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Paris. 3. Juli 1984
ОглавлениеIch erinnere mich an alles.
Man sagt, Erinnerungen sind Zeitreisen, die uns zu den schönsten Augenblicken zurückführen. Das ist nur die halbe Wahrheit. Sie führen uns ebenso zurück zu der tiefsten Dunkelheit, zum Schmerz und zu den Dämonen, die uns zu dem formten, was wir heute sind.
Beides. Natürlich ist es immer beides.
Ich erinnere mich an ihre Haare, an ihre Hände, an den Duft Ihrer Haut. An die Form ihrer Augen, die Farbe. Dunkles Schwarz. Tiefe Kohle, wenn sie wütend war. Goldene Lichter darin, wie Sterne, wenn sie glücklich war. Letzteres war sie oft, glaube ich. Ihre Haare waren das, was ich zuerst an ihr berühren wollte. Diese Locken, die ungezähmt und immer ein bisschen wild über ihre Schultern fielen. Die Farbe ihres Teints, sommerlich gebräunt. Ihre Wirbelsäule, die sich wie eine Perlenkette ihren Körper entlangschlängelte. Sie liebte es, wenn ich mit dem Finger daran entlangfuhr. Ich bilde mir ein, dass sie mir Zugang zu ihrem innersten Wesen gewährte. Ja. Davon bin ich überzeugt oder ich bilde mir das ein.
In diesem Sommer war Indira Gandhi noch am Leben, es würde ihre letzte Jahreszeit sein, Francois Mitterand war Präsident von Frankreich und Diego Maradona wechselte vom FC Barcelona zum AC Neapel. Ich hatte das am Kiosk in einer Zeitung gelesen, die Summe von 22 Millionen war damals das Höchste, was je für einen Fußballspieler gezahlt wurde. Heute ist das ganz anders. Überall wurde Such a Shame von Talk Talk gespielt. Ich hatte diesen Song, zusammen mit Whitesnake, Led Zeppelin und den Doors auf Kassette. Der Walkman steckte in der Außentasche des Tramper-Rucksacks.
Ich nahm den Nachtzug von Basel nach Paris. Ankunft um sieben Uhr sechsundzwanzig. Es war meine erste Reise alleine. Zweimal verbrachte ich die Ferien im Tessin mit den Kumpels und meinem Bruder. Aber sonst lief da gar nichts. In Paris wollte ich die Gräber von Jim Morrison und Oscar Wilde besuchen, um anschließend per Anhalter nach Spanien weiterzufahren. Von dort aus wollte ich nach Tavira in Portugal. Ich hatte da mal eine Sendung im Fernsehen gesehen. Die Strände waren kilometerlang, es war damals nicht verboten, wild zu campen. Für den Eiffelturm interessierte ich mich nicht, dafür war ich zu cool: Ich hatte mir vor ein paar Tagen ein drittes Loch ins linke Ohr stechen lassen. Da baumelten jetzt drei Creolen. Ein Statement gegen Kapitalismus und das spießige Leben, das brannte und anfing, zu einer saftigen Wunde zu werden. Wenn ich die Stelle versehentlich berührte, schmerzte es wie verrückt. Ich trug Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt mit einem Print von Che Guevara. Ebendieses war mein ganzer Stolz, es war sauteuer gewesen und das letzte einer Serie, das der Plattenladen in Luzern verkaufte. Es war mir viel zu groß, aber ich hatte es unbedingt haben wollen.
Da stand ich frühmorgens an einem unbekannten Bahnhof in dem Versuch, die Europareise als Autostopper zu unternehmen, um Geld zu sparen. Meine Mutter schlug die Hände vor das Gesicht, als sie davon hörte.
„Niemand fährt heutzutage per Anhalter!“
Es war die Zeit der Rebellion, zumindest für mich. Ich wollte mich gegen die Eltern auflehnen und, wenn es möglich war, ein paar Mädchen flachlegen. Strebte an, Erfahrungen zu sammeln, die ich bisher in meinem winzigen, behüteten Leben nicht hatte machen können. Ich beherrschte die Technik des Zungenküssens inzwischen fast perfekt, wusste, wie man den Verschluss eines BHs einhändig öffnete und welche Komplimente mir genau das ermöglichten. Aber mehr war ernstlich nicht.
