Читать книгу Death Cache. Tödliche Koordinaten - Danise Juno - Страница 9

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Kapitel 5

Gespannt, was ihn erwarten würde, und voller Vorfreude auf ein Wiedersehen mit Kiba bog Michael auf einen Feldweg am Fuße der Erpeler Ley ein. Im Licht der Scheinwerfer zuckte das »Anlieger-Frei«-Schild an ihm vorbei. Die Reifen knirschten auf dem Schotter, als er den Wagen zügig hinaufführte. Der Weg mündete in einen weitläufigen Platz hinter dem Brückenkopf. An dessen Ende sah er das geschlossene Tor des Tunnels, der nach dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung verloren hatte. Er stellte den BMW neben einem schwarzen Jeep Wrangler TJ ab und fragte sich sofort, wem er gehörte. Beinahe gleichzeitig stellte er sich U-con hinter dem Steuer vor, doch das Bild wollte nicht recht passen.

Kaum dass er ausgestiegen war, sah er schon, wie Geopapst sich aus der Dunkelheit löste und auf ihn zuschritt.

»Hey«, sagte der schlicht.

Michael grüßte zurück und rief sich in Erinnerung, dass sie Kollegen waren. Sein Zorn vom Nachmittag war verraucht und er bemühte sich um einen professionellen Umgang. »Ich dachte, ich wäre viel zu früh«, begann er daher zu plaudern. »Ist schon blöd, dass die Fähre nur bis Mitternacht geöffnet ist. Bist du schon lange hier?«, fragte er und hoffte insgeheim, seine Antwort würde nein lauten.

»Seit ungefähr einer halben Stunde. Ich war oben auf dem Tunnel und hab die Aussicht genossen«, sagte Geopapst und wies mit dem Daumen in die Richtung, aus der er gekommen war.

Michael folgte dem Fingerzeig, das Mondlicht brach just in diesem Augenblick zwischen den Wolken hervor. Eine dunkle Gestalt stand auf dem Tunneldach, doch er konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Er zog die Brauen zusammen. »Und wer ist das?«

Gernot folgte seinem Blick. »Kirstin«, sagte er schlicht. »Sie war noch früher hier.«

Michaels Magen tat einen Hüpfer. Sie war schon hier – noch früher als Gernot. Er verzog die Lippen, als er begriff. Er hatte also die Aussicht genossen; zusammen mit ihr. Er fühlte altbekannten Groll in sich aufkeimen. »Kiba heißt Kirstin?«, versuchte er seinen Ärger zu überspielen.

Gernot nickte.

»Lauschiges Plätzchen«, ätzte er, wandte sich ab und ließ seinen Blick über den massiven Fels der Ley schweifen.

Gerade in diesem Augenblick bog ein weiteres Fahrzeug auf den Platz ein und tauchte den Berg in gespenstisches Licht.

»Hast du das schon gesehen?«, fragte Michael überrascht. »Dort oben ist eine Höhle.«

Gernot sah ebenfalls hinauf. »Sieht interessant aus.«

Michael ging zum Heck des BMW, ohne seinen Blick von der Ley abzuwenden und öffnete den Kofferraum. »Ob es einen Weg hinein gibt?«, fragte er, hob seinen Rucksack aus dem Auto und schloss den Deckel.

»Nein, ich glaub nicht«, meldete sich eine Stimme zu Wort. Bax war an sie herangetreten und sagte: »Hallo.«

Sie grüßten zurück.

»Es gibt das Gerücht«, fuhr Bax fort, »… dass man ursprünglich von dem Tunneltheater aus in diese Höhle kommen würde, aber da es keinen öffentlichen Zugang gibt, fürchte ich, dass sich das wohl erledigt hat. Es sei denn …«, er hob vielsagend die Brauen, »… jemand ist so wahnsinnig und klettert.«

»Das wär’ wirklich verrückt«, sagte Gernot und deutete auf den gigantischen Steinhaufen am Fuße der Ley. »Da geht immer noch Geröll ab.«

Michael brummte zustimmend.

»Was ist mit U-con?«, fragte Bax. »Ist der schon angekommen?«

»Ich hab ihn noch nicht gesehen«, sagte Gernot und setzte sich langsam Richtung Tunnel in Bewegung.

