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Prolog Ein Gelächter und eine schmerzliche Scham

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Als Kind wollte ich Clown werden. Dass ich es nicht geworden bin, liegt an meinem Vater. Mit etwa zehn Jahren trat ich im Gemeindesaal unseres Dorfes als Hofnarr in einem Singspiel auf. Meine Rolle bestand aus einem Monolog mit vielen Pointen und ausgiebigem Gesang, der mir teilweise absichtlich schiefe Töne abverlangte. Mein Vater war der Einzige in diesem vollbesetzten Saal, der über das, was ich mit stolzer Brust im Stabreim-Schema vortrug, nicht lachte.

Mein Vater ist ein humorvoller Mensch. Ich verstand nicht, warum er nicht in das Lachen mit einstimmte, sondern sich stattdessen unsicher nach allen Seiten im Publikum umsah. Als ich ihn später einmal nach dem Grund dafür fragte, konnte er sich an nichts erinnern.

Inzwischen kann ich die Szene für mich entziffern. Er konnte nicht einschätzen, ob die Leute mit mir oder ob sie über mich lachten. Was ihn irritierte, war die ästhetische Kategorie des Dargebotenen. Das Singspiel ist eine Kunstform zwischen Oper und Musical, Ernst und Unterhaltung. Inszeniert hatte es die Pfarrers- und Musikerfamilie unseres Dorfes, und neben meinem Vater im Publikum saß auch deren UMFELD.

Im Lachen dieser anderen und der Unsicherheit, ob die Aufführung als gehoben oder trivial einzuordnen wäre, tat sich der Spalt seines lange vergangenen Milieuwechsels auf. Mein Vater gehörte, wie der Großteil des Publikums, der jungen ländlichen Mittelklasse an, seine Eltern aber waren noch Kleinbauern gewesen. Auch meine Rolle irritierte ihn. Wortgeschichtlich geht der »Clown« auf das englische Wort für »Bauerntölpel« zurück. Er hatte intuitiv ganz richtige Antennen, hier die Gefahr einer Entblößung zu registrieren.

Der Narr gehört keiner Klasse an, sein Geschlecht ist zweideutig, ebenso seine Ethnie. Gerade weil er eher ein »Etwas« als einen »Jemand« darstellte, durfte er am Hofe traditionell als Einziger die Wahrheit sagen. Indem er seine Identität auslöschte, erhielt er das Recht, die Königin oder den König durch die Maske des Humors zu kritisieren.

Mein Vater ist in seinem Leben zu Geld und Ansehen gelangt, doch hat er, anders als meine Schwester und ich, kein Abitur gemacht und auch nie eine Universität besucht. Ich bin sowohl die erste Akademikerin als auch die erste Kunstschaffende meiner Kernfamilie. Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass dies der Grund war, weshalb ich mich in bestimmten intellektuellen Kontexten nie zur Gänze heimisch fühlte.

Ein jeder wächst in einem bestimmten Milieu auf und entwickelt Vorlieben und Selbstverständlichkeiten in Hinblick auf Sprache, Gefühle, Gebärden, Geschmack, Sozialverhalten, Moralvorstellungen, Statusbewusstsein und so fort. Eine soziale Grammatik. Im Falle eines Milieuwechsels geraten diese als natürlich empfundenen Muster gehörig in Unordnung. Man lernt neue, künstliche Habitusformen (Bourdieu), die jene ersten, »natürlichen« überdecken. Wirklich verschwinden können diese ersten Muster nie. Die Herkunft ist einem jeden in die soziale Aura eintätowiert. Es ist deshalb kein Wunder, dass viele Überläufer (Nizan) sich wie ein Kunstprodukt oder eine Fälschung vorkommen.

Statt Clown bin ich Autorin geworden, was sich, je nach Tagesform, Jahreszeit und Kontostand, nicht unähnlich anfühlt. Wie viele, die schreiben, schreibe ich über das, was ich als verwirrend empfinde. Jedoch sah ich viele Jahre lang knapp am Gegenstand meiner größten Verwirrung vorbei.

