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Freitag, 13. März 2020

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Daniel

Im Reisebus.

Puh, wer hätte gedacht, dass diese Woche so glimpflich abläuft? Ich hatte ja Schiss, dass eines der Kinder krank wird und wir dann auch einen Corona-Verdacht haben. Oder Eltern in Weinheim krank werden und wir dann hier die Panik unter den Kindern haben. Aber nun sitzen wir alle im Bus. So, noch schnell eine Ansage machen und dann chillen.

„Und wie immer gilt: anschnallen und den Bus nicht verdrecken. Ach, und schaut mal, da links hat Euer Lehrer Herr Lehmann mal gewohnt. Genau an der Grenze von Kreuzberg und Mitte.“

„Wow, mitten in der Stadt. War das nicht ganz schön teuer?“

„Ne, damals nicht. Da war das noch sozialer Wohnungsbau.“

„Haben Sie da allein oder mit dem Herrn von Dr. Witzleben gewohnt?“

„Wenn ihr es genau wissen wollt: Mit Herrn Dr. von Witzleben. War ne tolle Wohnung. Mit Blick auf den Potsdamer Platz. Und durch das Nachbarhaus durch konnte man die Flagge vom Checkpoint-Charlie sehen, wo wir Mittwoch waren.“

„Und warum sind Sie da ausgezogen?“

„Na, weil ich unbedingt zu euch nach Weinheim wollte.“

„Aber Berlin ist doch viel geiler.“

„Also mir gefällt Weinheim besser. So beschaulich, und Heidelberg ist auch ganz nah. Aber jetzt lasst mich mal ein wenig in Ruhe mit Frau Bolz reden.“

So, jetzt verlassen wir gleich Berlin und sind somit schon so gut wie sicher zurück in Weinheim. Jetzt setze ich mich mal entspannt zu Steffi.

„Und Frankfurt ist auch ganz nah. Na, Daniel, warum willst Du denn zurück nach Berlin, wenn es Dir in Weinheim so gut gefällt?“

„Du weißt genau warum. Warum bist Du denn so salzig?“

„In Weinheim gibt es auch Kindergärten.“

„Ja, aber in Berlin ist meine Mutter, mein Bruder mit Frau und Kindern. Halt eine richtige Familie. Gerade als alleinerziehender Vater werde ich ein Netzwerk brauchen.“

„Freunde können auch wie Familie sein und ein Netzwerk allemal.“

„Ach, Steffilein, sei doch nicht so. Du weißt, wie wichtig Ihr, wie wichtig Du mir bist. Und wahrscheinlich klappt es eh dieses Jahr nicht.“

„Was nicht?“

„Na, wahrscheinlich beides nicht. Adoption und Wechsel nach Berlin.“

„Grmpf.“

Langes Schweigen.

„Na Steffi, wie lange noch?“

„Noch ne halbe Stunde. Dann ist die Pressekonferenz.“

„Dann wird Söder die Schulen in Bayern schließen.“

„Ja, wenn er die Ministerien doch schon gestern angewiesen hat, sich darauf vorzubereiten.“

„Und unsere Landesregierung macht erst um 14 Uhr eine Pressekonferenz. Super.“

Gespanntes Schauen auf das Handy.

„Und, was ist nun, Herr Lehmann? Macht Bayern dicht?“

„Ja, lasst mich mal durch, ich mach mal eine Ansage: Bayern schließt ab Montag die Schulen. Sobald es Neuigkeiten für Baden-Württemberg gibt, melde ich mich bei euch.“

Pause bei einem Burger-Restaurant an der Autobahn.

„Meinst Du, Steffi, die schließen die Schule nur bis Ostern oder einschließlich Ostern?“

„Ist doch egal.“

„Ne, ich wollte doch mit meinem Seminarkurs Holocaust in den Osterferien nach Berlin fahren.“

„Stimmt. Ach ja, Dein Seminarkurs Holocaust. Du, da fällt mir noch was ein, was ich vergessen habe zu erzählen...“