Michael schloss sich ihm und Bax an. Gemeinsam folgten sie einem schmalen Trampelpfad, der neben dem Tunnel hinaufführte. Sie lehnten sich gegen den Hang und kraxelten mehr hinauf als zu gehen. Ein paar Minuten später standen sie über dem Gewölbe und genossen den Blick über Vater Rhein in Richtung Remagen.

»Wow, ich staune immer wieder über diesen Dom«, ergriff Bax das Wort.

»Stimmt, die Apollinariskirche sieht grandios aus«, nahm Kirstin sie in Empfang. Und da hinten ist die goldene Meile.« Sie deutete ins Dunkel Richtung Bad Bodendorf. »Schade, dass man im Moment nicht viel sieht.«

»War dort nicht ein Kriegsgefangenenlager?«, fragte Bax.

»Es war nicht nur irgendein Lager«, sagte Kirstin. »Man nennt es auch das Hungerlager. Es gab keine Baracken oder Ähnliches. Die Soldaten haben in Erdlöchern geschlafen, um sich gegen den Regen und die Kälte zu schützen. Sie haben sich buchstäblich in den Boden gewühlt. Manche wurden in diesen Löchern sogar verschüttet. Es muss grausam gewesen sein. Ich habe mal einen Augenzeugenbericht darüber gelesen. Der Mann sprach davon, dass es erst Dauerregen gab und dann quälende Hitze einsetzte und die Männer dort reihenweise verdurstet sind. Einmal sollen ein paar Gefangene ein altes Rübenloch gefunden haben und sind, nachdem sie davon gegessen haben, qualvoll an der Ruhr gestorben.« Sie senkte ihre Stimme zu einem effektvollen Flüstern. »Sie haben gegen die Vergiftung Kohle gegessen und starben mit schwarz verschmierten Mündern.«

Michaels Augen hatten sich inzwischen an die herrschenden Lichtverhältnisse gewöhnt. Die ganze Zeit über hatte er sie angesehen, beobachtet wie ihre Nasenspitze beim Sprechen wippte, ihre Zunge zwischen den Sätzen die Lippen befeuchtete. »Mein Gott«, sagte er, als sie geendet hatte, und meinte damit weniger die Geschichtslektion um die furchtbaren Zustände im Hungerlager als vielmehr Kirstins offenkundige Erotik.

»Man sagt«, fuhr Kirstin unbeirrt fort, »dass die schwarze Madonna in Kripp, von einem Gefangenen aus dem Lehm der goldenen Meile geformt wurde.«

»Woher weißt du so viel darüber?«, fragte Geopapst bewundernd.

Kirstin zuckte die Schultern. »Na, ich bin hier aufgewachsen. So was sollte ich wissen, Gernot. Warst du noch nie im Friedensmuseum im Brückenkopf auf der Remagener Seite? Kann ich nur empfehlen.«

»Weißt du dann auch was über die Brücke? Standen wirklich noch Panzer darauf, als sie zusammengebrochen ist?«

Kirstin zog die Brauen zusammen. »Hm, das weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass der Kampf um die Brücke viele Opfer gefordert hat. Die Deutschen wussten zu dem Zeitpunkt schon, dass es keinen Sieg mehr geben würde. Sie hatten Order, die Brücke zu sprengen, wenn die Amis kommen. Die Sprengung ging schief, die Brücke blieb augenscheinlich unversehrt, und zehn Tage nachdem die Amis sie eingenommen hatten, krachte sie in sich zusammen und stürzte in den Rhein. Ich weiß, dass zu dem Zeitpunkt rund dreißig amerikanische Soldaten auf der Brücke waren. Manche wurden nie geborgen und gelten bis heute als im Rhein vermisst.« Kirstin beugte sich vor und sah hinab auf den Platz, auf dem sie ihre Fahrzeuge geparkt hatten.

»Tragisch dürfte auch die Geschichte um die Zivilisten sein, die hier ihr Leben ließen.«

»Ich dachte, es wären nur Soldaten hier gewesen, als die Brücke eingenommen wurde«, sagte Michael.