Mich beschäftigten die Themen »fremd sein« und »Frau sein«, die sich in Gestalt meiner Mutter aufdrängten. Meine Mutter ist erst im Alter von sechs Jahren nach Deutschland gekommen, den ersten Teil ihrer Kindheit hat sie in Polen verbracht, im oberschlesischen Miechowice, als Tochter eines schlesiendeutschen Bergmanns und einer Verkäuferin. Auch sie hat also, wie mein Vater, einen Milieuwechsel hinter sich. Es wäre nur naheliegend gewesen, mich auch für die soziale Herkunft meiner Mutter bzw. Eltern zu interessieren, doch dies tauchte immer nur beiläufig, im Augenwinkel auf.1

Ein Grund meiner Blindheit liegt auf der Hand. Meine Eltern hatten immer Geld und gingen großzügig damit um. Geld war vermeintlich kein Thema. Es sollte keines sein.

Als Angehörige des westdeutschen Wirtschaftswunder-Aufsteigermilieus dieser Zeit verwendeten meine Eltern viel Schweiß und Energie darauf, ihre noch jungen Privilegien – ihre Bildung, ihre »sauberen Berufe« – als NORMAL zu betrachten.

Aus heutiger Sicht kommt mir das Selbstverständnis meiner Familie, »NORMAL viel Geld« zu haben, bizarr vor. Wenn es etwas in Bezug auf Geld nicht geben kann, dann Normalität. Geld und Besitz lassen sich nur relational einordnen.

Das Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, ist keine 500 Einwohner groß und liegt in einer noch heute eher strukturschwachen Region, der Nahe-Landschaft am Fuße des Hunsrück, in einem idyllischen, bäuerlich geprägten Gebiet: 80 km entfernt von Mainz, 80 km von Trier, 100 km von Koblenz. Es gab dort selbst zu dieser satten Zeit eine nicht unwesentliche Anzahl armer Menschen, sodass wir tendenziell zu den Wohlhabenderen gehörten.

Wer also sind sie, meine Eltern?

Steckbrief MUTTER Geboren: 1951 In: Beuthen/Polen Ausbildung: Mittlere Reife Beruf: Fremdsprachenkorrespondentin Steckbrief VATER Geboren: 1946 In: unserem Dorf Ausbildung: Volksschule Beruf: Maschinentechniker

Meine Mutter arbeitete als Fremdsprachenkorrespondentin2 in der Kirner Lederwarenfabrik, mein Vater war nach seiner Ausbildung zum Maschinentechniker in einer Kirner Firma für Antriebstechnik angestellt, mit Mitte dreißig bekleidete er den Posten des Konstruktionsleiters.

Ihrem Habitus nach sind meine Eltern, wie viele ehemalige »klassische SPD-Wähler«3 dieser Zeit, weder kleinbürgerlich noch bürgerlich, weder konservativ noch links, weder ungebildet noch gebildet-gebildet. Sie haben beide immer gerne gelesen, von Fallada bis Solschenizyn, von Kishon bis Grass. Als Wochenzeitung aber gab es bei uns kein Blatt mit Feuilletonteil, sondern den buntbeblätterten STERN. Mein Vater liebt klassische Musik, die zu Hause rauf und runter lief, aber Noten lesen kann er nicht.

Meine Schwester und ich hatten das berühmte ALLES. Vom Klavierunterricht bis zur Markenkleidung, den Sprachferien, Ski-Urlauben, dem eigenen Auto, einem vollfinanzierten Studium und so fort.

Oft aber beschlich mich als Kind ein Befremden, wenn ich am Klavier saß. Es gab in meiner Familie kein dynastisch vererbtes kulturelles Kapital, dafür aber namenlose feine Unterschiede (Bourdieu) zwischen meinen Eltern und uns Kindern.

