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Montagmorgen im Nelkenweg

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„Ist er tot?“

„Quatsch! Kann ihm mal irgendwer die Schnapsflasche aus der Hand nehmen?“

„Früher hat man ja Riechsalz benutzt, wenn jemand ohnmächtig war. Soll ich Lavendel holen? Ich hätte da welchen im Garten“, bietet Frau Maier, die Nachbarin, beflissen an.

Conny antwortet: „Nein. Zoe, bring mir Wasser und einen Lappen.“

Zoe schaut mit einer Mischung aus Mitleid und Ekel auf Linus, der da auf dem Rasen liegt. Er ist nackt bis auf eine Unterhose und einen rotweißen Stoff, den er sich wie einen Turban um seinen Kopf gewickelt hat.

„Aber ich muss zur Schule!“

Ihre Mutter kniet am Boden und hebt nur kurz den Kopf. Die Zeit reiche wohl noch, um Wasser zu holen.

„Hat man nicht die Pflicht, die Ambulanz kommen zu lassen?“, fragt die Nachbarin schüchtern.

Alle Bewohner aus dem Nelkenweg sind auf dem Grundstück der Bergers anzutreffen. Alle. Diejenigen, die morgens zur Arbeit gefahren waren, wurden mittels Handys über die Situation informiert. Da liege ein Toter in Bergers Garten. Es sei Mord, ganz bestimmt. Später korrigierten sie sich, dass es sich um Linus handle und er sich ins Koma gesoffen habe. Aber man habe es ja kommen sehen. Man sah alles kommen und wusste alles besser. Das ist so in einem Dorf. Der Wirt der Linde wird von seiner Frau aus dem Tiefschlaf gerissen, bevor sie sich zum Tatort begibt. Später wird sie erzählen, dass Linus wie ein gekreuzigter Jesus dalag, die Arme weit von sich gestreckt. Und dass er ein weißes Kleid trug mit roten Blumen. Das sei schon sonderbar. Dabei sei er doch so ein Netter gewesen, immer hilfsbereit. Dass er so enden würde, habe man doch nie kommen sehen. Wobei. Die Conny sei ja an allem schuld, die habe ihn ja erst so weit gebracht. Aber man dürfe ja nichts sagen, nicht wahr?

Jetzt sei der Linus Berger nicht nur schwul, sondern auch noch Alkoholiker. Schlimm.

Zu diesem Zeitpunkt drückt der Wirt auf den Knopf der alten Kaffeemaschine in der Gastwirtschaft. Es dauert stets ein bisschen, bis sie warm ist. Am Montag hat er normalerweise geschlossen. Heute macht er eine Ausnahme, ihm ist bewusst, dass er heute zwanzig Kaffees wird servieren können. Wenn der halbe Nelkenweg zu ihm kommt und jeder zwei Tassen trinkt. Er reibt sich die Hände, holt die Milch aus dem Keller, kämmt sich die Haare mit Brylcreem nach hinten. Pingelig darauf bedacht, dass die Glatze von einer Haardecke bedeckt ist. Es sieht blöd aus, aber das sagt ihm niemand.

Conny Berger legt ihm wütend ein nasses Handtuch auf das Gesicht. Linus ächzt. Sie nimmt ihn an den Schultern und schüttelt ihn. Sie ist wütend. Ihre weiße Hose wird Grasflecken bekommen, das geht bei der Wäsche nie mehr raus.

„Jetzt komm schon. Du hattest deinen Auftritt, augenblicklich ist Schluss! AUF-STE-HEN! Kleider anziehen!“

Jemand kichert. Vermutlich ist das die alte Besitzerin von Eddy. Seit ihr Mann starb, hat sie keinen Mann mehr nackt gesehen. Dass hier einer zu ihren Füssen liegt, macht sie auf eine eigenartige Weise glücklich. Sie schiebt sich die Brille höher auf die Nase und senkt den Kopf ein wenig mehr. Nur ein bisschen, dass es nicht auffällt. Dabei kichert sie vergnügt, merkt diesen Fauxpas und beeilt sich damit, etwas zu husten, um abzulenken.

Es vergeht eine weitere Viertelstunde, bis Linus die Augen öffnet. Was er sieht, verwirrt ihn mehr als die Kopfschmerzen, die pochen wie ein rumpelnder Motor: Sind das Gesichter, die sich über ihn beugen? Oder Weihnachtskugeln, die hüpfend eine Party feiern?

