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Hundert Mohnblüten

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Linus wandelt mit der Bedächtigkeit eines Mannes über den Flohmarkt, der nichts zu tun hat, der einen Sonntag totschlagen muss. Er hat so viel Zeit, wie man sich vorstellen kann. Ihn erwartet niemand. Nicht mal Paul, der Waschbär. Linus’ Schwerfälligkeit drückt düster auf seine Laune. Vielleicht ist es auch beginnender Hunger, das weiß er nicht so genau.

Er lässt sich von den Menschen treiben, die sich zusammenfügen wie Schwarmfische. Kleinstadtmenschen, die er nett grüßt, wenn sie ihn zuerst ansprechen. Er macht nie den Anfang, da er Angst davor hat, in ein oberflächliches Gespräch verwoben zu werden. Also grüßt er nickend und wendet seinen Blick überrascht nach oben, unten, links oder rechts. Als hätte er dort etwas entdeckt, das ihn davon abhält, ein bisschen zu reden.

Er würde ja gerne mitreden, aber eben.

Bei einem Tisch mit Geschirr bleibt er stehen, nicht weil er Porzellan und Messer liebt, er hat genau für eine Person Essgeschirr: einen Teller. Eine Tasse. Eine Gabel. Einen Löffel und ein Messer. Das reicht. Zoe kommt nie in sein Wohnmobil. Obwohl Linus nicht nur ein ausgezeichneter Koch ist, sondern einer, der mit Leidenschaft Speisen zubereitete. Früher. Ja, jetzt nicht mehr. Eine Tasse zieht seinen Blick auf sich, auf blauem Hintergrund ist Obelix abgebildet. Es erinnert ihn an ein Heft, in das er früher seine Notizen kritzelte.

Die Kunden haben alles durcheinandergebracht, kein Teller steht mehr auf dem nächsten. Die Teller mit den Blümchenmotiven sind voneinander getrennt worden, jeder ist an einer anderen Ecke des Tisches platziert. Dazwischen ein Dutzend Tassen mit einer Werbung von Tchibo, Teetassen, die Ringe aus Kalk haben. Silberbesteck in einem aufgeschlagenen Koffer, der mit violettem Samt gefüttert ist. Die alte Dame mit der blonden Dauerwelle sagt, das Besteck sei aber nicht vollzählig. Da fehle doch wohl mehr als nur ein Messer.

„Gütige Frau“, säuselt der Mann hinter dem Verkaufstisch und präsentiert sein Lächeln. „Ich habe dieses Besteck aus der Liquidation eines der edelsten Hotels in Interlaken gekauft. Das ist das Einzige, was ich davon zur Verfügung habe.“ Er nennt ihr einen Preis, der die Dame dazu bringt, ihm mit ihrem dürren Finger zu drohen. Nie und nimmer würde sie den geforderten Betrag zahlen. Sie sei noch bei Sinnen. Was man von ihm nicht behaupten könne. Ihre blonde Dauerwelle zittert aufgeregt. Der Verkäufer reibt sich die Hände, kommt um den Tisch herum, beugt sich zu der Frau hinunter und flüstert ihr etwas zu. Linus läuft weiter, weicht einem Hippie-Pärchen aus, das eng umschlungen durch sein eigenes Universum schlendert. Beide mit identischen Haarnestern am Hinterkopf, den gleich großen Brillen und Rucksäcken aus rezyklierten Kunststoff-Blachen-Material. Mit Sicherheit vegan und plastikfrei.

Das kennt er von Zoe. Seit einem Jahr ist Plastik keine Option mehr. Als sie vor einiger Zeit im Supermarkt waren und Linus keine Einkaufstasche dabeihatte, machte Zoe an der Kasse eine Szene, die einem trotzigen Kleinkind entsprach. Recht hatte sie ja, als Vater konnte er das in diesem Augenblick nur leider nicht zugeben. Schon gar nicht, weil Frau Zimmermann hinter ihnen in der Schlange stand. Sie steckt gerne ihre gepuderte Nase in die Angelegenheiten anderer. Also kaufte Linus zwei Tüten aus Papier und versprach, dass er diese ein Dutzend Mal für Einkäufe benützen würde.