Die Leute hetzten in der Bahnhofshalle an mir vorbei, ich war wie eine starre Insel in einem Meer aus Menschen, die zur Arbeit hinsteuerten. Sie fühlten sich verpflichtet, die Métro zu erwischen. Sich noch pressant ein Croissant zu kaufen in der Bäckerei an der Ecke. Für einen Moment hatte ich den Eindruck, unsichtbar zu sein. Ich hatte kaum geschlafen vor Aufregung, seit der Zug Basel verlassen hatte. Meine Platzreservierung für zwanzig Franken war rausgeworfenes Geld gewesen. Die Hälfte des Zuges blieb leer. Die Hoffnung, das Abteil für mich zu haben oder wenigstens mit zwei attraktiven Schwedinnen zu teilen und die ganze Nacht Party zu feiern, explodierte wie eine Kaugummiblase, als die Türe kurz vor Abfahrt aufgerissen wurde: Drei ältere Franzosen kamen herein, die zuerst Knoblauchwurst mit Baguette aßen – nein danke. Non Merci. Ich habe keinen Hunger. Merci. Nein! –, um anschließend in einen komatösen Schlaf zu versinken. Einer schnarchte laut. Sie mussten kurz vor der Ankunft vom Schaffner geweckt werden.
Ich war in Paris, stand noch immer wie ein Leuchtturm im Bahnhof, roch nach kaltem Zigarettenrauch und Wurst und fühlte meinen Enthusiasmus kaum mehr.
Eine Frau mit einer zu engen Jeans und einer gelben Polyesterbluse, deren wogende Brüste eine Zerreißprobe für die winzigen Knöpfe waren, stellte neben mir eine Einkaufstasche ab. Ein Lauch, so dick wie mein Unterarm, ragte hervor wie ein Leuchtturm. Nicht mal sie nahm mich wahr. Sie wischte sich mit einem Papiertaschentuch über die Stirn, keuchte ein paar Mal, hob die Tasche wieder auf und fügte sich in den Fluss der Menschen ein, die dem Portal zustrebten. Zumindest nahm ich an, dass dies der Ausgang war: Ich konnte Taxis sehen, die dort standen und auf Kundschaft warteten. Dafür reichte mein Budget nicht. Ich hatte das Gymnasium beendet, mich für ein Studium eingeschrieben, das im Herbst beginnen sollte, und mein Geld, das ich in Travellerschecks im Rucksack aufbewahrte, hatte ich von den Eltern bekommen. Und von meinem Onkel natürlich, für den ich in den Osterferien gearbeitet hatte. Er führte im Nachbardorf die Filiale eines Lebensmittelkonzerns. Meine Aufgabe während zwei Wochen war es gewesen, den Bestand an Ravioli, Dosensuppen und Hundefutter in den Regalen in Ordnung zu halten. Büchsen mit dem neuen Datum nach hinten, die alten nach vorne. Mein Ehrgeiz, alles bündig und parallel wie eine Gruppe Soldaten zu halten, war am zweiten Tag verschwunden. Ich war am dritten so nachlässig geworden, dass eine Kundin sich bei meinem Onkel beschwert hatte, da stünden Büchsen mit Katzenfutter neben der Gulaschsuppe. Das sei doch nicht zumutbar. Nach einem Gespräch mit meinem Onkel war ich befördert worden: Ich war ins Lager und somit unter die Fittiche von Herrn Suppiger gekommen, der mir gesagt hatte: „Kannst Moritz zu mir sagen!“
Dabei hatte er mir zugezwinkert und mir ein Bier angeboten. Es war morgens um neun gewesen.
Von diesem Augenblick an hatte ich die meiste Zeit verbracht, indem ich Rollwagen herumschob, mich meiner Pause widmete und die Zeit damit zu vertrödeln, gedanklich die Reise zu planen. Ich war nicht mehr aufgefallen. Ich hatte kaum was zustande gebracht, also hatte ich nichts Falsches tun können. Gegen Ende der Zeit hatte ich den Steppenwolf von Herman Hesse gelesen.