Kirstin deutete zu den Lichtern zu ihrer Rechten. Das ist Erpel. Der Ort wurde zu gut fünfzig Prozent zerbombt. Die Einwohner flohen vor den Angriffen der Alliierten in den Eisenbahntunnel und in die Mariengrotte und richteten sich hier notdürftig ein. Als die Amerikaner kamen, waren zwischen vierhundert und fünfhundert Zivilisten hier. Ein Mann wurde hier mit der weißen Fahne in der Hand verwundet und starb zwanzig Stunden später an seinen Verletzungen, weil kein Arzt aufzutreiben war. Wir könnten also eben auf genau der Stelle gestanden haben, wo Willi Felten vor fünfundfünfzig Jahren starb.« Kirstin schauderte. »Schon irgendwie gruselig, sich so was vorzustellen.«

Michael betrachtete Kirstin mit Respekt. Sie war nicht nur aufregend schön, sondern bestach obendrein durch ihre Intelligenz. Eine vorzügliche Mischung. Wenn er doch nur mit ihr allein wäre …

Er wurde aus seinen Grübeleien gerissen, als er den Motor eines Fahrzeuges hörte, das den Weg auf den Schotterplatz fand. »Ein Taxi?«

Die Innenbeleuchtung brannte auf und jemand zahlte. Dann stieg die Person aus.

Kirstin sah auf die Uhr. »Ein bisschen spät, U-con«, sagte sie mehr zu sich selbst und kramte in ihrem roten Rucksack. Sie schnallte eine Stirnleuchte um ihren Kopf, schloss den Reißverschluss und richtete sich auf. Den Rucksack geschultert ging sie an ihnen vorbei auf die Ley zu und sah hinunter Richtung Parkplatz.

Das Taxi entfernte sich. U-con kletterte den Pfad hinauf und kurze Zeit später stand er neben ihr.

Es überraschte Michael nicht, dass U-con zwar aufrecht stand, aber wenig fit wirkte. Jede einzelne Pore dünstete den Alkohol aus.

Gernot warf einen Blick auf sein GPS, Bax hakte sich sein Gerät an den Gürtel und setzte sich ebenfalls eine LED-Stirnlampe auf. Kirstin schaltete ihre Leuchte ein und wechselte ein paar Worte mit U-con, der lediglich nickte.

Auch Michael bereitete alles vor. Den Rucksack fest um die Hüfte geschnallt, die Stirnlampe eingeschaltet, das Garmin in der Hand. Er war bereit.

»Kann es losgehen?«, fragte Kirstin und musterte ihn.

»Klar«, sagten sie einstimmig.

Dann kam Bewegung in die Gruppe. Geopapst wandte sich zuerst dem Hang zu und begann hinaufzuklettern.

Kirstin folgte ihm und rief zurück: »Nun kommt schon, genug Geschichtsunterricht. Jetzt beginnt der spaßige Teil.« Sie kletterte ohne einen Anschein von Mühe an Gernot vorbei.

U-con blieb schweigsam und nahm gleich hinter Bax den Hang in Angriff, während Michael im wahrsten Sinne des Wortes das Schlusslicht bildete.

Der Schein der Stirnlampen huschte gespenstisch über das Geröll. Äste und Zweige lösten sich aus den dunklen Schatten der Bäume. Kein Laut von Zivilisation drang zu ihm, nur ihr angestrengtes Schnaufen und ihre schweren Schritte hallten ihm in den Ohren. Der Boden gab unter seinem Gewicht nach, er rutschte ein Stück abwärts, jedoch gelang es ihm, sich Halt suchend an einen Baum zu klammern. Der direkte Weg hinauf war zu steil, daher wanden sie sich im Zickzack den Hang hinauf. Zu seiner Rechten tat sich ein gähnender Abgrund auf, an dessen Boden er etwas Metallisches ausmachen konnte. Er leuchtete mit seiner Lampe hinunter und staunte nicht schlecht. Er erkannte ein altes Fahrradwrack, das zwischen Tonnen von Felsbrocken lag. Er fragte sich, wie es wohl dort hingekommen sein mochte. Wahrscheinlich hatte es jemand kurzerhand von oben entsorgt. Aus den Augen, aus dem Sinn. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, als sie endlich den letzten Anstieg mit Hilfe eines Seils überwunden hatten, das vermutlich der Owner vorsorglich an dieser Stelle befestigt hatte.