„Was denn? Nun rück schon raus.“

„Nun ja, bei uns unten in den Naturwissenschaften, da wird ja viel geredet.“

„Was wurde gesagt?“

„Du weißt ja, ich rege mich sowieso ständig über die auf. Neulich haben sie geredet, dass man auf die Geisteswissenschaften an der Schule auch gut verzichten kann und die Naturwissenschaften die Basis für den Erfolg in Deutschland legen. Aber mit Deutsch und Chemie werde ich da sowieso kritisch beäugt.“

„Und was haben die da unten über meinen Seminarkurs gesagt?“

„Dass Du es übertreibst. Holocaust hier, Holocaust da. Und Reich hat gesagt, dass man aufpassen muss, dass die Kinder nicht am Ende rechts werden, weil sie die Nase voll von dem Zeug haben. Dass man es auch einmal gut sein lassen müsse. Und dass andere Länder auch Juden verfolgt hätten.“

„Oh, den greif ich mir, wenn ich ihn am Montag sehe.“

„Machst Du eh wieder nicht. Du regst Dich jetzt auf und schweigst dann wieder. Und lass auch gut sein. Sogar die Schüler sagen schon immer: Reich, der Name ist Programm.“

„Hast Recht. Alex Reich ist ein Idiot und ich halte viel zu oft die Klappe. Mal schauen, ob wir Montag überhaupt in die Schule müssen.“

Zurück im Bus.

Plink.

„Eine Nachricht wegen Schulschließung, Daniel?“

„Nein, aber mein Seminar im Haus der Wannseekonferenz hat sich schon erledigt. Das Haus macht ab heute dicht. Na dann versuche ich mal Unterkunft, An-und Abreise und das ganze Rahmenprogramm zu stornieren.“

„Du Armer.“

„Mir tut’s vor allen Dingen für die Schüler leid. Das ganze Seminar war darauf ausgelegt, dass sie in der Bibliothek im Haus der Wannseekonferenz ihre Seminararbeiten schreiben. Wie sollen die das jetzt machen? Ich schreib schon mal in die Seminarkursgruppe bei whatsapp, dass die Fahrt nach Berlin nicht stattfinden kann. Und die Eltern, die noch nicht gezahlt haben, nun auch nichts mehr zahlen müssen.“

Kurzes Nickerchen.

„So, jetzt kommt die Pressekonferenz aus Stuttgart.“

Gespanntes Schauen auf die Handys.

„So etwas, jetzt lassen die uns nochmal am Montag alle antanzen. Hätte man nicht wie Bayern das schon heute früh klären können?“

„Aber Du hast doch gehört Steffi, was unser Ministerpräsident gesagt hat. Um 11:30 gab es noch ein Treffen mit der Wirtschaft. Das war wichtig.“

„Manchmal habe ich echt das Gefühl, Baden-Württemberg ist die Hure der Wirtschaft.“

„Ja, aber irgendwo muss das Geld ja erwirtschaftet werden, das in meine Heimat, den faulen Osten gepumpt wird.“

Verlegenes Lachen.

„Bin ja mal gespannt, Steffi, wer die Notbetreuung für die Kinder machen soll, die in systemrelevanten Berufen arbeiten.“

„Na, wahrscheinlich wir, die wir keine Kinder haben.“

„Du Steffi, ich schreibe mal unserem Schulleiter, eigentlich macht es keinen Sinn, dass die 9.Klässler, die jetzt die ganze Zeit auf so engem Raum waren, noch am Montag in die Schule gehen und möglicherweise Corona-Viren verbreiten.“

„Sehr guter move, Daniel.“

Plink. Stapfen durch den Bus zum Mikrofon.

„Liebe Schülerinnen und Schüler, ich habe gerade die Nachricht von unserem Schulleiter bekommen, dass Ihr am Montag bitte nicht mehr in die Schule geht.“

Jubel im Bus. Einige rufen: „Freitag, der 13. Mein Glückstag.“

Verabschieden der Schüler. Vermeiden von Handschlägen mit den Eltern. Mit Steffi allein auf dem Parkplatz.