Mein Onkel hatte mir unerwartet die letzten zwei Tage freigegeben, ohne Abzüge zu tätigen, folglich hatte ich Dostojewski Schuld und Sühne nicht zu Ende lesen können. Es lag jetzt im Rucksack, zusammen mit ein paar Büchern, die ich unbedingt entspannt genießen wollte, zusammen mit meinen Notizheften. In Letztere notierte ich alles, was mir wichtig schien. Kluge Worte, mit Bleistift geschrieben, Namen von Orten, die ich besuchen wollte, oder Gedanken, die manchmal so unfassbar schnell durch meinen Kopf strömten, dass es fast nicht möglich war, sie einzufangen.
Weil ich nichts vergessen wollte, hatte ich mir vier Hefte mit Spiralbindung gekauft. Drei davon hatte ich mitgenommen. Auf jedem der Exemplare war ein anderes Motiv auf dem Umschlag gedruckt: Superman, Obelix mit Idefix, Donald Duck und Micky Mouse. Das hatte ich beim Kauf übersehen, womöglich waren sie deshalb ein so günstiges Viererpack gewesen. Jetzt musste ich damit leben, dass meine Zitate, in gefälliger Selbstüberschätzung wohlgemerkt, in Notizheften zu lesen sein würden, die ein dicker Franzose zierte, der mal in einen Zaubertrank gefallen war.
Ich stellte mich vor den Bahnhof. Die Stadt hupte laut zur Begrüßung, die Sonne hatte sich über die graue Wand aus Häusern geschoben und ließ die Pfützen leuchten. Auf der Straße vor der Gare du Nord wälzte eine Schlange aus Autos durch die Venen der Stadt. Mit gebeugtem Rücken, einem pochenden Ohr und verdammt müde nahm ich die Métro. Sie war brechend voll: junge Leute, Paare, die damit beschäftigt waren, Streit zu suchen oder sich zu umarmen. Männer, mit Aktentaschen auf den Knien, die in der Zeitung lasen und so taten, als wäre ihnen alles um sie herum egal. Ein paar Rentner, denen Platz zum Sitzen angeboten wurde. Ein jüngerer Mann mit irrem Blick und schäbigen Kleidern rief, dass er alle niedermachen würde. Alle. Dabei gestikulierte er und tat so, als hätte er eine Waffe. Aber in seinen Händen befand sich nichts weiter als der Griff eines Beutels, in dem seine Habe drinsteckte. Er schrie laut auf eine Gruppe Touristen ein, Japaner oder Chinesen, die sich ängstlich an den Gruppenführer drückten. In der nächsten Station verließen sie die Métro. Der Mann rief ihnen nach, dass er eine Knarre habe und nichts zu verlieren, da er schon im Knast gewesen sei. Sein Blick blieb auf mir hängen, ich schaute weg.
„Du da“, rief er in perfektem Deutsch und die Leute waren froh, dass er ein anderes Objekt gefunden hatte, auf das er seine Aggression richten konnte. „Du. Warte mal. Ich erzähl dir was über das Leben. Hast ja keine Ahnung, du Wicht.“
Bevor er mich erreichte, stieg ich bei der Station Gambetta aus. Ich kaufte mir ein paar Bananen, die ich zum Frühstück aß, und betrat den großen Friedhof auf der Rückseite. Die uralten Bäume leuchteten in ihrem jungen Grün, warfen Schatten auf den breiten Weg. Der Friedhof Père Lachaise war völlig anders aufgebaut als die Begräbnisstätten, die ich kannte. Die Gräber ähnelten kleinen Häusern. Morbide Engel auf den verzierten Mausoleen, an den Kreuzungen, auf dem gepflegten Rasen. Dankbar für diesen sonnigen Tag schlenderte ich durch den Park. Ich hatte keinen Ortsplan mehr bekommen, der Kasten beim Eingang war leer gewesen. Ich suchte Jim Morrison.
Damals lag die Grabstätte noch unschuldig da, keine Lippenstiftspuren von Frauen auf dem hellen Stein. Soviel ich weiß, hat man das Grab heute zum Schutz in einen Kubus aus Kunststoff gesteckt. Der vielen Kussmünder wegen. Nein! Das ist das Grab von Oscar Wilde, bei Jim Morrison stand immer eine volle Flasche Whisky auf dem Sims, sagte man mir, ich hielt das für ein Gerücht.