„Versprochen, Paps?“

„Gewiss, mein Schatz.“

Die Stimmung des frühen Nachmittags überzieht mit der Trägheit von Sirup die sonntäglichen Besucher. Eile ist nicht geboten, im Gegenteil: Manch einer vergisst die Zeit und die wartende Familie, während er ein Spielzeugauto in seinen Händen birgt, das gleiche Modell wie das erste, das mit zwanzig gekauft wurde. Gleichzeitig umschließen die Hände einer Frau ein Foulard, das mit dem Motiv einer gelben Sonnenuhr auf blauem Grund verziert ist. „Hermès“, flüstert sie so leise, dass niemand ihr das Glück entreißen kann. Womöglich stellt sie zu Hause fest, dass es nur eine billige Kopie ist. Made in China. Das kleine Etikett lässt sich aber mit der Schere leicht entfernen. Der Neid ihrer Freundinnen bleibt gewährleistet. Während der Mann das winzige Spielzeugauto seufzend zurück in den offenen Karton legt, zu den anderen Autos, denen Räder fehlen, eine Motorhaube oder beide Türen.

Das Kind quengelt, es besteht auf einem Eis oder muss dringend aufs Klo. Vielleicht auch beides. Während die alte Frau mit den blonden Löckchen glücklich ihr unvollständiges Set mit Silberbesteck in einer Tasche aus der Migros heim trägt. Beinahe geschenkt war es. Im Grunde braucht sie nicht zwölf Löffel, gleich viele Gabeln und neun Messer. Sie lebt allein, seit mehreren Jahren schon. Womöglich kommt ihr Enkel an Weihnachten mit seiner Freundin zu Besuch. Dann könnte sie das neue Service polieren und damit den Tisch gefällig eindecken.

Linus schiebt die Hände tief in die Taschen seiner Jeans und bleibt stehen, um einer Taube Platz zu machen, die zu einem Kind hüpft. Es hat einen Keks fallen lassen. Sie schlägt aufgeregt mit den Flügeln. Dort angekommen werden ihre Hoffnungen jäh zerschlagen, weil das Kind ihn mit dicken Fingern wieder aufhebt. Es steckt die Süßigkeit genüsslich in den Mund. Die Taube hebt ab und fliegt in einem großen Bogen weg. Vor den Glasfenstern der Altstadt haben die Mieter Drähte gespannt, damit die Tauben nicht landen können. Ihr Kot, so heißt es, sei sauer, das greife die Fassade an. Was bei so alten Gebäuden fatal sein kann.

„Ach, sieh an. Der Herr Berger. Lange nicht gesehen. Wie geht es denn so?“

Linus drehte sich überrascht um. Der Buchhändler! Er verkauft antiquarische Bücher. Die meisten seiner Angebote sind nicht mehr wert als das Papier, auf dem sie gedruckt sind. Dennoch ist Linus schon öfter fündig geworden. Da der Platz im Camper gering ist, stapelt er die Bücher im Fußraum des Cockpits.

Er erwidert, es ginge ihm bestens. Dabei zieht er seine Hände aus den Taschen, streicht sich über die dunklen Haare, die augenblicklich wieder aufspringen wie Bettfedern.

„Der Frau geht es auch gut, ja? Ich sollte ja schon lange wegen des Backenzahns, wissen Sie? Ich habe gelegentlich Schmerzen. Vielleicht könnten Sie einen Blick darauf werfen …?“ Unvermittelt öffnet der bejahrte Mann den Mund zu einem großen O und beugt sich zu Linus vor. „Sie sind auch sowas wie ein Zahnarzt, nicht?“

„Es ist besser, wenn Sie einen Termin bei ihr veranlassen. Ich kann nichts machen. Hier ist nicht der geeignete Ort dafür.“

Der Mann schließt den Mund wieder, wischt ihn mit einem Taschentuch ab. „Verstehe schon. Ich gehe schlicht und einfach nicht gerne zum Zahnarzt. Auch nicht, wenn er so bezaubernd ist wie Ihre Frau.“

Der Buchhändler fängt an zu kichern, unerwartet hoch für einen so korpulenten Mann. In einer Holzkiste am Boden lagert er Modehefte. Hinter dieser Kiste, das weiß Linus, stapeln sich jene Illustrierten, die nicht in Kinderhände gelangen sollen. Häufig sind diese aus den frühen Siebzigern, blankbusige Modelle mit blond gefärbtem Haar, laszive Posen als Titel.