Der Pfad mündete in einer Ebene, die etwa drei Viertel unterhalb des Gipfels lag. Rechts sah Michael die Steilwand mit der Höhlenöffnung, die schwach vom Mondlicht beleuchtet wurde. Sie gingen um eine Felsnase herum. Die Ley umschloss sie in einem Dreiviertelkreis.

Die nackten Wände schossen vor ihnen auf bis zum Gipfel. Links fiel der Berg ab, hinunter nach Erpel. Hinter ihnen lag der Rhein. Michael runzelte die Stirn. Der Kreis der Felswand schien so gleichförmig, dass er den Verdacht hegte, er könne keines natürlichen Ursprungs sein. Vielleicht war es ein ehemaliger Bombenkrater.

Kaum gedacht sprach Bax seine Vermutung laut aus.

Kirstin nickte. »Kann schon sein«, sagte sie. »Die deutschen Truppen lagen hier. Es würde mich jedenfalls nicht wundern.«

Neugierig wanderten sie zwischen den Felsen umher und sahen sich um. Michael suchte nach alter Munition oder irgendwelchen Hinweisen, dass hier einst die Soldaten gelegen haben könnten. Eine Windböe verfing sich in den Baumkronen, wisperte durch den Bombenkrater und Michael hatte plötzlich das Gefühl als könnte jeden Augenblick ein Angriffssturm der Alliierten über ihn hereinbrechen. Der Gedanke an Kirstins Ausführungen und die vom Fels zurückgeworfenen Geräusche der anderen verstärkte den Eindruck noch, sodass sich ihm unwillkürlich die Nackenhaare sträubten. Neben einem Baumstumpf sah er einen silbernen Gegenstand, bückte sich und hob ihn auf. In der offenen Hand hielt er die leere Hülse einer Signalpatrone. Sie war in keiner Weise angelaufen. Das schien dafür zu sprechen, dass sie eher neueren Datums war, doch sicher war er sich nicht.

Niemand sagte etwas und für einen Augenblick glaubte er schon, allein zu sein. Er ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe suchend über die Ebene gleiten. Gernot stand etwas unterhalb an der Felswand und schien sich irgendetwas genauer anzusehen. Ob er den Cache schon gefunden hatte?

Kirstin schien die Felsnase abzusuchen, doch sahen ihre Bemühungen halbherzig aus. Ob sie schon hier gewesen war, wusste, wo die Dose lag und sich absichtlich zurückhielt?

Bax saß auf einem Baumstumpf, hatte einen Schuh ausgezogen und schüttelte ihn über dem Boden aus.

U-con lehnte am Felsen und versuchte offensichtlich zu Atem zu kommen.

Wieder glitt seine Taschenlampe hinüber zu Gernot, der sich jedoch auf den Weg zu Kirstin machte und sein Garmin in der Hand musterte. Michael stutzte. Als Gernot von seinem GPS aufsah und seinen Blick auf Kirstin richtete, umspielte ein Grinsen seinen Mund. Warum zum Teufel grinste er?

Er schaute auf sein eigenes Garmin und peilte die Koordinaten des Caches an. N50°34.941 E007°14.695. Er lag eindeutig ganz in ihrer Nähe. Michael beeilte sich, zu Gernot und Kirstin aufzuschließen.

Auch Bax war wieder auf den Beinen. »Und?«

»Es muss hier irgendwo sein«, sagte Kirstin.

U-con begann halbherzig einen Brocken nach dem anderen umzudrehen. Bax fuhr mit der Hand in verschiedene Spalten. Alle suchten nach der Dose.

Mit dem GPS in der Hand folgte Gernot der Felswand zurück zur Nase, um gleich darauf wieder auf dem Absatz kehrtzumachen. Sein Blick wanderte nach oben. Mit einem Satz sprang er an der Wand hoch, fasste mit der rechten Hand einen kleinen Vorsprung, zog den linken Fuß nach und kletterte mit einem Tempo hinauf, dass Michael die Augen verdrehte. Angeber, dachte er, und sein Blick glitt hinüber zu Kirstin.

Sie ließ Gernot nicht aus den Augen, die Lippen leicht geöffnet, bevor diese sich wenige Augenblicke später zu einem Lächeln verzogen.