Ich fand das Grab auf Anhieb, ich folgte einfach der Musik: Jemand spielte Gitarre. Es war Mittag geworden, die Sonne brannte von einem klaren Himmel. Bei der schlichten Grabstätte – ich war enttäuscht, hatte sie mir pompöser vorgestellt – saßen zwei Pärchen Leute am Boden und rauchten. Eine der Frauen in Jeans sang People are Strange von den Doors.
Ich setzte mich schweigend zu einem Kerl, der auf dem Rücken lag und offensichtlich eingeschlafen war. Später würde er sich als „Stefan aus Hamburg“ vorstellen. Das sexy Mädchen mit der Gitarre war: „Anke aus Lübeck. Wir reisen herum, von Paris aus geht es nach Süden ans Meer. Dort wollen wir in den Touristenorten spielen und Geld sammeln. Les Saint Marie de la Mer soll irre sein. Warst du da schon? Und wo übernachtest du heute, hast du was? Wir haben noch nichts, Stefan und ich. Aber wir finden was, nicht?“
Sie sprach, ohne Luft zu holen, ich musste mich konzentrieren, um sie zu verstehen. Die Gitarrenmusik war laut, sie sprach genauso leise wie schnell.
Bevor wir die Grabstätte verließen, drehte ich mich noch einmal um: Auf dem Sims des Grabmals stand eine Glasflasche, die mit einer goldbraunen Flüssigkeit gefüllt war.
Wir drei teilten uns anschließend ein Zimmer im fünften Stock einer Herberge in der Nähe der Gare de l’Est. Das Fenster ging auf den Hof hinaus und war nicht zu öffnen, jemand hatte es mit Schrauben gesichert. Die Hitze nachts war unerträglich. Wir ließen, um wenigstens ein bisschen Luft zu haben, die Türe zum Treppenhaus offen. Der Geruch nach angebranntem Kohl zog ins Zimmer und erinnerte mich an die Knoblauchwurst im Zug. Morgens holten wir frische Baguettes unten beim Bäcker und aßen sie mit Käse und Mirabellenkonfitüre auf dem abgetretenen Teppich des kleinen Zimmers. Dazu tranken wir Cola und rauchten Gauloises bleu. Die Zigaretten waren damals in Maispapier gewickelt, ich weiß nicht, wie das heute ist. In Paris auf dem Boden eines schäbigen Zimmers zu sitzen und diese Zigaretten zu rauchen, war irgendwie cool. Anke setzte sich im Schneidersitz mir gegenüber, sie trug keinen BH und hatte einen beachtlichen Busen, dessen Anblick meine Hormone in Aufruhr versetzten. Ich hatte den Eindruck, sie flirtete mit mir. Sicher war ich mir nicht, mir fehlte die Erfahrung. Aber sie betonte mehrmals, dass sie und Stefan kein Paar seien. Am ersten Morgen, als er einkaufen war, fragte sie mich, ob ich mit ihr duschen komme. Ich traute mich nicht, Ja zu sagen. Mein Vorsatz, ein paar Mädels flachzulegen, wich einer feigen Einstellung, die sich nicht mal traute, mit einem Mädchen zu duschen. Es war eine dunkle Etagendusche, fensterlos, die wir mit ein paar anderen Touristen teilten. Der Abfluss war so voller Haare, dass das Wasser sich um die Füße sammelte und die Zimmertüre hatte Einschusslöcher.
„So kommt wenigstens etwas frische Luft hinein, nicht?“, sagte Stefan. Wir lachten, weil wir an den Kohl denken mussten.
Paris erwies sich mit den beiden als freundliche Stadt, chaotisch und laut, aber nett. Einmal verirrten wir uns in ein Quartier, in dem nur Afrikaner lebten. Sie hatten es darauf abgesehen, uns Lotterielose, Gras, Heroin, Betelnüsse und Djembes zu verkaufen. Das alles innerhalb einer einzigen Straße. Wenn ich das meinem Bruder erzählte, würde er mir niemals glauben. Verrücktes Paris. Ich schrieb ein halbes Heft voll, Eindrücke, Worte und Zitate, die ich aufgeschnappt hatte und die mir gefielen. Stefan fügte ein paar Skizzen hinzu, als wir nach zwei Flaschen Wein vor einer Kirche lagen. Anke versuchte, uns beide auf die Beine zu bringen. Wir waren so betrunken, dass wir am nächsten Morgen entschieden, Paris den Rücken zu kehren. Es war der 6. Juli.