„Und was machst Du noch am Wochenende, Daniel?“

„Ich wollte eigentlich morgen zu Lasse nach Frankfurt fahren.“

„Lasse? Der Investmentbanker?“

„Ne, das mit dem Investmentbanker ist doch schon lange vorbei.“

„Aha, und was macht Lasse?“

„Er ist Anwalt für Patente, Medikamente und so.“

„Wie, Medikamente und so?“

„Vor ein paar Jahren hatte er zum Beispiel einen Prozess gegen eine indische Firma, die billige HIV-Generika produzieren.“

„Und mit so einem Arsch gehst Du ins Bett?“

„Er hat mir erklärt, dass wenn zu viele billige Generika produziert werden, die Pharmakonzerne bald kein Geld mehr haben für die HIV-Forschung.“

„Und in Indien sterben dann Menschen, die noch jahrzehntelang leben könnten, wie die Fliegen. Dein Stecher muss ja echt gut sein, damit Du so einen Scheiß nachplapperst.“

„Na, besser von nem Arsch, als gar nicht oder nur vom Leben gefickt, liebe Steffi.“

Schweigen.

„Tut mir leid, Steffi.“

„Mir auch. Aber hey, Du kannst ja doch austeilen, Daniel. Gefällt mir.“

Umarmung trotz Corona.

Fünf Kilometer später. Am Telefon.

„Hi Lasse.“

„Ah, hallo Daniel. Was macht die Kunst?“

„Du, ich wollte nur fragen, ob es bei unserem Treffen morgen bleibt.“

„Ja, unbedingt. Und wie war Deine Woche? War bestimmt Aufregung bei Euch in der Schule, ob ihr nun früher in die Osterferien starten könnt.“

„Na, ich war ja nicht an der Schule, ich war in Berlin auf Klassenfahrt. Hab ich Dir doch erzählt.“

„Ja, stimmt. Mann, Du musst echt nie arbeiten. Lehrer müsste man sein. Ich musste diese Woche einen wichtigen Prozess vorbereiten.“

Ist auch nur Arbeit.

„Nun gut, es war schon schön in Berlin, aber es war auch Arbeit.“

„Du ich muss jetzt, hier bricht gerade alles zusammen. Na, dann erhole Dich mal gut von deinem stressigen Job. Bis morgen.“

„Ja, ciao.“

Was bricht denn wohl zusammen?

Julius

Langsam geht die Sonne unter. Und wieder der Hof vor dem Gefängnis. Gestern habe ich mich hier von Daniel verabschiedet. Eigentlich schön, dass er gestern hier war. Er hat ein kleines Bäuchlein bekommen, aber es steht ihm ganz gut. Hatte der eine Schüler wirklich gesagt: „Da sind aber noch ganz schöne Vibes zwischen Ihnen und Ihrem Ex. Da geht doch noch was.“

Spricht er so offen mit seinen Schülern? Auf jeden Fall geht er toll mit ihnen um. Mal hören was mein Chef mir Wichtiges zu sagen hat. Na, eigentlich weiß ich es ja schon. Wahrscheinlich soll ich noch heute meinen Festvertrag unterschreiben. Das ging ja schnell mit Personalrat und Frauen- und Behindertenvertretung. Vielleicht haben die auch noch auf den Corona-Turbo gedrückt?

„Julius, Du kannst Dir sicher denken, worum es geht?“

„Ich hab die Stelle bekommen?“

„Eigentlich ja.“

„Aber der Personalrat hat ein Problem…“

„Nein. Du warst der beste Kandidat. Das fand auch der Personalrat. Aber ich kann Dir die Stelle trotzdem nicht geben. Wir machen dicht. Ab sofort. Aber wir melden uns, sobald wir wissen, dass wir wieder aufmachen. Du machst echt eine tolle Arbeit. Habe gerade eine Lobes-E-Mail von der Schule aus Weinheim bekommen, von Herrn Lehmann. Aber den festen Vertrag, den kann ich Dir in der jetzigen Situation nicht geben. Der Verwaltungsrat hat die Notbremse gezogen.“

„Schöne Scheiße.“

„Ich weiß. Total beschissen, dass wir dichtmachen. Gerade für die ehemaligen Häftlinge, die hier führen, ist es hart. Du weißt ja, wie gering die Opferrenten zum Teil sind. Aber Du kommst doch klar, oder?“

„Ja klar, ich komme klar.“

„Sag mal, bist Du eigentlich umgezogen? Die Adresse schien mir neu.“

„Ja, in die Papageiensiedlung, nach Zehlendorf.“

„Papageiensiedlung? Kenne ich nicht.“

„Klar, kennst Du die. Von Bruno Taut. Reformwohnen. Weimarer Republik. Arbeiter in anständigen Wohnraum. Das war zumindest der Anspruch. Ein wenig wie die Tuschkastensiedlung. Nur dass die Tuschkastensiedlung immer noch einer Genossenschaft gehört. Kennst Du die?“

„Ja, die kenne ich.“

Klar, die Tuschkastensiedlung ist ja auch bei Dir im Osten. Hast wahrscheinlich noch nicht so ganz realisiert, dass die Mauer gefallen ist.

