Читать книгу Death Cache. Tödliche Koordinaten - Danise Juno - Страница 8
ОглавлениеKapitel 4
Kirstin Baltazar saß auf einem verwitterten Felsen oberhalb des Tunneltheaters der Erpeler Ley und ließ die Füße über dem Abgrund baumeln. Das weiße Halbrund ihrer Chucks bildete einen deutlichen Kontrast zu dem Schotterplatz in etwa zwölf Metern Tiefe, der vom Mond nur dürftig beleuchtet wurde. Jenseits dessen sah sie die wuchtigen Türme der ehemaligen Ludendorffbrücke, die sich, zwei mahnend ausgestreckten Fingern gleich, dunkel gegen den träge dahinfließenden Rhein abhoben. Im Wasser spiegelten sich die Lichter der Stadt Remagen, die sich wie ein breites Band am gegenüberliegenden Ufer entlangzogen. Den Schluss bildete die Apollinariskirche. Im warmen Schein der Strahler wirkte sie als habe Gott selbst sein Licht über sie ergossen.
Das Panorama war ihr inzwischen so vertraut, dass sie den Anblick kaum noch genießen konnte. War die Luft noch so mild, der Himmel noch so klar, selbst das Zirpen der Grillen entlockte ihr kein Lächeln mehr. Stattdessen strich sie sich den pinkfarbenen Pony aus den Augen, las die leuchtenden Ziffern ihrer Uhr ab und fragte sich, warum sie sich nicht endlich auf eine Zeit einigen konnten, die sie nicht dazu zwang, eine Stunde in der Dunkelheit herumzusitzen und ihren Gedanken nachzuhängen.
Auch wenn es von Jahr zu Jahr leichter wurde, so fühlte sie sich dennoch wie eine Getriebene. Erst recht, als sie im Zuge der Wartezeit wie ehedem ihren Rucksack heranzog, um zu prüfen, ob sie auch nichts vergessen hatte. Sie wollte gerade den kleinen Gegenstand herausziehen, um den sich ihre Finger geschlossen hatten, als sie hinter sich Schritte hörte. Kirstin fuhr herum.
»Einsames Plätzchen«, hörte sie eine vertraute Stimme sagen, bevor eine hochgewachsene Gestalt an sie herantrat und sich ohne ein weiteres Wort neben sie setzte.
»Du bist früh dran, Gernot«, begrüßte sie Geopapst, zog die Hand aus dem Rucksack und zippte den Reißverschluss zu.
»Ich hab mir gedacht, ich leiste dir ein wenig Gesellschaft«, sagte er schlicht.
»Wie nett von dir«, entgegnete Kirstin keck.
»So bin ich, was soll ich machen?«, erwiderte Gernot und zuckte unbekümmert mit den Schultern.
Sie bemerkte wie er ihre Turnschuhe musterte, dann hörte sie ihn sagen: »Du hältst dich auch nicht unbedingt an irgendwelche Listings, oder?«
»Was meinst du?«
»Och …«, begann er und kräuselte die Lippen. »Da steht ja bloß, dass man für dieses Terrain keine Turnschuhe anziehen sollte.«
»Das muss ich überlesen haben.«
»Ja ne, is klar«, sagte er und grinste.
Belustigt schüttelte sie den Kopf. »Und dein Equipment beschränkt sich auf Trekkingstiefel und ein unverschämtes Grinsen?«
Er lachte. »Ich hab alles, was ich brauche«, sagte er und wies auf den Rucksack, der hinter ihnen an einem Baum lehnte. »Du warst so in Gedanken, dass ich erst überlegt habe, ob ich dich überhaupt stören soll.«
»Oh …«, entfuhr es ihr.
Hat er mich etwa im Dunkeln beobachtet? Wie lange hat er dort schon gestanden? Ein Schauer rieselte ihr über den Rücken bei dem Gedanken, dass sich ihr jemand hatte nähern können, ohne dass sie es rechtzeitig bemerkt hatte. In diesem Fall war es Geopapst, aber unter anderen Umständen …
»Keine Sorge«, brach er in ihre Gedanken ein. »Ich bin kein Stalker. Du sahst nur so – wie soll ich sagen – traurig ist nicht das richtige Wort.«
»Warum sollte ich auch traurig sein?«
»Ich sag ja, es passt nicht.«
»Was dann?«, forderte sie ihn heraus.