Anke mit den geilen Brüsten und Stefan wollten mit der Bahn nach Arles runter. Da ich keine besonderen Pläne hatte – Jim Morrison und Oscar Wilde hatte ich besucht – fuhr ich mit ihnen Richtung Gare du Nord. Auf dem Weg verlor ich die beiden. Ich stieg eine Métrostation zu früh aus, merkte meinen Irrtum bald und nahm die nächste Métro in Richtung Bahnhof, sah Anke und Stefan aber nie wieder. Enttäuscht beschloss ich, den erstbesten Zug zu nehmen, der nach Süden oder Südwesten fahren würde.
Nach acht Stunden Bahnfahrt mit der SNCF erreichte ich Clermont-Ferrand. Ich hatte keine Ahnung, wo diese Stadt sich befand, aber das Ticket hatte ich günstig erstehen können. Ich übernachtete im Hotel du Midi, schlief tief und traumlos. Zuerst reute mich das Geld, ich zahlte nicht wenig für das Zimmer. Ich nahm mir vor, die nächsten Nächte draußen zu übernachten oder in einer Jugendherberge. An der Rezeption fand ich eine Landkarte von Frankreich und eine von Clermont-Ferrand. Auf der Rückseite waren Gutscheine für Schmuck oder für ein Menü in der Brasserie de la Gare aufgedruckt. Ohne Dessert und Getränke. Es interessierte mich nicht, ich wollte weiter. Runter ans Meer oder direkt nach Spanien.
„Parlez vous allemand?“, fragte ich den Concierge, während ich den schweren Rucksack an den Tresen stellte.
„Un petit peu“, sagte er und musterte mich. „Vous êtes allemand?“
Ich wusste, dass man die Boches nicht sonderlich mochte. Keiner gab sich bei ihnen Mühe, Deutsch zu reden. df„Suisse“, beeilte ich mich ihm zu antworten.
Der stämmige Mann nickte, zog seine Hosen bis unter die Achseln hoch und rief einen dürren Mann zu sich, der am Eingang Zeitungen in eine Ablage schob: „Tonton. Viens vite. Moi jes un jeune homme ici. Mais viens …!“
Ich verstand nichts mehr, mein Französisch hatte hier schon die Grenze erreicht. Wie würde es erst in Spanien sein? Da vermochte ich knapp eine Cervezza zu bestellen, mehr nicht. Besagter Tonton hatte kaum Zähne, was die Kommunikation erschwerte. Zudem schien er seine Spucke nicht im Griff zu haben: Während er redete, bekleckerte er mir mein T-Shirt. Ich konnte ihm nicht böse sein, Tonton war so alt, dass er mit Sicherheit zwei Kriege mitgemacht hatte.
Er winkte mich aus dem Hotel zum Boulevard. Dort zeigte er mir mit der Beweglichkeit einer bejahrten Windmühle, welche Straße ich langlaufen musste, und wo abbiegen, damit es mir möglich war, Autostopp zu machen.
Ich nickte, fragte schüchtern nach dem Bus. Ich war nicht darauf aus, ein Risiko einzugehen. Tonton schrieb mit einem Kugelschreiber 7/9 auf meinen rechten Arm. Als Dankeschön wollte ich ihm in der kleinen Bar vor dem Hotel einen Kaffee bezahlen. An der Theke standen drei Männer laut lachend beim Barkeeper. Ein junger Mann saß an einem der Tische und las in einem Buch. Die leise Hintergrundmusik verlieh dem Ort einen undefinierbaren Charme. Das Paris der Klischees, würde ich sagen. Jean-Paul Belmondo fehlte in der Ecke, der zigarettenqualmend mit Catherine Deneuve flirtete.
Tonton setzte sich und winkte lachend ab.