Geopapst stand in Schwindel erregender Höhe auf der Felsnase. »Wow«, rief er. »Was für eine Aussicht. Kommt rauf, das müsst ihr sehen.«

Bax grinste. »Nicht schlecht.«

»Guter Riecher«, sagte Kirstin und blickte zu Michael.

Er fühlte sich ertappt, da er sie die ganze Zeit über angestarrt hatte. Ihre Worte trafen ihn. Geopapst war eindeutig besser als er selbst, der Mysthunter. Zum Kotzen.

Bax begann, Geopapst nachzuklettern. Weitaus langsamer und vor allem umsichtiger.

»Geht ihr ruhig«, brummte U-con und winkte ab. Er setzte sich auf einen abtrünnigen Felsen.

Michael glaubte, Kirstin die Stirn runzeln zu sehen, doch sicher war er sich nicht, da die Stirnlampe ihr Gesicht in ein reges Spiel aus Licht und Schatten tauchte. Einen Moment später war der Eindruck auch schon vorüber und sie machte Anstalten, den anderen auf die Felsnase zu folgen.

Kirstin stellte sie allesamt in den Schatten. Sie nahm wenige Schritte Anlauf, lief parallel zum Berg, stieß sich vom weichen Waldboden ab und vollführte im Sprung eine Vierteldrehung. Sie hatte bereits einen Spalt erwischt, nutzte offenkundig ihren eigenen Schwung und drückte sich höher hinauf. Es folgte ein beherzter Griff nach der Oberkante und einen Augenblick später zog sie sich vollends hinauf, ohne Gernots angebotene Hand entgegenzunehmen.

Geopapst sah verblüfft aus.

Michael zögerte einen Augenblick. Er durfte sich jetzt auf keinen Fall anstellen wie ein Trottel. Er musterte die Felswand mit Respekt. Schließlich begann auch er den Aufstieg.

»Kommst du?«, fragte Gernot und Michael hätte schwören können, dass er einen spöttischen Unterton heraushören konnte. Die altbekannte Flamme regte sich in seinem Inneren.

Gernot sah zu ihm herab. Oder sah er auf ihn herab? In diesem Moment spiegelte sich der Mond in Gernots Augen und legte ihm eine Gehässigkeit in den Blick, dass Michaels Blut in Wallung geriet. Dieses selbstgefällige Grinsen wird dir noch vergehen, dachte er und schäumte vor Wut. Für einen Augenblick vergaß er alle Vorsicht. Er hastete die letzten Meter hinauf. Kurz unter der Spitze setzte er seinen Fuß auf einen schmalen Vorsprung, wuchtete sich hoch, fasste nach der Oberkante und verfehlte sie um Haaresbreite. Der Stein löste sich aus dem Felsen, sein Fuß rutschte mit ihm. Er stieß einen erschrockenen Schrei aus, versuchte nachzufassen, griff jedoch ins Leere. Eine warme, kräftige Hand schloss sich um die Seine. Michael hing in der Luft und schlug heftig gegen den Fels. Ein stechender Schmerz in der Seite ließ ihm die Luft aus den Lungen weichen. Um ein Haar hätte er losgelassen.

»Scheiße, was machst du?«, presste Gernot hervor und seine Stimme zitterte vor Anstrengung. Michael sah ihm direkt in die Augen. Sie waren vor Schreck geweitet, keine Spur von Gehässigkeit. Er sah darin aufrichtige Sorge. Schweißperlen standen Gernot auf der Stirn, die Muskeln angespannt, die Sehnen seiner Arme traten deutlich hervor. Er biss die Zähne zusammen.

Bax tauchte neben Gernot auf und sah über den Rand zu ihm hinab. Er streckte ihm seinen Arm entgegen. »Hier, nimm meine Hand«, rief er aufgeregt.

Michaels Erstarrung löste sich, als auch Kirstin neben die beiden trat und ihn gespannt beobachtete.

Er zwang den Schmerz nieder, nahm mit den Beinen Schwung, pendelte gefährlich über dem Abgrund und Gernot entfuhr ein Stöhnen. Noch einmal schwang er zur Seite und hieb sein Bein auf einen schmalen Grad. Er stieß sich kraftvoll nach oben ab und bekam Bax’ Hand zu fassen. Gernot und Bax zogen wie auf Kommando und Sekunden später stand er neben ihnen auf der Felsnase. Er sackte zusammen.