„Onkel-Toms-Hütte, Waldsiedlung… wurde vom Land Berlin an die Deutsche Wohnen verscherbelt und jetzt überlegt Berlin, die zurückzukaufen.“

„Deutsche Wohnen kenne ich natürlich, Julius. Wer kennt die nicht in Berlin. Spätestens seit dem Volksbegehren Deutsche Wohnen und CO enteignen. Und bei den Miethaien wohnst Du jetzt?“

„Du, was denkst Du denn? Glaubst Du, man kann sich seine Vermieter gerade aussuchen?“

„Hey, alles klar, Julius? Bist Du doch sauer wegen der Stelle? Ich kann da wirklich nichts dafür.“

„Dass keine Führungen mehr stattfinden, verstehe ich ja, aber was hat das mit meiner Forschungsstelle zu tun? Im Archiv bin ich doch allein.“

„Ich habe das nicht entschieden.“

Ne, es entscheidet ja nie jemand irgendwas.

„Ist schon gut. Ist kein Problem. Ich komm‘ klar. Ich würde mich freuen, wenn die Krise vorbei ist, hier wieder Führungen zu machen.“

„Bleib gesund, Julius.“

„Ja, Du auch. Ich gebe Dir besser nicht die Hand.“

Zurück im Gefängnishof.

Plink: Eine Nachricht von der Sprachschule.

Hallo Julius,

aufgrund der Corona-Krise entfallen alle Sprachkurse an unserer Schule.

Wir freuen uns dann in besseren Zeiten mit Dir als Mitarbeiter wieder voll durchzustarten.

Bleib gesund!

So schnell kann man zwei Jobs los sein. Wenn ich doch nur eine richtige, feste Stelle gehabt hätte. Habe immer nur Rechnungen geschrieben. Für die Sprachschule und für das Gefängnis. Und wenn ich nur schon eine Wohnung hätte, dann würde wenigstens das Jobcenter mir die Miete bezahlen. Also zumindest, wenn sie angemessen wäre.

Alle Besichtigungen von Zwei-Zimmer-Wohnungen, die ich geplant hatte, kann ich knicken. Die sind dann, wenn ich überhaupt Hartz-IV kriege, zu groß. Ok, Netz hab ich genug. Wo war doch gleich die Wohnung auf Immoscout, die dann noch in Frage kommt?

Da, also Friedrichshain. Nette Bilder und das Beste, der Preis:

Mietendeckel!!!

278,51€ Kaltmiete

84,00€ Betriebskosten

Die umfassend sanierte 1- Zimmer- Wohnung befindet sich im 4. Obergeschoss des Vorderhauses und verfügt über einen Flur, von dem das Zimmer sowie das Bad und die Wohnküche erreichbar sind.

Alle Wände der Wohnung sind gespachtelt und gestrichen worden. Die Küche wurde komplett neu gefliest. Als besonderes Highlight verfügt die Wohnung über einen nach Westen ausgerichteten Balkon, auf dem sich wunderbar vom Alltag erholen lässt.

Na herrlich. Da kann ich dann wunderbar meinen Lebensabend genießen. Relaxen. Fragt sich nur, wie ich ohne geregeltes Einkommen, an die Wohnung kommen soll. Ist ein Privatvermieter. Die Schweine sind ja nicht doof, denen wird schon klar sein, dass die Einkommensnachweise jetzt in der Krise nicht einmal mehr das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Aber wozu hat man denn ein Bruderherz? Noch dazu einen Zwillingsbruder.

