Читать книгу Lieben, leiten, leben - Daniel Zindel - Страница 12
ОглавлениеCharakter
Damit bezeichnen wir unsere Art oder Unart. Jeder von uns hat seinen Charakter, ist eine Persönlichkeit. Wir sind originale Geschöpfe Gottes. Wir haben unsere genetischen Vorgaben. Wir sind in gesunden oder kranken Familien groß geworden. Wir haben an Modellen gelernt, was ein Mann oder eine Frau ist, wie ein Paar zusammenlebt, wie Kinder erzogen werden. Wir haben unsere Vorbilder – gute, schlechte, meist irgendwo dazwischen. Was wir geworden sind, ist die Folge unserer Erziehung, das Resultat unserer Selbsterziehung, die Auswirkung unserer Lernfelder, die Frucht von Gottes einmaliger Geschichte mit jedem von uns.
Unser Charakter ist noch nicht voll ausgebildet. Wir sind weiter formbar. Wenn Gott in der biblischen Symbolgeschichte den Menschen aus Erde macht, wird damit nicht nur gesagt, dass wir Erde (lateinisch humus) sind und wieder zu Erde werden. Der Mensch bleibt immer formbar wie Lehm. Plastizität, Formbarkeit gehört zu unserer Grundstruktur. – Und wer weiß, vielleicht werden wir älter und dabei sogar ein bisschen weiser (lateinisch homo sapiens)!
Ko-Evolution
Eines der größten Abenteuer unserer Charakterveränderung beginnt mit der nachhaltigen Bindung an einen Ehepartner. Bei der Partnerwahl haben unbewusste Kräfte eine Rolle gespielt: Gemeinsamkeiten haben uns fasziniert, unsere Gegensätzlichkeit zog uns an. In gewissen Bereichen passen wir zusammen wie Topf und Deckel. Es entwickelte sich ein Zusammenspiel und gemeinsame Muster entstanden. Wir können uns zu unserem Schaden in einer unguten »Kollusion« verzahnen (damit ist in diesem Zusammenhang das unbewusste Zusammenspiel eines Paares in unausgesprochenem Einvernehmen gemeint, sozusagen ein »geheimes Einverständnis«),5 zum Beispiel als Opfertyp, der sich mit einem gewalttätigen Grobian verbindet. Wir können uns im Guten optimal ergänzen und aneinander entwickeln.
Was hat meine Frau nicht alles aus mir hervorgelockt? Ich (Daniel) entwickelte an ihr Charaktereigenschaften wie Häuslichkeit, Freude am Kochen, Konfliktfähigkeit und Ehrlichkeit. In wievielen Gebieten ist sie meine Entwicklungshelferin gewesen! Ich (Käthi) habe Ausdauer und Mut entwickelt, weil mein Mann mich im Sommer wie im Winter auf alle Berge schleppte.
Unser Charakter erfährt durch die Ehe eine »Ko-Evolution«.6 Wir verändern uns an dem, durch das und mit dem Gegenüber. Jeder Wachstumsschritt, jede Veränderung eines Partners erfordert eine Anpassung des anderen. Es gibt kein größeres Flexibilitätstraining als eine dynamisch gelebte Ehebeziehung. Das überfordert uns oft, weil Charakterveränderungen Zeit brauchen, mit Leiden verbunden sind und wir es lieber gemütlich und bequem hätten.
Der Punkt der Anziehung wird zum Punkt des Konflikts
Unsere Not entsteht oft dort, wo eine Charaktereigenschaft unseres Partners, die uns zunächst fasziniert hat, uns zu stören beginnt, bis sich daran sogar eigenes Leiden entzündet. Ausgerechnet der Punkt der Anziehung wird jetzt zum Konfliktpunkt. Der tiefgründige, stille Denker entpuppt sich als »stummer Bock«. Die filigrane, zerbrechliche Sensible wird zur unberührbaren Mimose. Also beginnt sie zu bohren: »Hast du mir denn nichts zu sagen?« Darauf hin wird er noch bockiger. Er sagt kopfschüttelnd: »Du musst doch nicht immer so überempfindlich reagieren!« Was wiederum ihre Robustheit nicht gerade stärkt.
Was uns am Charakter des anderen stört, beginnen wir zu bearbeiten. Unsere Ehe verwandelt sich zuerst in eine ichbefangene Töpferei: Am Charakter des Gegenübers wird mit sanftem Fingerdruck subtil modelliert. »Schatz, meinst du nicht auch, du solltest es nicht immer so persönlich nehmen?« Natürlich verhärtet uns die gegenseitige Nörgelei, wir bilden Abwehrpanzer. Die Töpferei wird nun in ein Bildhaueratelier verwandelt und Mann oder Frau greifen zu Meißel und Vorschlaghammer. (»Wenn das noch einmal vorkommt, gehe ich«). – Unter Druck und Manipulation ändern wir unseren Charakter nie, wir passen uns nur vordergründig an. Der Humus für Charakterveränderungen besteht aus Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit, Geduld und Liebe. In einer Töpferei gedeiht eheliche Liebe schlecht, und Hammer und Meißel führen meistens zu ihrem Tod.