»Schwein gehabt«, stellte Kirstin erleichtert fest.

Bax beugte sich zu ihm herunter und klopfte ihm auf die Schulter. »Alles klar?«, fragte er.

Michael hustete und fasste sich mit der Hand an die Rippen. Seine Finger wurden augenblicklich feucht und er atmete zischend ein. Er hob die Hand vor die Augen. Frisches Blut hatte sie tiefrot gefärbt. »Scheiße«, presste er durch die Zähne und krümmte sich vor Schmerz.

»Lass sehen«, sagte Gernot, der vor ihm in die Knie ging.

Diese Blöße konnte er sich auf keinen Fall geben. Er zwang sich dazu, sich aufzurichten und biss die Zähne so fest aufeinander, dass sie knirschten. Ein wenig mehr und sie wären zu einem weißen, klebrigen Brei zerfallen. Froh, ein dunkles Shirt zu tragen, wischte er sich die blutverschmierte Hand daran ab, dehnte seinen Oberkörper den schmerzenden Rippen entgegen und bereute es augenblicklich, als ein weiterer stechender Schmerz durch seinen Torso raste. Nebel trat vor seine Augen. Er strauchelte. Gernot hielt ihn, doch er drehte sich von ihm weg, als hätte er sich an seinem Arm verbrannt. »Geht schon«, presste er hervor. »Ich bin mit der Seite gegen den Fels gekracht.«

»Die Rippen?«, fragte Bax.

Es hatte keinen Sinn es zu leugnen. Ein Blick hinunter auf die Ebene machte ihm klar, dass er ohne ihre Hilfe nicht würde hinunterklettern können. Die Rippen waren gebrochen, dessen war er sich sicher. Das Blut an seiner Hand ließ Schlimmes vermuten. Innerlich fluchend ergab er sich seinem Schicksal. »Ich fürchte, ich hab sie mir gebrochen, als ich gegen den Fels geschlagen bin«, sagte er zu Bax gewandt. »Ich blute«, fügte er nach kurzem Zögern hinzu.

»Wie bitte?« Kirstin wurde aufmerksam. »Was heißt das, du blutest?«

Michael schob seine Hand auf die schmerzende Stelle und zog sie wieder zurück. Er hielt die blutverschmierten Finger unter Kirstins Nase und drehte sie so, dass ihre Stirnlampe das ganze Ausmaß erfasste.

Kirstin erschrak. »Ach du scheiße«, entfuhr es ihr. Sie packte nach seinem Arm und hob ihn sanft in die Höhe. Vorsichtig tastete sie seine Seite ab.

»Au, verdammt«, fluchte er und verzog das Gesicht.

»Sorry«, sagte sie, hielt jedoch nicht ein.

»Bist du Ärztin oder was?«, fragte er gequält.

»Pflegerin«, antwortete sie. »Also halt still.«

Michael ließ die Tortur über sich ergehen und malträtierte seine Zähne.

»Zwei Rippen gebrochen, fürchte ich. Eine steht nach außen ab. Sie ist durch die Haut geschlagen, aber wieder drin.« Sie senkte seinen Arm und sah ihm tief in die Augen. »Ab ins Krankenhaus.« Sie wandte sich an U-con, der das Treiben von unten beobachtet hatte. »Hast du deine Kletterausrüstung dabei?«

»Sicher«, antwortete dieser und zog sich den Rucksack von den Schultern. Er kramte ein Seil hervor und warf es nach oben.

Geschickt fing Kirstin es auf. Sie bedeutete Michael, sich auf den Boden zu setzen. Diese Geste duldete keinerlei Widerspruch. »Gernot, such die Box, damit wir wenigstens nicht umsonst hier waren. Bax, schau mal, wo wir am besten mit ihm runterkommen«, sagte sie und gab ihm das Seil.

Beide taten wie geheißen. In diesem Augenblick strahlte diese kleine, zierliche Person eine solche Autorität aus, dass alle ihr wie selbstverständlich folgten. Niemand stellte Kirstins Anweisungen in Frage.