Ich wuchs in einem äußerst beredt schweigenden Elternhaus auf, durch dessen teils verschämten Umgang mit den errungenen Privilegien die Welt des Bäuerlichen ebenso hervorlugte wie die des Bergbaus und das kommunistische Polen. So verschieden meine Eltern sind, so sehr teilten sie das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören. Sie, diese normalen, deutschen weißen Mittelklasse-Menschen, fremdelten in vielerlei Hinsicht mit ihrer Position in der kapitalistischen Konsumgesellschaft.4 Im Grunde lebten sie eine Normalität ohne Original.5 Wie die meisten Aufsteiger dieser Generation entstammten sie einer Welt der Bergmänner und Bauern, in der gemeinsames und einander stützendes Handeln das Überleben gesichert hatte. Das eigene Ich wichtiger zu nehmen als die Gemeinschaft und auch den modernen Materialismus, haben meine Eltern erst mangels Alternativen erlernt.

Meinem Vater gelang es, sich einigermaßen in das System und seine Hierarchien zu integrieren, meine Mutter entschied, es konsequent zu ignorieren. Sie würdigte den Kapitalismus gewissermaßen keines Blickes und blieb der sozial denkende, empfindende und handelnde Mensch, zu dem sie erzogen worden war. Sie versuchte, auch mich in diesem Geiste zu erziehen und einen Schutzschild um mein Herz zu schmieden, mit dem Ergebnis, dass ich zwar durchaus einen freiheitsliebenden Widerstandsgeist entwickelt habe, darin aber unorganisiert geblieben bin.

Was mich als Kind vor allem anderen verwirrte, waren die widersprüchlichen Haltungen meiner Eltern untereinander. Mein Vater orientierte sich an der Mitte und tendenziell nach oben, sein Vektor war die Sicherheit. Meiner Mutter ist jeder Aufstiegswille verdächtig. Ihr Blick blieb stoisch nach unten gerichtet. Als Kind schlesischer Aussiedler identifizierte sie sich nicht mit dem Leistungsethos der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern mit AUSSENSEITERN wie sie selbst. Ihr eigenes Ethos des Teilens ist grenzenlos. Sie teilt sogar dann noch, wenn sie selbst nichts mehr hat.

MUTTER: Geld ist nicht wichtig.

VATER: Geld ist Sicherheit.

MUTTER: Geld ist nicht wichtig.

VATER: Geld ist Sicherheit.

Für mich ergab sich aus diesem Widerstreit als Kind ein verwirrendes Durcheinander von Blickrichtungen, wie bei einem Flug in einem schlingernden Kettenkarussell.

Ich war nicht die Einzige, die derart verwirrt über der Realität schwebte. In der Zeit etwa zwischen 1981 und 2000 gab es in Deutschland im offiziellen Diskurs kaum Klassenunterschiede. Aus der Klasse sollte die Schicht geworden sein. Die KAROTTE VOR DER NASE war das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung und der Wohlstand für alle. Man schwelgte in staatlich beförderten Träumen von Autos und Eigenheimen, im langen Echo der von Adenauer ausgerufenen Parole Wer ein Haus baut, macht keine Revolution.

Eine Schicht, sagt man, kennt anders als eine Klasse kein »Wir«-Gefühl.6 Das »Wir« stand lange unter Verdacht. Auch deshalb hat das rechte Denken es kapern können. Und ja, das WIR ist kompliziert. Furchtbar kompliziert. Wer könnte je ein ›wir‹ sagen, ohne zu erzittern? (Derrida)

Der Begriff »Klasse« mag auf den ersten Blick starr und altmodisch erscheinen, doch macht er deutlich, dass die Grenzen zwischen Oben, Mitte und Unten viel weniger durchlässig sind, als die Begriffe »Schicht« oder »Milieu« suggerieren.