»Ich weiß nicht, irgendwie …«, er ließ den Blick über das Panorama schweifen, »… verloren.«
»Ich habe nur die Aussicht genossen«, lenkte sie von seiner vortrefflichen Einschätzung ab, stützte die Hände neben sich und beugte sich kaum merklich vor.
Schweigend saßen sie nebeneinander. Die Stille umhüllte sie und ihr war, als entstünde zwischen ihnen ein unsichtbares Band der Nähe und Vertrautheit. Sie nahm seinen angenehm männlichen Duft wahr. Es schien, als umgebe seinen Körper eine wärmende Aura, als könne sie aus seiner ureigenen Kraft schöpfen, sich an ihm aufrichten wie an einem Pfeiler der Unerschütterlichkeit.
Ja, er hatte Recht. Sie fühlte sich verloren. Die Bürde, die auf ihren Schultern ruhte, hatte sie sich selbst auferlegt, niemals würde sie darüber sprechen können. Mit niemandem.
Als seine Finger sanft über ihren Handrücken strichen, rieselte ihr ein wohliger Schauer den Arm hinauf. Plötzlich hatte sie das Gefühl, nicht mehr allein zu sein, als würde er sie verstehen, ohne dass er wusste, was in ihr vorging, was sie getan hatte. Sie durfte sich dieser Empfindung nicht hingeben. Sie verdiente ihn nicht.
Sie wollte ihm die Hand entziehen, wollte ihn nicht an sich heranlassen, doch er durchbrach ihren Schutzwall, den sie über die Jahre mühsam um sich errichtet hatte, mit einer Leichtigkeit, als wäre es das Selbstverständlichste dieser Welt. Seine Finger glitten sanft zwischen die ihren, erkundeten jede Unregelmäßigkeit ihrer Haut. Sie biss sich auf die Lippen, ihr Körper reagierte auf ihn, als habe er ewig auf diesen Mann gewartet. Wohin auch immer diese Empfindungen führen sollten, sie konnte nicht anders.
Wie selbstverständlich verschränkten sie die Hände ineinander, außerstande sich jemals wieder loszulassen.
Sie wandten sich einander zu, sie versank in seinem Blick, die Augen dunkel und sanft, sah sein Lächeln auf den Lippen, die sie wie magisch anzogen. Nichts um sie herum war noch von Bedeutung, einzig seine Wärme, sein Duft, sein pochendes Herz.
Er neigte den Kopf, sie öffnete die Lippen, sog seinen Atem ein und ergab sich in seine feste und doch süße Sanftheit; dieser erste Kuss war berauschend und verheißungsvoll zugleich.
Als sie sich voneinander gelöst hatten, ließ sie ihren Blick erneut über das Panorama schweifen. Es kam ihr mit einem Mal gar nicht mehr so trostlos vor. Irgendetwas hatte sich verändert. War so etwas möglich?
»Was denkst du?«, fragte er sanft.
»Nichts«, sagte sie schnell. »Ich habe mich nur gefragt, wann die anderen wohl hier sind.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. Sie fühlte seinen forschenden Blick auf sich ruhen und sah auf.
Er nickte nur und sagte kein Wort.
»Nein, bitte vergiss diesen Gedanken«, sagte sie, da sie ahnte, dass er ihre Bemerkung als Ablehnung hatte verstehen können.
Er hob fragend die Brauen. Sie nahm seine Hand, verzweifelt darum bemüht, das zarte Band zwischen ihnen festzuhalten, wenngleich sie spürte, dass es ihr zu entgleiten drohte.
»Ich wüsste zu gern, was in dir vorgeht«, sagte er.
»Ich weiß nicht, was …«
Er hob den Zeigefinger an ihre Lippen. »Schttt. Ist schon gut. Irgendwann wirst du es mir erzählen.« Er ließ die Hand sinken.
