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Das Küchenfenster meines Vaters – sein »Schabbach«

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Die Bevölkerung unseres Dorfes, ca. 500 Einwohner groß,41 bestand zu 90 % aus Menschen mit Volksschulabschluss. Darüber hinaus gab es einen Landarzt, einen Pfarrer, sechs Lehrer, drei Sozialpädagoginnen und einen Diplomingenieur.

Mein Vater liebt sein Dorf, und auch wenn er gerne und schon in jungen Jahren beruflich viel gereist ist – von den USA bis nach China –, will er nur dort und nirgendwo sonst leben. Bis auf die Zeit bei der Bundeswehr in Germersheim und Ulmen/Eifel und die drei Jahre in München hat er sein Dorf nie verlassen.42

die lange Straße das sogenannte Oberdorf – »Iiiiehwerdoorf« – hinunter

eine Hauptstraße horizontal hindurch

entlang dieser Straßen – alte, verwinkelte Bauernhäuser, niedrige Decken

eine eierschalenfarbene schlichte Kirche in der Dorfmitte

das Gemeindehaus mit Jugendraum

ein Weiher ganz oben im Oberdorf – Schlittschuhlaufen im Winter

ein Sportplatz am Ortsausgang, früher mit Freibad

die ehemalige Dorfschule, davor ein angebauter Bungalow – mein Kindergarten

der Dorfplatz mit Dorfkneipe

ein Dorfladen, der meiner Patentante gehörte

zwei Gaststätten

die Tenne auf dem Kirmesplatz

gefühlt hundert Spazierwege

ringsherum Hügel, Felder, Wald

ein Neubaugebiet am einen Dorfende, eines am anderen

Aus dem Küchenfenster sah mein Vater als Kind noch auf den ungepflasterten Hof hinaus, gegenüber vom Wohnhaus gab es Ställe, Vieh muhte und mähte, und Hühner gackerten darin. Die verstaubte Scheune war der DREH- UND ANGELPUNKT. Er hat das ganze Panorama der bäuerlichen Welt kennengelernt. Gute, schlechte, ausbleibende Ernten, Aufzucht, Fütterung, Schlachtung.43

In einem ähnelt der Kleinbauer den heutigen Freischaffenden: Auch meine Großeltern kassierten nie regelmäßig Geld, immer nur dann, wenn die Ernte eingeholt oder ein Tier verkauft oder geschlachtet oder das Milchgeld einkassiert werden konnte.

Mein Vater ist noch in einer Welt ohne fließendes warmes Wasser, ohne Zentralheizung und teilweise ohne Kanalisation aufgewachsen.

Ich habe ihn in seinem Verhältnis dazu schwankend erlebt. Einerseits war er stolz auf das Einfache und Urtümliche, die Verbundenheit der Menschen untereinander; andererseits war ihm diese Welt zu hart, zu eng, geistig wie ästhetisch. Er ist davor geflohen. Als einer der Ersten im Dorf hat er mit der Landwirtschaft gebrochen. Wie tief das Bäuerliche in ihm sitzt, erkenne ich an unbewussten Gesten.

Unwillkürliche bäuerliche Gesten meines Vaters44 (von seinem Vater übernommen):

Beim Pausieren – der breitbeinige Kutschersitz, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt, Unterarme und Kopf hängen. So sitzt er, wenn er erschöpft ist von einem Bergaufstieg oder körperlicher Handwerksarbeit.

Am häuslichen Mittagstisch – die rechte Hand ruht – anders als im Restaurant – beim Essen mitunter auf dem Schoß und liegt nicht wie die linke auf dem Tisch.

Beim Spaziergang oder im Museum: Er verschränkt die Arme hinter dem Rücken, über dem Kreuzbein; wie die Bauernsöhne auf den Fotografien von August Sander, die ihre »guten« schwarzen SONNTAGSKLEIDER tragen – und die damit ihrerseits schon die Bürgersöhne nachahmten.