„Na, Julius-Bruderherz, bei Dir auch alles Corona?“

„Na, geht so. Bei Dir? Du klingst so fröhlich?“

„Freitag der 13. Mein Glückstag. Die Schulen in Brandenburg machen spätestens ab Mittwoch dicht. Ich hab so einen Massel. Ich bin ein Glückspilz. Ich hab Dir ja erzählt, dass ich im ersten Halbjahr viel weniger Stunden hatte, als ich eigentlich hätte unterrichten müssen, hab das ja auch immer wieder gesagt, aber da haben sie immer nur gesagt: „Herr von Witzleben, machen Sie sich keine Sorgen“. Die haben sowieso immer so komisch getan. Nur weil man aus dem Westen kommt und dann noch das blöde von im Namen. Die Ossis fühlen sich eh immer noch vom Leben gefickt und dabei haben die keine Ahnung, wie schwer wir zwei es hatten. Egal. Und jetzt sollte ich plötzlich alle Stunden nachholen. Und dann noch das blöde Theaterprojekt, das ich mache. Die Aufführung wäre voll peinlich geworden. Also mein Arsch war schon auf Grundeis und wegen Corona löst sich jetzt alles in Wohlgefallen auf. Bei Dir?“

„Nun ja, ich habe heute sowohl den Job im Stasi-Gefängnis als auch in der Sprachschule verloren.“

Fuck. Und ich freu mich hier wegen Corona. Tut mir leid.“

„Konntest Du ja nicht wissen.“

„Gibt’s was wegen ner Wohnung? Du kannst ja nicht ewig bei Thekla bleiben. Die ist doch zurück aus der Reha, oder? Kannst wie gesagt auch gerne zu uns kommen. Wir haben genug Platz in der Casa Witzleben. Aber Du willst wahrscheinlich was Eigenes haben?“ „Das ist lieb von Euch. Aber eigener Herd wäre nicht schlecht. Ich könnte vielleicht ne Wohnung in Friedrichshain bekommen. Da ist morgen Besichtigung. Aber jetzt ohne Job. Ich meine, ich habe noch Reserven, Geld ist nicht das Problem, aber…“

„Soll ich bürgen?“

„Das würdest Du tun?“

„Klar, wir von Witzlebens müssen doch zusammenhalten. Komm einfach vorbei. Wir sind zu Hause.“

In der Casa Witzleben, eigentlich die Villa meiner Schwägerin.

„Hallo Lieblingsschwägerin.“

„Ich bin Deine einzige Schwägerin.“

„Umso lieber habe ich Dich. Komm, lass Dich drücken.“

„Dein Bruder ist im Arbeitszimmer und sucht verzweifelt nach seinem Gehaltsnachweis für die Bürgschaft.“

„Er ist halt doch nur der Zwilling seines Bruders.“

Vertrautes Lachen.

„Sag mal, sitzen Deine Eltern immer noch auf dem Kreuzfahrtschiff fest?“

„Ja, in Chile durften sie ja doch nicht mehr von Bord gehen. Mal schauen, was kommt. Aber sie wirkten recht entspannt.“

„Kann mir auch schlimmere Orte vorstellen derzeit.“

„Schon, aber so lustig ist es wohl nicht. Sie sehen niemanden und das Essen wird vor die Tür gestellt.“

Schweigen.

„Ist es eigentlich Ok, dass mein Bruder für mich bürgt?“

„Klar ist es Ok. Wir bürgen übrigens beide. Ich habe meinen Gehaltsnachweis schon und auch schon ein Schreiben gemacht. Schau mal, ob es so in Ordnung ist.“

„Vielen lieben Dank.“

„Du kannst ja nicht ewig bei Thekla bleiben.“

„Oder doch. Ich pflege sie und warte, dass sie stirbt. Dann kann ich den Mietvertrag übernehmen. Und die Einbauküche. Die ist echt noch schick. Oh mein Gott, ich bin so ein Teufel. Ich will nicht in die Hölle, du weißt, wie lieb ich Thekla habe.“

„Du kommst nicht in die Hölle, Julius. Und Du bist auch kein Teufel.“

„Danke. Wo sind eigentlich die Kleinen?“

„Die sind bei den Nachbarn. Ich hole sie gleich, sie sind schon ganz scharf drauf, dass Du ihnen etwas vorliest.“

„Und Sebi?“

„Der ist natürlich am Zocken und kann sein Glück nicht fassen, dass er nicht mehr in die Schule gehen muss. Warte, ich zieh mal den W-Lan-Stecker, dann kommt das Pubertier aus seiner Höhle.“

„Ach lass doch…“

Ein lauter Schrei aus dem Nebenzimmer.