Linus nimmt einen Band von Thomas Mann in die Hand, das Cover ist hinten mittig zerrissen. Wer tut sowas mit einem Buch? Ein Buch über das englische Königshaus, ein Roman von Konsalik, einer von Stephen King. Wahllos auf dem schönen Tisch gestapelt. Als Linus in einem Buch über die Eisenbahnen dieser Welt blättert, segelt eine Postkarte vor seine Füße. Er hebt sie auf. Sie zeigt den Eiffelturm in Schwarzweiß. Der Himmel hinter Paris ist überzogen mit Schäfchenwolken. Interessiert wendet er sie. Die Adresse ist unleserlich, es sieht aus, als hätte jemand Wein oder Kaffee darüber geschüttet. Die Briefmarke, eine rote, französische Marke, die mit Franc angeschrieben ist, klebt rechts oben. Jemand schrieb mit schwungvoller Schrift, dass Paris hinreißend sei und man im Gegensatz dazu Pech mit dem Hotel gehabt habe. Man bleibe noch eine Woche und fahre dann zurück nach Zürich. Geschätzte Grüße.

„Können Sie haben, Herr Berger. Nehmen Sie sie mit.“

Linus will die Karte nicht, kann sie aber jetzt kaum ablehnen. Er bedankt sich, schiebt sie in die Gesäßtasche und will weiter, als er auf ein gelbes Buch aufmerksam wird. Der Mann neben ihm hat es in den Händen gehalten und wieder zurück auf den Tisch gelegt. Bram Stockers Dracula in alter Schrift. Er blättert vorsichtig, es ist auf Englisch verfasst. Soviel er sehen kann, sind die Seiten vollzählig. Keine Kritzeleien oder Flecken.

„Ah. Ich sehe, Sie haben etwas Besonderes gefunden. Das Buch da gehörte zu einer Kiste, die ich in Zürich einem Freund abkaufte. Das Kilo drei Franken. Selbiges Buch ist das einzige, das wohl etwas Geld einbringt. Die anderen waren Ramsch und ich habe die meisten davon entsorgt. Dieses da ist eine frühe Ausgabe. Die kostet entsprechend, Herr Berger.“

Linus Berger erwidert, mehr zu sich selbst: „Abraham Stocker. Ein Freund Oscar Wildes, bevor er diesem die Freundin ausspannte.“

„Weiß ich jetzt nicht. Ich lese nicht so alte Bücher. Eigentlich lese ich gar nicht, aber verkaufen tut sich der Kram ordentlich. Außerdem mag ich Western lieber.“

Linus erinnert sich, dass er vor einer gefühlten Ewigkeit am Grab von Wilde in Paris war. In einem anderen Leben. Lange her. Unvergesslich, es hat bleibenden Eindruck hinterlassen.

„Wie viel?“, fragt er.

Die kleinen Äuglein des Mannes blitzen, er wittert ein Geschäft.

„Hundertzehn.“

Linus legt eine Hand hinter sein Ohr, als hätte er es nicht verstanden. „Bitte?“

„Ja. Ich könnte es Ihnen für hundert geben. Als guten Kunden.“

Linus schüttelt den Kopf, in Zeitlupe, und schaut sich um.

„Ich geh dann mal wieder. Schönen Sonntag noch.“

Er wusste, dass der dicke Mann sich um den Tisch zwängen würde, um ihm den Weg abzuschneiden. Er schwitzt perlige Tropfen.

„Ich gebe es Ihnen für die Hälfte“, sagt er müde und hält ihm das Buch hin. Deal.