Die heutige Mittelklasse bildet einen buntscheckigen Haufen (Marx)7, sowohl was Besitz, Kapital, Einkommen als auch was Bildung betrifft. Die Mitte vereint den verarmten Adel ebenso wie das ambitionierte Kleinbürgertum, bankrotte Unternehmensvorstände sowie Kunstschaffende wie ich, die versuchen, nicht ständig pleite zu sein. Das einzige verbindende Kriterium ist die Lohnabhängigkeit.8

Damals wie heute diente die Großkategorie »Mittelschicht« vor allem dem Zweck der Abgrenzung. Während die Mitte nach unten den Abstand wahrt und »mitzuhalten« versucht, entwickelt sich die Elite durch den Vorsprung in Hinblick auf Kapital und Bildung kontinuierlich weiter. Wie in der Geschichte von Hase und Igel.9

Der französische Soziologe Didier Eribon hat hierzulande eine Tür aufgemacht. Man redet wieder über soziale Unterschiede. In dem autobiographischen Text Rückkehr nach Reims zeichnet er das ideologische Vakuum nach, das die linken Parteien im Arbeitermilieu hinterließen und so den Aufschwung rechten Denkens beförderten. Eine zentrale Kategorie des Buches ist die Scham über die schmerzende Lücke zwischen dem ehemals linken Herkunftsmilieu und der eigenen Linksintellektualität.

Ich las das Buch atemlos, mit heißen Ohren, und entdeckte darin im Nachhall eine Hintertür für mich. Obgleich ich mit liebevollen, wohlhabenden, gebildeten Eltern aufgewachsen bin, habe auch ich gelernt, mich für meine Eltern zu schämen. Die Scham gehörte lange Zeit sogar so untrennbar zu mir wie das Atemholen.

Menschen, die mich nicht näher kennen, sind regelmäßig erstaunt darüber, dass dies so ist. Dem äußeren Anschein und den Fakten nach bin ich eine everywoman. Weiß, gebildet, normalgewichtig.

STECKBRIEF ICH

Geboren: 1977

In: München

Wohnort: Berlin

Ausbildung: Doktor phil.

Beruf: Autorin

Äußerlich auffallend bin nicht ich, auffallend ist der Mensch, dessen Mitte ich entstamme, meine Mutter, vielmehr ihr prächtiger voluminöser Körper. Wenn meine Mutter irgendwo zur Tür hereinkommt, zieht sie sofort sämtliche Blicke auf sich. Als Kind war meine Mutter für mich die schönste Frau der Welt. Erst mit der Pubertät verstand ich, dass sie anders war als andere Mütter.

Zweifel: Gehört das wirklich hierher? Mein Feminismus sagt: »Ja. Es gehört hierher.« Der Körper ist nicht einfach ein Körper, der mir gehört, er ist der Ort, an dem sich die Machtverhältnisse einer Gesellschaft artikulieren.

Zusätzlich zur Körperscham über meine Mutter prägte sich zu Beginn der Pubertät eine zweite Scham aus, die Scham über den Ort, an dem ich lebte. Unser kleines rheinland-pfälzisches Dorf, am Rand der Welt gelegen, schien mir mit einem Mal bevölkert von provinziellen Menschen, die in einem provinziellen Dialekt redeten. Emma Bovary, c’était moi! Ich träumte von der Stadt, und es brauchte viele Bücher und noch mehr jugendliche Liebhaber, um mich aus dieser Welt hinfort zu träumen.

Einmal kam »der schöne Pedro«10 mich überraschend zu Hause besuchen, ich war vielleicht 14. Wir lebten damals noch im »alten Haus«, einem ehemaligen Bauernhof mit einer Scheune und diversen Nebengelassen. Dort, wo früher der Misthaufen gewesen war, hing meine Kinderschaukel vor einem alten Mauerwerk, von dem die beige Farbe blätterte. Beim Besuch des schönen Pedro starrte mir diese einstige Mist-Ecke entgegen wie ein Schandfleck.