„Sag mal, hast Du bekloppte Alte gerade den Netzstecker gezogen? Ich war grad am Gewinnen. Oh, Hallo Onkel Julius.“

„Erzähl mal Deinem Onkel, was Du so machst.“

„Oh, was willst Du denn, Mama? Was mach ich denn?“

„Dein Patenkind eifert seinem Urgroßvater nach und ist unter die Passfälscher gegangen.“

„Passfälscher?“

„Er hat sich einen Personalausweis gemacht, auf dem er 18 ist. Mit Photoshop. Mal eben vier Jahre älter gemacht.“

„Es war nur ein Spaß, Mama. Und wenn man ihn nicht ausdruckt, dann ist es auch kein Verbrechen. Ich habe mich informiert.“

Mein Bruder kommt die Treppe runtergestampft.

„Sag mal, verrückte Alte, hast Du den W-Lan-Stecker gezogen? Ich war grad in meinem Dienstpostfach, um für Julius einen Gehaltsnachweis runterzuladen. Ach, Tagchen Bruderherz.“

Herzliche Umarmung.

„Ich steck ihn ja schon wieder rein.“

„Gut, Julius, ich schick Dir den Gehaltsnachweis auch gleich mal als pdf. Falls es mit der einen Wohnung nicht klappt. Und beim Essen reden wir über Juliusruh. Wenn wir das Ding verkaufen, dann hast Du erst mal Ruhe. Und die Hütte hier, die uns mein Schwiegervater freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, könnte auch ein paar neue Fenster und ne neue Heizung gebrauchen.“

„Da trollen sich Vater und Sohn. Und was sagst Du als Onkel dazu? Ich meine, ein gefälschter Personalausweis nur als Foto auf seinem Handy, damit kann er doch nichts anfangen, oder Julius? So ich hol dann mal die Kleinen von drüben. Dann können wir essen.“

Vor der Höhle des Pubertiers.

„Sebi, kann ich reinkommen?“

„Klar, Onkel, was ist?“

„Ich kann mir schon vorstellen, wozu Du das Handyfoto von dem gefälschten Pass brauchen kannst. Um harten Alkohol zu kaufen. Bist zwar erst 14, aber es stimmt, ich würde auch glauben, dass Du 18 bist. Wenn ich nicht Dein Onkel wäre.“

„Hm, ja.“

Schweigen.

„Willst Du es Mama verraten?“

„Nein, als Patenonkel macht man sowas nicht. Aber versprich mir, dass Du es nicht so wild treibst. Also ich verrate Dich nicht. Das hast Du übrigens echt gut gemacht, mit dem Personalausweis. Dein Patenonkel könnte auch mal Deine Hilfe gebrauchen.“

Samstag, 13. Mai 1939

Jetzt stehe ich an Deck der St. Louis und schaue von diesem eindrucksvollen Transatlantik-Passagierschiff auf den Hafen von Hamburg. Ich hatte zurück nach Prag gewollt, aber Herr von Witzleben hat es mir ausgeredet. Auch hätte er, wäre ich ins Protektorat Böhmen und Mähren, in das die Wehrmacht vor zwei Monaten einmarschiert ist, zurückgekehrt, Probleme bekommen. Denn er hat mir das Visum und die Schiffspassage besorgt und dafür gebürgt, dass ich das Großdeutsche Reich verlasse. Und er hat mir das Geld für mein Patent gegeben. Ein anständiger Mann. Er hätte mich auch einfach in Sachsenhausen verrecken lassen können. Hätte er viel Geld gespart. Jetzt bewegt sich das Schiff. Die Kapelle spielt „Muss ich denn, muss ich denn zum Städele hinaus.“ Viele, es sind wohl ausschließlich jüdische Flüchtlinge an Bord, weinen bitterlich. Sie werden ihre Heimat wohl nie wiedersehen.

Corona

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