Er schließt die Augen wieder, jemand zieht sein rechtes Augenlid hoch.

Linus, ein an Land gespülter Seestern, schiebt die Arme nach oben und tastete nach seinem Kopf. Alles da. Er probiert aufzustehen, dabei rutscht das Kleid zu Boden. Mit zusammengekniffenen Augen versucht er, den Stoff zu fokussieren, dann die umstehenden Leute. Was tummeln die sich alle in seinem Garten? Das musste ein Irrtum sein. Da ist noch seine Frau. Sie tobt und zieht ihn auf die Beine. Jemand presst ihn auf einen Stuhl. Seinen Gartenstuhl?

„Connyschatz!“, beeilt er sich zu sagen. Es klingt, als würde er Quatsch von sich geben.

Sie sei die längste Zeit sein Schatz gewesen, sagt sie so leise und nahe an seinem Ohr, dass es verdächtig nach einer Drohung klingt. Zoe schreit, dass sie jetzt wirklich zur Schule fahre und Frau Maier fragt, ob sie nicht doch die Ambulanz holen sollten.

Die Arztgehilfin trägt zu dem ganzen Chaos bei, indem sie vom Haus her insistiert, dass der Patient Huber jetzt hier sei, auf die Behandlung des Eckzahns warte und frage, ob es noch länger dauere.

Die Besitzerin von Eddy ist die letzte, die den Garten verlässt. Sie müsse sich, sagt sie, versichern, dass es Linus gut geht. Dieser hockt kraftlos auf dem Stuhl. Da er die Brille noch immer nicht trägt, nimmt er die Umgebung verschwommen wahr. Nicht nur ein gestrandeter, sondern gleichermaßen blinder Seestern.

Mit der Gewissheit eines Mannes, der weiß, wann die Party zu Ende ist, wird ihm klar, dass er am Tiefpunkt seines Lebens angekommen ist. Weiter runter geht es nicht. Das Einzige, wonach ihm jetzt ist, ist eine Flasche Wasser, ein Kaffee, in dem der Löffel stecken bleibt wie in Teer. Und eine Kopfschmerztablette. Oder drei.

Die Bewohner des Nelkenwegs flüchten zum Restaurant Linde, wo der Wirt die Tische zusammenschiebt.

Conny Berger ihrerseits zerreißt drei Paar Latexhandschuhe beim Versuch, sie ordentlich anzuziehen. Ihre blauen, mandelförmigen Augen sind nur noch winzige Striche.

Der Patient Huber, dem die Werkstatt im Dorf gehört, liegt auf dem Zahnarztstuhl, jeder Muskel angespannt. Ein bisschen mehr, und er würde durch das Zimmer schweben. Frau Berger macht ihm Angst. Er hebt die Hand, merkt schüchtern an, dass er auch an einem anderen Tag kommen könne. Ja, dass morgen mit Sicherheit ein besserer Tag wäre. Aber er lässt die Hand wieder sinken, während sie sich die Maske über den Mund schiebt: „Dann wollen wir mal.“

Die Besitzerin von Eddy kocht sich zu Hause einen Tee, den sie auf dem Tisch kalt werden lässt. Sie sucht – und findet – ein Fotoalbum aus den fünfziger Jahren. Sie und Karl im Schnee, sie und Karl im Tessin bei den ersten gemeinsamen Ferien. Sie und Karl bei der Taufe des ersten Kindes. Ein eleganter Mann war er mit seinen blauen Augen und den dunklen Haaren.

Linus indes will sterben vor Scham. Er sucht seine Brille, die auf dem Tisch im Wohnmobil liegt, zusammen mit einer leeren Flasche Wein. Er hat sich gestern Abend nicht mal die Mühe gemacht, ein Glas zu nehmen. Daneben liegen drei Notizhefte, zwei Bleistifte ohne Spitze und sein Handy. Linus denkt daran, dass er sich den Erinnerungen hingab, dass er am Kleid roch wie an einem heißen, süßen Kakao. Er hat doch damals schon Gedanken in Journale geschrieben, wo sind die Hefte von früher geblieben? Irgendwann in der Nacht hat er sich entschlossen, zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr nüchtern, das Kleid an der Feuerstelle zu verbrennen. Er wollte einen Schlussstrich unter diese Geschichte ziehen, endgültig. Das rituelle Einäschern der Dämonen, das Hinrichten der Geschehnisse dahinter, schien ihm die beste Lösung. Ausgerüstet mit einer Zeitung, drei Holzscheiten aus dem Gartenhaus und einer Flasche Kirsch, selbstgebranntem vom Bauer, beschäftigte er sich im hinteren Teil des Gartens. Doch so sehr er sich bemühte, das Feuer wollte nicht recht brennen. Vielleicht war es zu nass. Er probierte es mit dem Schnaps, aber der zeigte wenig Eignung als Brandbeschleuniger. Also trank er die Flasche leer. Dass er anschließend fast nackt auf dem Rasen schlief, war die logische Schlussfolgerung daraus.