„Mais non. Pas de café. C’est pas bon pour moi et j’aime pas.“
Er bestellte Pernod in kleinen Gläsern, denen er aus einer Karaffe etwas Wasser hinzufügte. Es schmeckte nach Anis, mich schüttelte es, während ich trank. Der Alte erzählte mir leidenschaftlich, mit vielen Gesten untermalt, die Geschichte seines Lebens. Ich verstand wenig, war aber fasziniert von dem schauspielerischen Talent. Nach dem vierten Pernod wurde er müde und nickte auf dem Stuhl ein, den Mund weit offen, ein dünner Faden Spucke lief auf sein Hemd. Ich nutzte die Gelegenheit, zahlte beim Barkeeper, der ein Geschirrtuch um den Arm gewickelt hatte und noch immer über irgendeinen Witz lachte.
Ich machte mich mit dem Rucksack auf den Weg zur Busstation.
Am Nachmittag erreichte ich eine Ausfallstraße, die von Clermont-Ferrand nach Süden führte. Ich musste die A75 finden, sie führte direkt ans Meer. Die Sonne brannte erbarmungslos, ich hatte kein Wasser dabei und fühlte mich elend. Kopfschmerzen hatte ich schon seit einer Weile, was ich auf den Pernod zurückführte. Obwohl ich ihn nicht mochte, hatte Tonton mich gezwungen, immer mit ihm anzustoßen. Der Kellner hatte mir zehn Drinks verrechnet. Zu einem fairen Preis, wie er sagte. Während ich zähneknirschend zahlte, fragte ich mich, was Nicht-Hotelpreise waren. So würde ich Portugal nie erreichen und in zwei Wochen zurück in die Schweiz fahren müssen, weil mir das Geld ausging. Mit dem Rucksack auf dem Rücken lief ich rückwärts am staubigen Straßenrand entlang. Leere Zigarettenschachteln lagen da, Getränkebüchsen, Babywindeln. Ameisen machten sich über einen Apfel her, der zur Hälfte gegessen war. Die Straße führte geradeaus weiter, ich hatte die Vorstadt verlassen, war mit dem Bus bis zur Endstation gefahren. Vereinzelt standen da abbruchreife Häuser, eine Militärkaserne, die mit Stacheldraht weiträumig gesichert war, sonst nichts.
Ich weiß nicht, wie lange ich schlenderte und den Daumen in den nicht vorhandenen Wind hielt, vielleicht zwei Stunden, bis endlich ein roter Renault hielt. Ich nahm keine Rücksicht auf meine Kopfschmerzen, auf den Rucksack, der schwer auf der Hüfte aufschlug und auf die Klappe, die mit jedem Schritt an meinem Ohr rieb.
Als die Türe nicht einladend geöffnet wurde, klopfte ich zaghaft an die Scheibe der Fahrerseite. „Hallo?“
Sie hatte eine neue Kassette in den Recorder geschoben und den Lautsprecher höher gedreht. Ich klopfte noch einmal, fester diesmal, da sie mich offenbar nicht gehört hatte. Sie erschrak sehr. Große, sehr dunkle Lakritzaugen in einem Gesicht, das von hüpfenden Locken umgeben war. Auf ihren Haaren ruhte eine runde Sonnenbrille, wie John Lennon sie trug. Sie starrte mich schweigend durch die Scheibe an, ich versuchte zu lächeln. Es gelang mir nicht wirklich. Ich hob den Daumen.
„Montpellier?“, fragte ich laut, um die Musik zu übertönen. „Oder Toulouse vielleicht?“
In diesem Augenblick passierten synchron drei Dinge: Ich begriff, dass sie nicht meinetwegen auf dem Pannenstreifen gehalten hatte, und entsprechend fing sie an, laut zu lachen. Und ich verliebte mich unsterblich in diese Frau, die die Autoscheibe herunterkurbelte, deren Haare wie verdrehte Antennen vom Kopf abstanden und deren Stimme ich später aus tausend anderen heraushören würde.
Das Dritte war, dass ich neue Koordinaten für mein Leben setzte, ohne es wirklich zu merken.
Wobei unsterblich mehr Bedeutung bekommen würde, als ich je für möglich hielt.