Читать книгу Fluch aus vergangenen Tagen - Daniela Christine Geissler - Страница 9

Kapitel 2

Оглавление

Philadelphia, Frühherbst 1975


Väterlich legte er seine Hand auf ihre schmale Schulter “Bist du soweit?“

Aufgeregt, als würde man sie zu ihrer Hochzeit bringen, antwortete sie feierlich „Ja, wir können gehen.“

Dabei wandte sie sich zur halb geschwungenen, weißen Wendeltreppe um und betrachtete das Ölgemälde an der Wand, das sie als Kind darstellte. Ruth erinnerte sich daran, wie er sie damals zärtlich ermahnte „Steh ruhig! Ich kann dich nicht malen, wenn du ständig von einem Fuß auf den anderen hüpfst.“ Ihre Kindheit war eine Zeit voller Wehmut und Sehnsucht. Nur die Gegenwart von Onkel Richard konnte jene trüben Tage mit ein wenig Freude füllen. Alle liebten ihn.

Als würde man ein Lamm zur Schlachtbank führen. Welch eine Vergeudung an Jugend, an Schönheit, an das Leben überhaupt, quälte er sich. Er hatte das Bedürfnis Ruth zu schütteln, bis sie endlich zur Vernunft kommt, um aus diesem Albtraum zu erwachen. Als Richard jedoch in ihr verklärtes Gesicht sah, fürchtete er, dass es keinen Sinn hatte. Die Welt hatte ein liebliches Geschöpf weniger.

Dabei hatte er wirklich alles versucht, um ihr das Leben danach - nach dem schrecklichen Unfall - erträglich zu machen. Ihre Freundinnen beneideten sie um ihren Onkel und schmolzen dahin, wenn er einer von ihnen sein charmantes Lächeln schenkte. Er war der Liebling der Frauen, ein Don Juan, ein Casanova und noch vieles mehr.

„Mach nicht so ein Gesicht, Richard! Ich gehe zum Herrn, nicht zu meiner Beerdigung.“, scherzte sie. Sein Hals brannte, er fühlte sich als Versager. Üblicherweise hatte er auf Frauen einen gewissen Einfluss, dem sich diese kaum entziehen konnten, doch Ruth entglitt ihm wie eine Wachsfigur, die unter seiner Fürsorge schmolz.

Vor einigen Jahren verlor die Familie Nelligan bei einer Europareise durch einen Autounfall ihren Sohn Phil, die Schwiegertochter Janet und fast auch Ruth. Doch die Ärzte schafften das Unmögliche, besser ausgedrückt, Richard schaffte es.

Toskana, 1966, zwei Uhr nachts:

Richard schreckte im Schlaf, von einem bösen Traum wachgerüttelt, auf. In den letzten Tagen schon, überfiel ihn immer wieder eine seltsame Furcht. Er spürte, wenn ein Unglück nahte - er fühlte es mit seinem ganzen Körper.

Es war, als ob jemand die Zeit still stehen ließe und er darin gefangen war. In solchen Momenten konnte er nur abwarten. Er hatte eine Gabe, er war fähig Schicksalsschläge vorher zu sehen, aber es war ihm nicht möglich, diese abzuwenden. Richard richtete sich im Bett auf und sah den Wagen vor seinem inneren Auge den regennassen Asphalt entlang fahren. Er sah die Kurve bildlich vor sich und das verzerrte Gesicht von Phil und er wusste, dass es gerade jetzt passierte. Das Auto krachte seitlich durch die Planken und überschlug sich die Böschung hinunter. Phil und Janet waren sofort tot. Es ging alles rasend schnell. Richard bangte um das Kind. Mit seinem Geist hüllte er seine Nichte ein und drückte sie in den Sitz, bis seine Hände weiß waren. Schweißgebadet von dieser Horrorvision fiel er erschöpft ins Kissen zurück. Jetzt konnte er nur mehr auf den Anruf warten, wenn man ihm den Tod seines Bruders mitteilte. Morgens um sieben Uhr erhielt er jenen Anruf, der von diesem Tag an, das Leben der Familie Nelligan veränderte. Er nahm Ruth ihre Eltern und machte seinen Vater zum Trinker. Wie das Kind den Unfall überleben konnte, war den Experten ein Rätsel. Das Auto war ein einziger Schrotthaufen. Ruths Verletzungen waren äußerst ernst, aber nicht lebensbedrohlich.

Der Oberarzt der Pädiatrie meinte, dass es eine schwere Zeit für Ruth werden würde.

Richard, damals zweiunddreißig Jahre alt, versuchte danach alles Mögliche, um seiner neunjährigen Nichte das Trauma ihrer Kindheit zu verscheuchen.

