicht durchführbar erscheint.238

Dass ökonomischen Methoden und explizit dem SSNIP-Test in einigen Fällen von der Kommission hohes Gewicht beigemessen wird, macht u.a. die Entscheidung RAG/Degussa239 deutlich, in der trotz möglicher Aufwärtskompatibilität von Beton-Zusätzen (d.h. trotz Austauschbarkeit aufgrund von Produktcharakteristika) mangels schlüssiger Darlegung einer ökonomisch realisierbaren Substitution mit Bezugnahme auf den SSNIP-Test ein gemeinsamer Markt der verschiedenen Betonzusätze verneint wurde.240

Wenn auch in der überwiegenden Zahl von Fällen eine konkrete Entscheidung über die Marktabgrenzung offen bleibt, werden oft einzelne Aspekte des SSNIP-Tests aufgegriffen. Im Fall Barilla/Kamps241 stellte die Kommission fest, die Marktanalyse habe ergeben, dass ein hypothetischer Monopolist eine dem SSNIP-Test entsprechende Preiserhöhung für Knäckebrot profitabel durchführen könne, weshalb Knäckebrot einen separaten Produktmarkt bilden könne.242 Letztlich kam es für die Entscheidung über den Zusammenschluss von Barilla und Kamps jedoch nicht auf eine genaue Marktabgrenzung an, da der beabsichtigte Zusammenschluss unter jeder denkbaren sachlichen Marktdefinition ernstliche Zweifel an der Vereinbarkeit mit dem gemeinsamen Markt hervorrief; die Entscheidung, ob aufgrund des SSNIP-Tests ein eigener Markt für Knäckebrot anzunehmen war, wurde daher offengelassen.243

Beispiel für ein häufig auftretendes Problem in Verbindung mit der Anwendung des SSNIP-Tests ist der Fall Carnival Corporation/P&O Princess,244 in dem zu entscheiden war, ob der relevante Produktmarkt als derjenige für Urlaubsreisen allgemein oder lediglich als der für – von den Parteien angebotenen – Kreuzfahrtreisen anzusehen war. Die Kommission führte hierzu eine Mehrzahl von Anhaltspunkten für die Trennung der Kreuzfahrtreisen von übrigen Urlaubsreisen an und gelangte im Ergebnis zu dieser engeren Marktabgrenzung. Gleichzeitig bemerkte sie jedoch, dass es ihr nicht möglich gewesen sei, Datenmaterial zu akquirieren, anhand dessen quantitative Tests zur Bestimmung der sachlichen Marktgrenzen, so v.a. der SSNIP-Test durchzuführen wären.245

Schließlich ist ausdrücklich hervorzuheben, dass die Kommission dem SSNIP-Test keine gegenüber anderen Konzepten vorrangige Bedeutung beimisst. Dies wird an der Entscheidung im Fall Virgin/British Airways246 indirekt deutlich. British Airways kritisierte hier, dass sich die Kommission zur Bestimmung des relevanten Produktmarktes nicht auf den SSNIP-Test stütze und damit von ihren eigenen Leitlinien abweiche.247 Hierzu stellte die Kommission fest, dass die Bekanntmachung nur beschreibe, wie die Kommission den sachlich relevanten Markt anhand von Produkteigenschaften, Substitution in der Vergangenheit etc. bestimme und der SSNIP-Test lediglich im Zusammenhang mit der Erläuterung des Begriffes des relevanten Marktes Erwähnung finde, sodass ihm offensichtlich keine alleinige Kompetenz zur Bestimmung von Produktmärkten zukomme.248 Dementsprechend hat die Kommission im Fall Norddeutsche Affinerie/Cumerio aufgrund der hohen angebotsseitigen Substituierbarkeit zweier Arten von Kupfergusserzeugnissen einen einheitlichen Markt angenommen, obgleich die überwiegende Mehrheit der Kunden erklärte, dass sie im Falle einer 5–10 %igen Preiserhöhung nicht auf die andere Art ausweichen würden.249

Auch bei der Abgrenzung von Märkten in geographischer Hinsicht zieht die Kommission neben anderen Methoden den SSNIP-Test heran. Der räumlich relevante Markt für Haarpflegeprodukte des Einzelhandels wurde in der Entscheidung Procter & Gamble/Wella250 mitunter deshalb als national angesehen, weil bei einer 5–10 %igen Preiserhöhung die meisten Großhandelskunden ihren Bedarf nicht über das Ausland decken würden.251 Zu dieser Auffassung gelangt die Kommission im Gegensatz zu den von den Parteien vorgebrachten Untersuchungen; Procter & Gamble bezeichnete die räumlich relevanten Märkte selbst als Clustermärkte, z.B. Norwegen, Schweden und Dänemark als einen Markt. Eine 5–10 %ige Preiserhöhung in Norwegen könne nicht profitabel durchgesetzt werden, da in einem solchen Fall die Kunden nach Dänemark oder Schweden ausweichen würden. Jedoch spricht die Kommission dieser Analyse die Überzeugungskraft ab, da die untersuchten Produkte nicht in allen Ländern des Clusters verfügbar seien.252 In der Entscheidung Ineos/Kerling253 umfasste die ausführliche Analyse des relevanten räumlichen Marktes auch eine Critical Loss Analysis (CLA),254 mittels derer die Profitabilität einer kleinen, aber signifikanten und nicht-vorübergehenden Preiserhöhung untersucht wurde. Allerdings war diese ökonometrische Schätzung letztlich nicht verlässlich genug, um einen hinreichenden Nachweis für eine bestimmte Marktabgrenzung zu erbringen.255 Die Kommission untersuchte daher auch die Auswirkungen eines Werksausfalls auf die Entwicklung der abgesetzten Menge, der Preise und der Gewinnspannen. Da die Gewinnspannen der anderen Produzenten in dem kleinsten denkbaren relevanten Markt nicht gestiegen waren, indizierte dieses natürliche Experiment einen weiteren räumlich relevanten Markt.256

Zeitlicher Rahmen des SSNIP-Tests. Gemäß der Bekanntmachung der Kommission über die Definition des relevanten Marktes sind bei der Anwendung des SSNIP-Tests im Rahmen der Nachfragesubstituierbarkeit die Produkte oder Gebiete in die Prüfung einzubeziehen, deren Wettbewerbsdruck „das Preisgebaren der Parteien kurzfristig beeinflusst oder beschränkt“.257 In der Entscheidung Mitsumi/CVRD/Caemi258 definierte die Kommission bei der Frage des Marktes für verschiedene Arten von Eisenerz diese kurzfristige Zeitspanne als einen Zeitraum von zumindest einem Jahr.259

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