Linus’ Tag ist gerettet, die Müdigkeit verschwunden und es hatte sich gelohnt hierherzukommen. Er drückt das Buch an seine Brust wie eine Boje und trödelt lächelnd weiter, vorbei an Ramsch, Sockenwolle und Glasflaschen. Am Ende der Gasse geht er die Treppenstufen zum Eingang eines Hauses hoch, bleibt stehen, stellt sich vor die Hausmauer und zündet sich eine Zigarette an. Von hier aus kann er die Menschenmenge sehen, er hat den Überblick wie von einem Jagdsitz aus. Sein Blick bleibt bei einem Tisch mit Second-Hand-Klamotten hängen. Dort wühlen einige junge Frauen in einem Korb mit Stoff. Könnten auch Kleider sein, er sieht das nicht richtig. Er nimmt die Brille von der Nase, haucht auf die Gläser und wischt sie mit dem Zipfel seines T-Shirts sauber. Ja, Kleider sind es. Sie lachen, schubsen sich und schließlich kauft jede von ihnen eines der Stücke. Nicht ohne vorher mit der Frau zu verhandeln. Die Verkäuferin trägt große Ohrringe, die jedes Mal mit Schwung schaukeln, wenn sie den Preis nicht akzeptiert. Neben ihr hängen Jacken und noch mehr Kleider.

Linus drückt die Zigarette aus. Bedächtig schlendert er in die entgegengesetzte Richtung, zurück zu seinem Fahrrad und zurück zum Grill mit den Bratwürsten. Langsam bekommt er Hunger. Er reagiert nicht, als jemand ruft.

„Hallo.“ Und: „Hallo, Sie da.“

Die Frau mit den Ohrringen hält ihm eine Postkarte über die Schulter.

„Haben Sie verloren. Da. Paris. War ich noch nie. Soll herrlich sein dort.“

Sie kaut etwas, riecht nach Räucherstäbchen, und hat Sommersprossen um die Nase.

„Im Frühling, meine ich. Im Herbst eher weniger. Aber eigentlich ist es überall zu jeder Jahreszeit schön.“ Sie lacht, dreht sich um und legt die Tücher ordentlich zusammen, die jemand durcheinandergebracht hat.

Ein Mann mit dichten, schwarzen Haaren schaut auf seine Uhr, kurz vor eins. Er nimmt die eine braune Jacke ganz vorne vom Kleiderständer, geht damit vor den Spiegel, der an einem ramponierten Stuhl lehnt. Durch das Entfernen der Jacke wird der Blick auf die aufgereihten Kleider frei, die wie Soldaten in einer präzisen Linie ausgerichtet sind.

Schlagartig spielen Fleetwood Mac in Linus’ Kopf. Diesen einen Song, den er seit damals nicht mehr hören kann. Go your own way. Da ist ihr Lachen, das er heute noch hört, wenn er allein ist und seinen Gedanken nachhängt. Ihre Lebensfreude mischt sich mit dem Song. „Komm schon, Linus. Komm. Lass uns tanzen.“ Er tanzt grundsätzlich nicht. Das entspricht nicht seinem gemäßigten Naturell, dem zurückhaltenden Charakter. Ihm fehlt seit jeher das unbeschwerte Gen. Sie hatte es, dieses Gen. Sie. Und schließlich tanzte er mit, und soweit er sich erinnern kann, gefiel es ihm sogar.

Er taumelt zum Kleiderständer. Was er dort sieht, muss eine Vision sein. So etwas gibt es nicht. Es fühlt sich an wie ein Traum, einer von denen, die ihn nachts erwachen lassen und so durcheinanderbringen, dass er nicht mehr einschlafen kann. Wann hört das endlich auf? Linus sieht das Kleid, weiß, mit gestickten, roten Mohnblumen übersät. Er sieht sie darin barfuß tanzen. Er kennt jede einzelne dieser hundert Blüten, die am Ende ihrer gemeinsamen Geschichte wie hundert Blutstropfen aussahen. Träume kann man nicht berühren, sie verschwinden, wenn man die Hand nach ihnen ausstreckt. Linus tut genau das und nichts verschwindet. Der Stoff fühlt sich vertraut an, mehr als das, er fühlt sich warm und wirklich an. Real wie der Mann, der jetzt die Jacke mit dem Fellkragen trägt. Er legt Linus besorgt die Hand auf die Schulter.

„Alles okay, Mann?“

Ja. Sicher, alles ist okay. Aber nichts ist mehr so, wie es war. Alles ändert sich stetig. Er atmet ein und wieder aus, dabei hält er das Kleid fest wie einen Säugling. Sein Shirt klebt am Rücken, während Bilder in seinem Kopf vorbeiziehen wie ein zu schnell gespielter Film.