Zum dritten Pfeiler meiner Scham wurde der Dialekt der ländlichen Nahe-Region. Mein Vater sprach ihn so wie alle im Dorf. Ein breiter Dialekt voller Ä-, Iiiiiih- und Sch-Laute. In meinen Ohren klang es, als versuche jemand beim Reden rohes Fleisch mit den bloßen Zähnen zu zerlegen. »Ich weiß es nicht« klingt in etwa so: »Isch wääähs es net.« Vertraut ist einer breiteren Öffentlichkeit der Dialekt, oder eine Variante davon, aus Kohls Amtszeit. Manche kennen ihn auch aus Edgar Reitz’ Serie Heimat.11

Ich lebte lange in der gefühlten Gefangenschaft dieser drei Ds – dicke Mutter, Dorf, Dialekt. Ich war blind für die Gemachtheit meiner Scham. Einzig die Scham über meine Mutter habe ich früh entlarvt. Ich verstand: Nicht ich schämte mich für sie, sondern mein Vater glaubte, sich für sie schämen zu müssen.

Erst aber als ich Eribon las, verstand ich, dass ich auch in Hinblick auf mein Herkunftsmilieu eine Scham zweiter Ordnung gelebt hatte. Sie stammte nicht ursächlich aus mir, sie war mir von meinem Vater, dem emporgekommenen Bauernkind, und seiner Mutter, meiner Großmutter, vererbt worden.12

Ich sehe meinen Vater vor mir, im modischen, legeren Anzug, den Aktenkoffer in der Hand, einen Beatles-Song pfeifend, auf dem Weg zu seinem blassblauen BMW. Stolz umgibt ihn und Freude, aber mitunter auch Unsicherheit. Die Tasche so zu tragen – war das jetzt NORMAL, oder sah es affektiert aus?

Ich sage wie selbstverständlich »Bauernkind«. Für mich selbst aber hatte ich lange Zeit keinen Namen, dabei ist es ganz einfach. Ich bin ein »Aufsteigerkind«. Seltsam. Ich mag das Wort nicht. Der »Aufschneider« klingt darin mit.

Vier Generationen braucht es, bis ein Milieuwechsel vollzogen ist, also Wohlstand oder Bildung selbstverständlich geworden sind. Wie nicht wenige meines Alters und meines Herkunftsmilieus habe ich mit dieser Linearität gebrochen. Mein Milieuwechsel war progressiv, was Bildung, und regressiv, was materielle Sicherheit angeht.

Verwirrend: Wie konnte ich diesen im Grunde so offensichtlichen Bruch nur so lange von mir abspalten?13 Und wie hatte die Scham in mir nur so mächtig werden können?

Verdacht: Ich bin mit einem Paradox groß geworden. Als Kind und Jugendliche habe ich einer privilegierten Minderheit angehört und die Scham nach unten gelernt. Mit dem Eintritt in die Universität, den Ort meiner sozialen Geburt (Bourdieu), verlor ich dem Gefühl nach diesen privilegierten Status und lernte Stück für Stück die gegenläufige Scham nach oben. Anders gesagt habe ich der nach oben empfundenen Scham erlaubt, meine Privilegien zu überdecken – mit dem Effekt, dass ich mich wie ein eingeklemmtes Sandwichkind fühlte, das an der Relationalität verzweifelt.

Dialektik der SCHAM

Wenn ich mich »nach oben« schäme, also mich mit den Augen derjenigen sehe, die ihre Privilegien als selbstverständlich betrachten, gewähre ich diesen die Macht darüber, meinen gesellschaftlichen Wert zu bestimmen. Diese Scham sucht die Unsichtbarkeit. Das Versteck. Sie lähmt und erzeugt Stillstand.

Wenn ich mich »nach unten« schäme, also mich in denjenigen spiegele, die deutlich weniger Privilegien besitzen, kann ich mir meiner blinden Flecke und ungenutzten Handlungsmöglichkeiten bewusst werden.

Die Scham ist schon eine Revolution – ich musste erst vierzig Jahre alt werden, um zu verstehen, dass Marx damit die Scham der Mächtigen meint, nicht die der Ohnmächtigen. Die Scham derjenigen, die hinreichend privilegiert sind wie ich selbst, aber zu oft in der Position der SCHWEIGENDEN MEHRHEIT verbleiben.