Sie sah ihm direkt in die Augen, der Gedanke umkreiste diese vage Möglichkeit, doch sogleich verwarf sie ihn wieder. Er würde das nicht verstehen. Sie hatte sich selbst zum Schweigen verdammt und so würde es auch bleiben. Das war besser für sie alle. Wortlos richtete sie ihren Blick in die Ferne.
»Sag mal …«, begann Kirstin nach einer Weile vorsichtig, dann zögerte sie.
»Hm?«
»Was ist das eigentlich zwischen dir und Mysthunter?«
»Was meinst du?«, fragte er.
»Ich meine, es ist offensichtlich, dass ihr euch schon länger kennt, andererseits …« Sie ließ den Satz unvollendet zwischen ihnen schweben.
Gernot antwortete nicht sofort. Endlich sagte er: »Das stimmt schon …« Er zögerte, als würde er nach den richtigen Worten suchen. »Is’ kompliziert. Wir sind mittlerweile wohl eher so was wie Konkurrenten, denke ich.«
Kirstin sann über das Treffen am Nachmittag und ihre erste Begegnung mit Mysthunter nach. Er war durchaus attraktiv, hatte aber etwas an sich, das es ihr schwer machte, ihn recht einzuschätzen. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass Geocaching und die Jagd nach der Toplist mehr als eine bloße Leidenschaft für ihn waren. »Das gefällt mir gar nicht«, sagte sie. »Ich habe das Gefühl, ihr nehmt das zu ernst.«
Gernot winkte ab. »Ach quatsch.«
»Ich glaube, er sieht das anders.« Die Anspielung, die Mysthunter gemacht hatte, fiel ihr ein. Unvermittelt fragte sie: »Wie hat er das eigentlich gemeint? Ich meine das mit dem Kaninchen.«
Sein Gesicht wirkte plötzlich wie versteinert. »Kaninchen?«
»… ja, das mit dem toten Kaninchen.«
Er schnaubte missbilligend. Schließlich sagte er: »Ich hab keine Ahnung, was er damit gemeint hat«, und zuckte mit den Schultern. »Vielleicht wollte er nur klarstellen, dass nichts ihn aufhalten kann …«
Kirstin hatte das unbestimmte Gefühl, dass er nicht die ganze Wahrheit sprach. Hatte sie unbeabsichtigt seinen wunden Punkt getroffen?
»Aber das kann mir auch egal sein«, fügte er verärgert hinzu. »Für mich ist das nur ein Spiel. Meinetwegen kann er die gesamte Toplist anführen.«
»Sorry«, flüsterte Kirstin.
Überrascht fragte er: »Wofür?«
»Sensibles Thema«, stellte sie fest.
Er verzog den Mund. »Irgendwie schon. Ich halte immer noch an etwas fest, das längst Vergangenheit ist«, sagte er resigniert. »Wenn ich direkt darüber nachdenke – ich bin noch nicht bereit dazu, aufzugeben.«
Kirstin nickte. Ein mildes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Irgendwann wirst du es mir erzählen.«
»Ja, irgendwann.«
Grelle Ringscheinwerfer durchschnitten die Nacht, begleitet von dem kernigen Grollen eines Motors. Ein BMW bog auf dem Schotterweg ein, der zu dem unter ihnen liegenden Parkplatz führte.
»Das ist Mysthunter«, sagte Gernot, drückte noch einmal ihre Hand und stand dann auf.
Kirstin fühlte ein kurzes Bedauern, da ihre Zweisamkeit verstrichen war, und blieb sitzen. Sie sah Gernot nach, als dieser seitlich vom Dach des Tunnels den Hang hinunterkletterte und Mysthunter entgegenging. Sie sah ein weiteres Fahrzeug auf der Hauptstraße am Fuße des Berges, das seine Fahrt verlangsamte. Da es nicht U-cons klappriger Ford war, vermutete sie, dass es sich um Bax handeln musste.
Wie auch immer, dachte sie und kam auf die Füße. The show must go on.