Es gibt eine Stelle im Körper, die wehtut, wenn man verlassen wird oder wenn man jemanden verlässt. Das Zentrum dieses Schmerzes ist hinter dem Brustbein, genau dort brennt es jetzt bei Linus.

„Setzen Sie sich. Hier auf den Stuhl. Kommen Sie.“ Der Mann mit dem Fellkragen hebt vorsichtig den Spiegel weg. Linus setzt sich.

„Mir geht es gut.“

Die Verkäuferin beugt sich besorgt über ihn, Ohrringe baumeln vor seinem Gesicht, viel zu nah, um die Konturen scharf zu sehen.

„Mir geht es gut“, wiederholt er und merkt, dass er mit seiner Hand noch immer den Zipfel des Kleides umklammert hält. Wenn er loslässt, ist anschließend alles ohne Probleme. Er braucht nur die Augen zu schließen und wieder zu öffnen. Dann säße er in seinem Wohnmobil auf dem Platz beim Tisch. Vor sich ein Buch oder eine Pizza. Die mit den extra Sardellen und viel Käse. Die einzige Wärme in seinem Bauch wären dann nicht Schuldgefühle, sondern rührte von zu schnellem Essen.

Er lässt das Kleid los. Nichts passiert. Die Ohrringfrau zieht eine Flasche Evian aus ihrer Patchwork-Tasche.

„Ist Wasser vom Brunnen drin. Aber sauber ist es. Hier. Nehmen Sie.“

Während er einen Schluck trinkt, nur weil er nett sein will, sieht er den blauen Himmel über der Stadt. Keine einzige Wolke, nichts. Blitzblank und sauber geputzt präsentiert er sich den Menschen, die über den Flohmarkt bummeln.

Die ersten Händler räumen die Waren, die niemand kaufen wollte, wieder in Kisten ein. Bücher werden aufeinandergelegt, Behälter mit alten, leeren Weinflaschen gestapelt, die letzte Ration von Würsten in zwei Reihen auf den Grill positioniert. Um drei ist hier Schluss.

Der Mann zieht die Jacke mit dem Fellkragen aus, er zahlt einen lächerlich tiefen Preis und bietet Linus an, ihn heimzufahren. Dieser winkt ab. Der Mann bleibt beharrlich neben ihm stehen, seine neue alte Jacke über den Arm geworfen. Linus will nach Hause, eine tiefe, körperliche Müdigkeit lähmt ihn. Seine Augen brennen, er zieht die Brille von der Nase, reibt sich das Gesicht und setzt sie wieder auf.

„Was kostet das Kleid?“, fragt er die Frau mit den Ohrringen. Sie lächelt nicht mehr. Ihr Gesicht ist nicht schön, wie man es von Zeitschriften kennt. Aber es hat etwas Besonderes: bezaubernde Lachfältchen um die dunklen Augen, eher kleine, weiße Zähne, die Linus an die winzigen Krallen von Mäusen erinnern. Sie hat gebräunte Haut wie jemand, der lange im Süden gelebt hat. Um ihre langen Haare hat sie ein grünes Tuch gewickelt, es wird durch eine Klammer, welche die Form einer Blume hat, über der Stirn gehalten.

„Ich möchte es kaufen“, fährt Linus fort. „Für meine Tochter. Sie wird fünfzehn.“ Er nimmt sich zusammen, keine Schwäche zeigen, mit dem Kleid nach Hause fahren und dort nachdenken. Ja, einfach weg hier. Er schiebt die Hände in die vorderen Taschen der Jeans, er hat keine Brieftasche dabei, sein Geld steckt lose in den Hosentaschen. Zusammen mit dem billigen Feuerzeug von Aldi. Zoe sagte, Zündhölzer seien besser für die Umwelt. Wenn das letzte seiner Feuerzeuge den Geist aufgibt, wird er sich welche kaufen.

Die Frau denkt nach, während der Mann mit dem Fellkragen sich verabschiedet und Linus „Alles Gute. Ja? Aufpassen auf die Gesundheit“ wünscht. Sie nennt einen Preis, dann noch einen niedrigeren.