Er nimmt zwei Tabletten aus der Packung, spült sie mit Wasser herunter. Dann putzt er sich die Zähne, der pelzige Geschmack nach toter Maus bleibt. In ihm wächst die Gewissheit, dass es so nicht weitergeht. Er kann mit den Schuldgefühlen nicht endlos leben, alles wächst ihm über den Kopf. Zoe hat ein Recht darauf, einen Vater zu haben, der Verantwortung übernimmt, der arbeiten geht, nicht einen, der wie ein elendiger Haufen tagein, tagaus vor seinem Wohnmobil sitzt und sich selbst leidtut. Vielleicht kann er auch das mit Conny wieder hinbiegen. Ihrer Tochter zuliebe. Er erinnert sich, dass er damals mit Zoe ein Baumhaus aus den alten Brettern baute, die sein Vater im Gartenhaus verwahrte. Sie machten sich mit einer Säge, Nägeln und ganz viel Enthusiasmus daran, eine Plattform zwischen drei Espen zu bauen, sie bauten bis tief in die Nacht, bis ein zitronengelber Mond alles mit seinem Licht übergoss. Immer wenn sie beim Baumhaus waren, kamen ihnen noch Dinge in den Sinn, die sie bauen konnten. Fenster, eines mit dem Blick hinaus auf das Feld mit den Kühen, das andere in den Garten. Eine Strickleiter, die zur Plattform führte. Einen ganzen Sommer bauten sie. Anfang Herbst, vermutlich war es September wie jetzt, umwickelten sie den Eingang mit einer Lichterkette, die sie in der Kiste mit dem Weihnachtsschmuck im Keller fanden. Dann lud Zoe Freundinnen ein und sie schleppten Decken hoch, um dort zu übernachten. Mitten in der Nacht schlugen sie ihr Lager schließlich im Wohnzimmer auf, es war ihnen draußen zu kühl.

In den folgenden Sommern war Zoe oft im Baumhaus, bis sie plötzlich keine Lust mehr auf das Baumhüttenfeeling hatte. Conny bat ihn mehrmals, die Hütte abzureißen. Sie schnitten die Leiter ab, weil der Boden marode und damit gefährlich geworden war. Linus schob den Abbruch vor sich her, immer wieder. Das Haus stand stetig, windschief und mit fehlenden Brettern.

Linus zieht sich Jeans an, wartet, bis die Tabletten wirken, und geht schließlich mit einer Axt und einer Leiter zu den Espen. Die Wut über seine Unfähigkeit, sein Leben in den Griff zu bekommen, lässt ihn so heftige Hiebe führen, dass das Holz splittert wie Meringue. Mit jedem Schlag wird er wacher, die Kopfschmerzen werden nicht besser dadurch, aber seine Energie kommt zurück. Einmal tanzt Conny im Garten an, um die Ursache des Lärms zu finden, kopfschüttelnd geht sie retour in die Praxis. Er macht keine Pause. Erst als vor ihm Holzbretter liegen, ein Haufen wie zu einem 1.-August-Feuer, lehnt er die Axt an den Stamm der großen Espe, reibt sich die Hände an den Jeans sauber und wischt sich den Schweiß mit dem T-Shirt ab.

Es ist Abend geworden. Linus lehnt sich an den Baumstamm, jetzt hat er sich eine Zigarette verdient. Mit beiden Händen klopft er sich die Taschen der Jeans ab, da ist nichts. Sie müssen auf dem Tisch im Wohnmobil geblieben sein. Sie liegen neben dem Kleid, diesem verflixten Stück Stoff. Anklagend und vorwurfsvoll ruht es da.