Mein Herz war früh links und ist es geblieben, aber das Grundgefühl ist: Die Gesellschaft ist weit weg. Ich bin niemand, der aktiv an ihr teilhat. Ich stehe am Rand und – beobachte. Wie ein Kind, das sich nicht traut, mitzuspielen bei denen, die das Spiel bestimmen, weil sie vermeintlich geschickter, geübter oder mutiger darin sind, oder weil ich das so empfinde. Ich habe mir diese Scheu vor dem Politischen wahlweise als individuellen Makel oder aber als Symptom meiner Generation angelastet. Ich glaube, dass auch mein soziales Herkunftsmilieu der Grund für diese Scheu war – so wie meine Eltern aufgrund ihrer Herkunft von 1968 nur bedingt politisiert worden sind.14 Nie wären sie auf die Idee gekommen, sich etwa gewerkschaftlich zu engagieren. Ihr soziales Wirken – denn ja, beide sind soziale und politisch interessierte Menschen – blieb auf die private Sphäre beschränkt.

In meiner Familie hat es nie Mächtige gegeben. Niemand hatte je teil an der politischen oder kulturellen Öffentlichkeit. Bei den Toten meiner Familie handelt es sich um kleine Tote (Pierre Michon), Vergessene der Archive, der großen Geschichte.

Für einige der älteren Generation aber beschwört mein Familienname ein bekanntes Gesicht der deutschen Arbeiterpartei herauf. Wilhelm Dröscher, den Schatzmeister – eine Art Finanzverwalter – an der Seite Willy Brandts. Er trug den Beinamen »der gute Mensch von Kirn«15 und stand für soziale Gerechtigkeit, Dialog und Bürgernähe.

Es gibt zwischen unseren beiden Familien eine Verwandtschaft, doch nur eine entfernte, trotz der räumlichen Nähe (mein Heimatdorf liegt nur fünf Kilometer von Kirn entfernt). Den »guten Menschen« kannte ich nur aus Erzählungen meines Vaters, in meinen Kinderohren klang ein »Schatzmeister« jedoch verheißungsvoll.

Der Schatz, den ich für mich zu bergen versuche, ist eine Klarheit über diese verwirrende, paradoxe Scham, die mir den Blick auf meine Privilegien vernebelt hat.

Das Schweigen über die durch die Milieuwechsel verursachten Brüche lag wie ein ungelöstes Rätsel, wie ein Stein auf meiner Kindheit. Es gab keine Sprache, keinen Diskurs, der mir oder meinen Eltern geholfen hätte, diesen Stein von unseren Schultern zu rollen: dis-cursus = Bewegung, Hin-und-her-Laufen.16

Die Spuren dessen, was man in der Kindheit gewesen ist, wie man sozialisiert wurde, wirken im Erwachsenenalter fort, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind und man glaubt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. (…) Das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen, und doch in allem, was ist, koexistieren. (Eribon)

Ich habe von meiner Kindheit und Jugend bisher allenfalls DURCH DIE BLUME erzählt. Poetisch, verschlüsselt, im Spiegel des Fremden, nie direkt. Auch das zeugt von einem Habitus. Die historischen Stoffe und entlegenen Schauplätze meiner Texte sind kein Zufall: Ein falscher Japaner aus dem 18. Jahrhundert, eine vergessene polnische Hollywood-Diva der 1920er-Jahre sowie diverse hochstapelnde tagträumende Sonderlinge. Erst jetzt kann ich über meine Herkunft schreiben – auch weil nun die Zeit meiner Kindheit selbst eine historische und damit fremde geworden ist. Ich entkomme mir also in meinen poetischen Vorlieben nicht.

Kaum etwas ist so langweilig wie die westdeutsche Mittelklassen-Realität der 1980er- und 90er-Jahre, dachte ich anfänglich. Irrtum. Teilweise mutet sie fast exotisch an, denn es ist zum einen eine analoge und zum anderen eine aus heutiger Sicht bizarr weiße und heterosexuelle Welt.