„Es ist ein ausgefallenes Kleid, wissen Sie. Der Stoff ist aus dünn gewobener Seide, und es ist ein Einzelstück. Größe 36. Ist Ihre Tochter zierlich?“

Nein, Zoe neigt zu Übergewicht. Wenn sie nicht aufpasst, wird sie später zu schwer sein.

„Ja“, lügt Linus.

Sie nimmt das Kleid vom Bügel und hält es in ihren Armen wie einen Blumenstrauß. Es sei wirklich ein einzigartiges Kleid, betont sie. Sie habe es heute das erste Mal in den Verkauf genommen.

Linus glaubt, dass sie damit den Preis in die Höhe treiben will. Er hätte jeden Preis dafür bezahlt, jeden.

Er steht auf, um seinem Ansinnen mehr Eindruck zu verleihen. Er möchte ihr zeigen, dass er kein Schwächling ist. Aber eigentlich will er einfach sein Fahrrad nehmen und heim radeln. Zusammen mit dem Kleid.

Sie schüttelt die Falten aus dem Kleid, streicht es glatt und sagt, mit einem fragenden Blick auf Linus: „Sie können es haben, wenn Sie mir verraten, warum Sie es kaufen möchten.“

„Warum? Es gefällt mir. Ich mag die Blumen.“

Zwei Frauen grüßen und fangen an, in den Foulards zu wühlen. Neugierig folgen sie dem Gespräch.

Die Frau mit den Ohrringen nickt. Linus hat ein unbehagliches Gefühl. Diese Verhandlung erfordert einiges an Geduld, die besitzt er nicht. Er will gehen. Schließlich legt er zwei zusammengeknüllte Geldscheine auf den Tisch neben einen steinernen Buddha, dem links unten eine Ecke fehlt. Als sie nicht reagiert, zieht er noch die letzten Münzen aus der Tasche und legt sie dazu.

„Reicht das?“

Sie legt das Kleid sorgfältig zusammen, mit der Ruhe einer Frau, die alle Zeit der Welt hat. Streicht nochmals über die winzigen, roten Knöpfe und glättet mit zwei Fingern den Kragen. Dann schiebt sie es in eine Tüte, die aus einer Tageszeitung gefaltet ist.

„Hier. Liebe Grüße an Ihre Tochter. Das Geld können Sie mitnehmen. Es ist okay.“

Die beiden Frauen haben aufgehört, die Tücher durcheinanderzuwerfen. Linus besteht darauf, zu bezahlen, während sie ihrerseits darauf beharrt, dass es ein Geschenk sei. Er ist es leid, will kein Geplänkel und keine Diskussion, er nimmt das Geld, das Paket mit dem Kleid und winkt wortlos zum Abschied.

Er schlendert unter dem inneren Stadttor durch in die innere Rathausgasse. Jetzt ein Bier, unbedingt, das würde helfen. Sich einfach in seine Lieblingskneipe hocken, mit niemandem reden, die Gedanken ordnen. Bedächtig setzt er einen Schritt vor den anderen, das Kopfsteinpflaster der alten Gasse glänzt in der Sonne. Die altertümlichen Häuser zu beiden Seiten neigen sich einander zu, als verbeugten sie sich freundlich voreinander. Vor dem Restaurant Altstadt bleibt er stehen. In einem der beiden Fenster steht eine weiße Gans, sie trägt einen Strohhut und hat den Kopf arrogant erhoben. Heute geschlossen, denkt Linus, als er vergeblich an der Türe rüttelt. Auch das noch, passt zu dem ohnehin bereits absurden Sonntag. Er ist gerne hier, das Restaurant ist das letzte seiner Art in Aarau, traditionell und urig, alle anderen sind modernen Bars gewichen oder wurden in Hipster-Treffpunkte verwandelt. Außerdem ist hier drin das Rauchen noch erlaubt.

Linus zündet eine Zigarette an, hebt den Blick: Am Giebel des Hauses leuchtet gelb eine Sonne, umgeben von verschlungenen Ornamenten.

Er geht zurück zu seinem Fahrrad und radelt heim. Eine Träne rollt über seine Wange, eine einzige. Er wischt sie weg und murmelt: „Scheiß Mücke. Mitten ins Auge.“

Sommer auf Zeit

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