„Ich habe dich im Stich gelassen, Souri. Es war ein Fehler. Ein verdammt großer Scheißfehler!“

Er flüstert es in die Dämmerung seiner Behausung. Und für einen Augenblick ist er sicher, dass er diesen Schmerz nur heilen kann, wenn er erneut versucht, das Kleid zu verbrennen. Jetzt wird es gelingen, Holz hat er genug. Er kann ein gigantisches Feuer machen, die Schuld abfackeln, damit er nie mehr nachts erwacht aus diesem Albtraum. Das ist die Chance! Dass er das verfluchte Kleid auf dem Flohmarkt fand, kann kein Zufall sein. Er muss dem Einhalt gebieten. Nur so wird ein Neuanfang gelingen. So einfach.

Entschlossen rennt er mit dem Stoff unter dem Arm zum aufgeschichteten Holz. Beim Näherkommen sieht er dort jemanden stehen. Linus stoppt, seufzt leise. Sie dreht sich um, schaut ihn mit diesem Blick an, den er von Weihnachten kennt: Sie war sechs oder sieben und sie wünschte sich das große Barbiehaus zu Heiligabend. Conny, sehr auf eine ausgeglichene Erziehung bedacht, schenkte keine Puppen. Ihre Tochter trug nie rosa. Sie sollte nicht in das Schema des kleinen Mädchens gezwungen werden. Sie kaufte ein Fahrrad, das sie später für die Schule brauchen würde. Praktisch denkend, so ist Conny.

Zoe stand vor dem beleuchteten Weihnachtsbaum, ihre Augen leuchteten wie kleine Sterne. Sie suchte die Geschenke nach dem Puppenhaus ab, zuerst lächelnd und dann zunehmend enttäuscht, weil sie es nicht fand. Ihr klitzekleines Gesicht war plötzlich leer, die Augen dunkel und schmal.

„Kein Puppenhaus?“, fragte sie. Dann kamen die Tränen.

Jetzt sieht sie ihren Vater auf dieselbe Weise an. Sie musste von der Schule nach Hause gerannt sein, ihre Wangen sind rot, lange Strähnen haben sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst.

In der Hand hält sie ihr Handy.

„Die Baumhütte war baufällig. Ich musste sie abreißen.“

„Es geht nicht um die Hütte, Papa! Du verstehst gar nichts!“

Zoe stürmt an ihm vorbei zum Haus. Sie hat Tränenspuren auf den Wangen.

„Zoe. Bitte. Ich …“

„Du bist einfach nur peinlich, Papa. PEINLICH!“

Er stößt einen langen, tiefen Seufzer aus. Die Geschichte von heute Morgen hatte er erfolgreich verdrängt.

„Hör zu, Liebes. Hör mir kurz zu.“ Linus hält sie am Sweatshirt fest, sie schaut auf seine Hand. Er lässt augenblicklich los.

„Was? Ich habe Hausaufgaben.“ Ihre Stimme ist kalt, schneidend.

„Es war ein Fehler, ich habe mich in letzter Zeit völlig danebenbenommen. Das war nicht okay und …“

Sie unterbricht ihn: „Und jetzt? Weißt du, dass alle in der Schule erfahren haben, dass mein Vater nackt auf dem Rasen vor dem Haus lag, mit einer Schnapsflasche in der Hand?“

„Ich war nicht nackt“, flüstert Linus. Er hat Lust auf eine Zigarette.

„Nein. Du warst nicht nackt. Du warst in einen Fummel gewickelt.“ Sie zeigt auf den Stoff in seinen Händen. „Und so wie es aussieht, trägst du das Teil noch immer mit dir herum!“

Es braucht lange, um sich ein Leben aufzubauen, das einem passt. Aber es dauert manchmal nur Momente, um alles zu zerstören. Das mit seiner Frau wieder hinzubiegen, ist nicht so wichtig wie die Sorge, Zoes Liebe zu verlieren. Er hat Angst und er muss wissen, was mit Souri geschehen ist. Das Kleid zu verbrennen ist keine Lösung. Das wird Linus in diesem Moment klar. Und die Enttäuschung seiner Tochter kann er verstehen, sehr gut sogar. Bevor sie zurück zum Haus gehen kann, sagt er: „Zoe. Ich muss ein paar Dinge zurechtbiegen. Was soll ich sagen? Große Fehler. Ich kann nicht von dir erwarten, dass du das jetzt verstehst. Aber ich kann versuchen, dir davon zu erzählen. Ich … gibst du mir noch eine Chance?“

Sommer auf Zeit

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