Anders als Eribon bin ich keine Soziologin. Alles, was ich habe, ist meine Subjektivität. Ich bin nicht nur als »Aufsteigerkind« sozialisiert, sondern auch als Frau sowie als Tochter meiner »fremden« Mutter. Ich kann deshalb nicht umhin, diesen Herrschaftsknoten (Frigga Haug) von Klasse, Kultur und Geschlecht in seinen Überlagerungen zu betrachten, so eng und nahtlos vernäht erscheinen mir die Stränge.

Wie jede Selbsterzählung ist auch diese eine erdichtete.17 Das Erinnern ist eine schweißtreibende Angelegenheit, von den unwillentlichen Bildern, die von selbst an die Oberfläche drängen, einmal abgesehen. Doch war meine Herkunft zu verleugnen viel anstrengender, als meine Herkunft zu erzählen und meine Wunde zu zeigen (frei nach Beuys). Verleugnung kostet ungemein viel Kraft und ist dazu meist vergeblich – sehr häufig landet man damit sowieso nur auf der Couch.18 Mindestens so sehr wie ich selbst aber gehört die Mittelklasse auf die Couch – wo die meisten, die ihr angehören, ohnehin schon liegen.

Ich hebe Bild um Bild aus meiner Erinnerung von frühester Kindheit an und folge dem Weg durch die Institutionen bis zur Universität, angefangen von der Ehe meiner Eltern – der frühesten Schule. Das Kammerspiel, in dem ein Kind aufwächst.

Die Geschichte meiner Herkunft ist exakt so besonders, wie jeder Mensch und jede Herkunft besonders sind. Ich versuche, sie möglichst sachlich nachzuzeichnen. Nicht zu beschönigen, nicht zu dramatisieren, nicht abzuwerten und mich nicht kleiner oder größer zu machen.

Die Art und Weise, wie man sich sein Leben erzählt – tragisch, komisch, tragikomisch –, ist eine Entscheidung. Eine politische Entscheidung.

Eine wichtige Gefährtin meines Erzählens ist die Liste. Sie kann zwischen Ordnung und Unordnung vermitteln und zeigt die Unendlichkeit und Erweiterbarkeit meiner subjektiven Sicht durch den Lesenden. Eine weitere Gefährtin ist die Fußnote: In ihr versammle ich »anökonomische« weiterführende Gedanken, die im Haupttext keinen Platz finden.

Ein Stolperstein meines Erzählens ist die Sprache. Hochdeutsch ist für mich immer ein Stück weit eine Fremdsprache geblieben. Ich spüre selbst, wie ich im Schreiben stottere und strauchle und immer haarscharf an einer leicht windschiefen Grammatik vorbeistakse – so windschief wie die Wände meines Elternhauses. Aber vielleicht tut es der deutschen Sprache gut, ab und an ein wenig windschief zu sein.

Vieles wird im Lesen fast zwangsläufig den Abgleich mit dem Eigenen und damit Widerspruch und Einspruch herausfordern. Das soll und muss so sein. Ich kann mich selbst nicht vollständig sehen. Im Aufspüren meiner blinden Flecken werde ich andere blinde Flecke übersehen.

Diejenigen, die als Kind faktisch oder auch nur gefühltermaßen unter mir auf der sozialen Leiter standen oder jetzt dort stehen, werden womöglich Ressentiments angesichts meiner Privilegien empfinden. Diejenigen, die sich als Kind faktisch oder auch nur gefühltermaßen über mir befanden oder jetzt über mir stehen, werden womöglich meine Verwirrung angesichts eines doch sanften Milieuwechsels übertrieben finden oder gar versuchen, solch feine Unterschiede für unwichtig zu erklären.19 Genau diese Unterschiede aber durchziehen unsere Gesellschaft in Form von gläsernen Barrieren. Gerade in einem jungen Menschen entscheiden sie mit darüber, welche Lebensentwürfe auf einer inneren Landkarte als erstrebenswert erscheinen.20

Es ist ein leises Drama, das ich erzähle – eines, das so viele meiner Generation erzählen könnten, ein Drama über die Fiktion der Mittelkassen-Normalität meiner Familie. Ein Drama der KLEINSTEN SOZIALEN EINHEIT.

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