Sie zog den Rucksack aus und holte ein Erste-Hilfe-Pack heraus. Sekunden später hielt sie Bandagen in der Hand. »Ich muss deinen Oberkörper stützen«, sagte sie zu Michael. Wartend hockte sie vor ihm.

Michael sah sie fragend an.

Kirstin lächelte und rümpfte spöttisch einen Nasenflügel. »Wie wär’s, wenn du dein T-Shirt hochheben würdest?«, schlug sie vor.

»Oh«, entfuhr es ihm. »Klar.« Vorsichtig tat er wie verlangt. Während sie ihn bandagierte, beobachtete er sie genau. Ihre Haare dufteten leicht nach Erdbeeren, und als sie kurz aufsah, lächelte er und versank in ihren wunderschönen Augen. Enttäuschung überfiel ihn, als sie sich wieder den Bandagen widmete.

»So, das dürfte halten, Mysthunter«, sagte Kirstin, versuchte testweise die Finger zwischen den Verband zu schieben und nickte dann zufrieden.

»Michael«, korrigierte er.

»Ok, dann Michael«, sagte sie.

Gernot trat zu ihnen. »Ich hab den Cache«, sagte er. »Und?«, erkundigte er sich.

»Ich bin beinahe fertig«, sagte Kirstin.

Gernot trug seinen Namen in das Logbuch ein.

»So, das hätten wir«, sagte Kirstin schließlich und richtete sich auf.

Er reichte ihr die Dose.

Warum ihr und nicht mir?, fragte sich Michael, sagte jedoch nichts.

Kirstin nahm die Dose entgegen. »Bax!«, rief sie.

»Ich bin hier. Moment!«, meldete er sich von etwa sechs Metern Entfernung.

»U-con!«, rief Kirstin, verschloss die Dose und warf sie nach einer knappen Antwort zu ihm hinunter.

Trotz seines Zustands fing er sie auf, wandte sich kurz ab, um sich ins Logbuch einzutragen und warf sie anschließend wieder zu ihnen herauf.

Bax trat in den Schein ihrer Stirnleuchte, nahm die Dose entgegen, trug sich ebenfalls als Finder ein und gab dann das Logbuch an Michael weiter. Er trug sich unter den anderen ein und reichte es zurück an Kirstin.

Auch wenn sie sich offensichtlich als Letzte eintragen wollte, wusste Michael, auf welchem Platz er stand. Vor ihm standen Geopapst, U-con und Bax – er, der Loser, kam am Ende der Reihe. Er war alles andere als legendär. Michael lachte bitter in sich hinein. Ich werde euch noch zeigen, mit wem ihr es zu tun habt … Ihm wurde klar wie zynisch das war. Er konnte sich darüber aufregen wie er wollte. Fakt war, dass er auf sie angewiesen war. Unfälle können passieren. So ist das Leben. Zuerst musste er ins Krankenhaus, und wenn seine Rippen wieder die Alten waren, dann würde die erneute Aufholjagd beginnen, denn bis dahin würde Gernot wieder einen guten Vorsprung haben, dessen war er sich sicher.

Kirstin warf einen kurzen Blick ins Logbuch, schrieb ihren Cachernamen hinein und sah dann die Dose nach etwas Brauchbarem durch, entschied sich aber dagegen, etwas zu entnehmen. Stattdessen zog sie einen kleinen Gegenstand aus dem Rucksack und legte ihn hinein. Sie verschloss den Cache und reichte ihn Gernot, der loszog, um die Dose wieder an ihrem Platz zu verstecken.

Bax deutete auf einen Punkt am Ende des Felsgrats. »Da drüben kommen wir mit ihm runter.«

»Ok, dann wollen wir dich mal abseilen und ins Krankenhaus bringen«, sagte Kirstin und bedeutete Bax, Michael auf die Beine zu helfen. Sie reichte Gernot ihren Autoschlüssel. »Machst du den Wrangler klar? Es wäre am besten, wenn wir ihn liegend transportieren.«

Michael bemerkte wie sich beide ansahen. Wie lange waren sie allein gewesen? Lief da schon was?

»Ok«, brach Gernots Antwort in Michaels Gedanken und er sah ihn ohne Seil hinab klettern. Kaum, dass er auf dem Plateau angelangt war, verschwand er auch schon außer Sicht.

Death Cache. Tödliche Koordinaten

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