Tri-Evolution
Es war für uns ein echter Qualitätssprung in unserer Beziehung, als wir aufzuhören begannen (sic!), aneinander herum zu schrauben. Da war meinerseits viel Vertrauen notwendig, dass Gott den Charakter meiner Frau weiter ausgestalten wird. Aber wird Gott, der ja unsere Einheit baut, es zu meinen Ungunsten tun? Es war für mich (Käthi) ermutigend, zu sehen, dass mein Mann sich mir mehr zuwandte, mit mir freiwillig mehr unternahm und sich mir in seiner Tiefe mehr öffnete, nachdem ich aufgehört hatte, ihn unter Druck zu setzen und an ihm herum zu nörgeln.
Was wir hier beschreiben, ist mehr als die Dynamik einer »Ko-Evolution«. Es ist eine »Tri-Evolution«, weil Gott als Dritter im Bunde die Ehepartner einerseits in einer guten Art trennt und entflicht. Er verhilft jedem einzelnen zu seiner Entfaltung. Andererseits ist er ein Gott, der zusammenfügt. Er koordiniert und verbindet von höherer Warte aus die Ehepartner: Wir gestehen einander heute viel Freiheit zu und gehen davon aus, dass jeder von uns eigenverantwortlich mit Gott in ganz persönlichen Lernprozessen steht, die letztlich auch dem Gegenüber zugute kommen. Die Fokussierung auf Gott (und nicht auf die eigenen Bedürfnisse oder die Wünsche des Partners) ermöglicht Ehe- und Persönlichkeitswachstum. Das ist nicht nur sehr entlastend, sondern auch abenteuerlich, weil Gott radikaler verändert, als wir es uns gedacht haben.
Charakterentwicklung durch Leitungsverantwortung
Was bedeutet das für unsere Leitungsverantwortung, die unsere Charakterentwicklung mehr prägt, als wir denken? Wir werden zwar nicht immer etwas aus unserem Posten machen können, in jedem Fall wird jedoch der Posten etwas aus uns machen. Im Guten oder im Schlechten: Wir wachsen an unserer Verantwortung und können dabei unsere besten Kräfte und Gaben entwickeln. Wir sind unter Umständen aber auch dem Druck und der Deformation durch unsere Führungsaufgabe ausgesetzt. Uns umgibt vielleicht eine Führungs- und Geschäftskultur, die beziehungsfeindlich, gar eheschädigend ist. Zudem verlangt unser Führungsalltag Haltungen wie Schnelligkeit, Effizienz und Durchsetzungsfähigkeit um jeden Preis. Wir sind in einem Umfeld tätig, wo wir sachlich sein müssen, uns ja keine Blöße geben dürfen und immer Stärke demonstrieren müssen.
Diese Gesinnungen, die wir jeden Tag stundenlang trainieren, verbessern nicht gerade unsere Ehe- und Familientauglichkeit. Im Gegenteil, in der Ehebeziehung ist vielleicht Geduld gefragt, Nachgeben, Emotionalität, Verletzlichkeit. In der Ehe lasse ich die eigene Bedürftigkeit zu und nehme die Schwäche des Partners an. Je mehr wir im Führungsalltag solchen für die Ehe wenig hilfreichen charakterlichen Prägekräften ausgesetzt sind, desto wichtiger ist es, dass der Heilige Geist unseren Charakter prägt und umformt. (Je größer die »déformation professionelle«, um so wichtiger ist die »formation spirituelle«.) Durch Stille vor Gott, durch Bibellesen, durch das Zwiegespräch mit unserem Schöpfer und die Gemeinschaft mit anderen Christen bauen wir ehetaugliche Gesinnungen auf.
Auch wenn die Organisation, in der wir arbeiten, anders »tickt« als das Zusammenleben in Ehe und Familie, können wir anfangen, Selbst- und Sozialkompetenzen, die wir in der Ehe entdecken, auch im Unternehmen punktuell einzubringen. Als Leitende können wir sogar eine ganze Kultur umprägen. Eigentlich sind diese »weichen Faktoren«, die wir in einer Ehe lernen, auch für ein Unternehmen unerlässlich: Ich (Daniel) denke an einen unserer Mitarbeiter, der heikle Konflikte klar und ehrlich anspricht und dabei seinen Mitarbeitenden liebevoll zugewandt bleiben kann. Das hat er im Trainingscamp seiner Ehe gelernt.
5Jürg Willi, Die Zweierbeziehung – Spannungsursachen – Störungsmuster – Klärungsprozesse – Lösungsmodelle. Analyse des unbewussten Zusammenspiels in Partnerwahl und Paarkonflikt: das Kollusionskonzept, Rowohlt, Reinbek 162004.
6Jürg Willi, Die Kunst gemeinsamen Wachsens – Ko-Evolution in Partnerschaft, Familie und Kultur, Herder, Freiburg 2007.