Grenoble, Frühherbst 1975

Richard machte sich Vorwürfe, vielleicht hätte er länger bei ihr bleiben sollen. Er fühlte, dass er den Kampf verloren hatte. Er hatte es nicht geschafft sie ins Leben zurückzuholen. Genauso gut hätte sie damals sterben können, dachte er betrübt und betrachtete ihr immer noch kindliches Profil.

Nachdem sie am Internationalen Flughafen in Grenoble angekommen waren, nahmen sie sich ein Taxi. Nach einer kurvenreichen Fahrt durch die Alpen hielt der Wagen vor dem Kloster. Der weiße Kies knirschte unter den Reifen, als der Fahrer den Wagen vor das monumentale Gebäude lenkte, das sich bedrohlich gegen den Himmel reckte. Hol sie endlich! Du willst sie, weil ich sie dir damals nicht geben wollte und jetzt, da hast du sie, und nun mach sie glücklich, haderte sein Innerstes mit Gott. Eine schwarz gekleidete Gestalt näherte sich, um das große, eiserne Tor zu öffnen.

Richard registrierte eher ein Schweben, als ein Schreiten. "Wohl zu stolz zum Gehen, was? Diese Leute müssen sich einher schwingen, um sich selbst und anderen als würdig zu erweisen. Einfach lächerlich dieses Getue.“, murmelte er vor sich hin. Ruths Gedanken hingen an ihrem zukünftigen Lebensabschnitt und sie nahm nur undeutlich am Rande, die Worte ihres Onkels wahr „Was hast du gesagt, Richard?“

„Ach, nichts! Sie kommen um dich zu holen.“, murmelte er weiter und starrte trotzig zum Kloster. Abzuholen in ein Irrenhaus, dachte er den Satz zu Ende.

Bevor er die Wagentür öffnen konnte, lugte die schwarze Gestalt bereits ins Wageninnere. Richard stöhnte bei dem Anblick dieser Kleidung und rätselte, warum diese Leute sich so seltsam kleiden mussten. Er hielt nichts vom Glauben der Religionen und deren Einheitskleidung verglich er mit dem Gewand von Sträflingen. Einige katholische Männerorden kleideten ihre Mönche in diese braunen, groben Gewänder. Darin erweckten sie den Eindruck riesiger Ratten und die Nonnen mit ihren Häubchen glichen flatternden Fledermäusen, fand er. Außerdem war die Katholische Kirche für ihn ein Verein von Genussverächter und er konnte sich nicht damit abfinden, seine Nichte dort zu lassen. Ein Haufen von Narren, die meinten, dass Gott ihnen für dieses Kasperltheater der Verkleidung, am Tag des Letzten Gerichts den goldenen Teller vor die Nase stellen würde. Ihm schwindelte bei dem Gedanken, dass seine Nichte ihr weiteres Leben, bei diesen schrägen Frauen verbringen sollte, die seiner Meinung nach, vom Wahnsinn keine zwei Schritte entfernt waren. Zwei weitere Gestalten, ebenfalls so gekleidet, kamen zu ihnen und führten sie ins Kloster. Für Richard, der als Maler, alles Schöne liebte, war dies eine geschmacklose Fantasieentgleisung und dachte: Wenigstens laufen sie nicht frei herum und sind auf die grandiose Idee gekommen, sich selbst einzusperren. Die Schwestern würdigten Richard kaum eines Blickes, nur ein spartanisches „Grüß Gott!“, gaben sie von sich, wenn sein Blick sie streifte. Er fühlte sich sichtlich unwohl. Eine solche Aversion gegen weibliche Gesellschaft empfand er selten. Man geleitete sie in einen Aufenthaltsraum, außerhalb der Klausur, der die Atmosphäre eines unfreundlichen Klassenzimmers hatte. Musste sie sich ausgerechnet diesen Orden aussuchen? Es gibt sicher freundlichere, überlegte er und betrachtete die vergitterten Fenster.

Die beleibte Mutter Oberin saß vor ihnen, die Hände vor der gewaltigen Brust verschränkt. Ihre ganze Aufmerksamkeit galt Ruth und mit strengem Ton, betont würdig, begann sie „Sie haben sich also entschlossen, unserem Orden der Karmelitinnen beizutreten und Ihr Noviziat hier anzutreten.“ Dabei nickte sie selbstzufrieden und ein Redeschwall über die Ordnung im Kloster ergoss sich über die beiden. Nach fünf Minuten konnte er kein Wort mehr ihres diktatorischen Vortrages vom „Dienst an dem Herrn“, mehr hören. Ihm wurde übel vor so viel Selbstherrlichkeit, doch Ruth hing an ihren Lippen. Bald würde auch sie eine von ihnen sein und ihre Persönlichkeit wird bis ins kleinste Detail, aus ihr herausgeschält werden, um sich diesem Leben anpassen zu können.