In der Welt meines Vaters rangiert Sicherheit45 – also auch finanzielle Sicherheit – über allem. Dass ich meine prekäre Existenz primär als Freiheit und nicht als Bürde empfinde, ist ihm ein Rätsel. Zu sehr muss es ihn an seinen Vater erinnern.

Mein Opa Willy war ein hochgewachsener, schlaksiger, ruhiger und verschmitzter Mann, immer paffend, immer eine Pfeife im Mundwinkel. Nicht allein von meiner Mutter, auch von ihm, sagt man, habe ich meine Passion für Bücher. »Unser Willy«/»Uhus Willy«, wie meine Oma immer seufzte, verbrachte seine freie Zeit mit Lesen. Karl May, Doktor Schiwago, Der letzte Mohikaner, Die Schatzinsel, Schillers gesammelte Werke. Mein Opa hat gern viel und täglich gearbeitet, doch Wohlstand oder Status interessierten ihn nicht. Er lebte, um zu lesen. Nach jeder Mahlzeit lag er lang ausgestreckt auf der Chaiselongue (»Schäähßlong«), die in der Küche meiner Großeltern stand, in den Händen ein Buch. Oft lag ich neben ihm und atmete den Tabakgeruch, während meine Oma vorwurfsvoll mit dem Geschirr klapperte, weil mein Opa »nichts tat«.46 Seine Lesesucht machte Berta dafür verantwortlich, dass sie nicht zu mehr Geld gekommen waren. Ein Bauer, der lieber Bücher las, statt zu arbeiten, konnte nur ein schlechter Bauer sein. Mein Opa gab nicht viel auf die Tiraden, er schaltete schlicht sein Hörgerät ab, um in Ruhe weiterzulesen.

Was mein Vater also sah, war ein Mann, der sich gemütlich auf der »Schäähßlong« ausstreckte, während seine Frau die Arbeit erledigte. Das fand er ungerecht.

Als ihm klar wurde, dass mein Vater die Landwirtschaft nicht fortführen würde, investierte mein Opa in keine landwirtschaftlichen Maschinen mehr, und entschied, den Betrieb aufzugeben. Wie viele Bauern fand er Anstellung als Lagerist im US-amerikanischen Depot in Nahbollenbach.

Meine Oma, die selbst aus einer Bauernfamilie stammte, war auch deshalb so erbost über ihren lesenden Mann, weil die anderen weiblichen Mitglieder ihrer Herkunftsfamilie »nach oben« geheiratet hatten.47 Ihre jüngere Schwester, die im Haus gegenüber lebte, hatte einen Offizier, die noch jüngere hatte einen Winzer geehelicht, aus der Cousine war ein Mannequin geworden, das im hessischen Darmstadt als Gattin eines Juweliers lebte. Nur sie selbst – das Schneewittchen mit dem langen schwarzen Haar – blieb als arme Frau zurück und arbeitete seit ihrem 14. Lebensjahr als Hausmädchen bei der Pfarrersfamilie im Dorf.

Ob mein Vater dies will oder nicht, Bücher sind für ihn durch meinen lesewütigen, tagträumenden Opa latent mit der Verweigerung von sozialem Aufstieg oder zumindest mit einer gewissen Lethargie verknüpft (wenn einer AUF DER FAULEN HAUT liegt, muss ein anderer das ausbaden).

Es ist ein seltsames Gefühl, ein Gefühl, das mich nicht länger mit Melancholie, sondern mit einem verschämten Stolz erfüllt: Mir klarzumachen, dass meine Liebe zu Büchern bäuerliche Wurzeln hat. Vielleicht drängt sich der Stolz aber auch nur auf, um die Scham über die Ressentiments meiner deutschen Großmutter zu kompensieren. Oder es ist schlicht die Freude daran, dass das Lesen ein Teil meiner Herkunft ist, der keiner Erklärung bedarf.

Ich will diesen Stolz gar nicht. Habe ich einmal die Scham überwunden, bleibt vielleicht ein Drittes, etwas zwischen Scham und Stolz. Vielleicht einfach so etwas wie – Klarsicht.


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