Er hielt es nicht mehr aus, erhob sich und unterbrach so abrupt den monotonen Monolog der Nonne, die entrüstet zu ihm aufblickte. Aus seiner trockenen Kehle entfuhr ihm „Ich werde mich wieder auf den Weg machen. Also dann, Ruth, bye.“ Seine Augen brannten, seine Stimme klang heiser. Die Tür öffnete sich und Schwester Agnes trat ein. Es war ihm nicht mehr möglich sein Umfeld zu erfassen, so sehr schmerzte ihn dieser Augenblick. Ein weißer Lichtstrahl fiel auf Richards kantiges Profil.

An seiner Wange konnte Schwester Agnes eine Träne sehen. Mit einer heftigen Geste zog er Ruth zu sich, umarmte sie, löste sich schnell wieder und wandte sich zur Tür.

Eingehüllt in ein gleißendes Sonnenlicht, welches vom Gang ins Zimmer fiel, verstellte ihm eine zierliche Gestalt den Weg und wie er an ihr vorbei näher zur Tür schritt, traf ihn ihr Blick. Noch nie zuvor hatte sie einen Mann weinen gesehen. Für einen kurzen Moment versenkten sich ihre staunenden Augen in seinen Schmerz und ein kühler Hauch kam auf ihn zu. Ihre bernsteinfarbenen Augen umgaben dichte, schwarze Wimpern. Selbst jetzt noch in seinem Schmerz war er ganz Künstler, erfasste das ebenmäßige Gesicht und ihren geraden Blick. Er glaubte Reinheit zu sehen, vermengt mit einer überirdischen Sinnlichkeit. Sie kann kaum Dreißig sein, fuhr es ihm durch den Sinn.

Sie fühlte seine Energie, seinen Trotz der Welt gegenüber. Er senkte seinen Kopf und schloss die Tür hinter sich. Mutter Elisabeth, von dieser Szene mehr peinlich, als traurig berührt, fuhr schnell mit ihrer Ansprache an ihren neuen Zögling fort. So war es Ruth gar nicht mehr möglich an Richard zu denken und schon bald versank sie ganz in der neuen Rolle der Novizin, als Gehorchende.

Mit hängenden Schultern marschierte Richard stereotyp Richtung Wagen. Sein Zynismus war ihm vergangen. Er hatte nicht gedacht, dass es so bitter sein würde. An seinem Rücken spürte er Kälte und er begann, trotz des sonnigen Tages, zu frieren.

Ihre Aura erreichte seinen sensitiven Sinn, ihre Schritte waren kaum zu hören. Er blieb stehen, drehte sich um und betrachtete sein Gegenüber. Die Regelmäßigkeit ihres ovalen Gesichts wurde unterstützt von dem einrahmenden Ordensschleier. Ihre schön geformten Lippen und ihr Blick gaben Schwester Agnes das Flair eines überirdischen Wesens.

„Es tut mir leid.“, hörte er ihre klare Stimme.

Richard schüttelte den Kopf und bellte „Was tut ihnen leid?“ Gleich darauf bereute er seinen schroffen Tonfall. Sie ging einen Schritt zurück und sagte bestimmt „Weil es Ihnen nicht möglich ist, sie zu verstehen!“

Er war zu müde, ihr zu widersprechen, um ihr das Gegenteil klar zu machen. Er drehte sich einfach um und ging weiter. „Kommen Sie wieder und besuchen Sie Ruth.“, rief sie ihm sanft nach. Leichter Zorn erfasste ihn und barsch rief er zurück „Oh ja, ich werde sie mir in einem Monat ansehen, werde sehen, was ihr dann aus ihr gemacht habt!“ Sie entfernte sich. Nochmals bereute er seinen Tonfall, denn dieses Verhalten entsprach nicht seiner charmanten Art. Er rief ihr nach „Gut, ich werde wieder kommen!“

Sie unterbrach ihren sicheren Schritt und blickte kurz zurück

„Sie wird sich sicher freuen.“

„Und Sie? Werden auch Sie sich freuen?“

Sie blickte auf den Boden, richtete sich auf und sprach wie ein gut ausgebildeter Soldat „Es würde mich freuen, wenn es Ihnen dann wieder besser geht.“ Daraufhin drehte sie sich um und entfernte sich raschen Schrittes.

Er starrte ihr nach, bis er nur mehr ihre Umrisse erkennen konnte.

Fluch aus vergangenen Tagen

Подняться наверх