Читать книгу Erinnerungen an Kurt Cobain - Manny Rosenfeld, Danny Goldberg M. - Страница 6
ОглавлениеIm Herbst 2011, während der kurzen Blütezeit von Occupy Wall Street, besuchte ich eines Nachmittags das Basislager der Bewegung, den Zuccotti Park in New York City. Ich war schon fast wieder auf dem Weg nach draußen, als mich ein kleiner, tätowierter Teenager mit gepiercter Augenbraue schüchtern ansprach und fragte, ob ich mich mit ihm fotografieren lassen würde. Damals besuchten viele Prominente das Occupy-Zeltdorf, und ich wandte ein, dass er mich wahrscheinlich mit irgendjemandem verwechselte, aber er schüttelte den Kopf und beharrte: „Ich weiß, wer Sie sind. Sie haben mit Kurt Cobain gearbeitet.“
Unwillkürlich fragte ich mich, ob er überhaupt schon auf der Welt gewesen war, als Kurt sich 17 Jahre zuvor getötet hatte. Was hatte Kurts Musik an sich, dass sie nach so langer Zeit diesen Jugendlichen so berührt hatte? Erfahrungen wie diese Begegnung kennt jeder, der einmal mit Kurt gearbeitet hat. Es ist, als würden seine Anhänger durch die bloße Begegnung mit jemandem, der mit Kurt zu tun hatte, etwas von seinem Geist spüren und sich dann weniger einsam fühlen.
Allerdings ist Kurts Vermächtnis letztlich genau so widersprüchlich, wie er selbst es zu Lebzeiten war. Als ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, tippte ich den Namen „Kurt Cobain“ in das Suchfeld bei Amazon ein. Neben Postern, Gitarrenplektren, Büchern, Vinyl, Videos und T-Shirts gab es eine „dunkle, ovale, von Kurt Cobain inspirierte Nirvana-Sonnenbrille“, einen Fleece-Bettüberwurf mit Kurt-Cobain-Motiv, ein Kurt-Cobain-Taschenfeuerzeug, einen Abdruck von Kurts Führerschein, eine Pillendose aus Edelstahl, auf deren Deckel Kurt beim Gitarrespielen aufgedruckt war, und eine „Kurt Cobain Unplugged Actionfigur“. Besonders großartig fand ich einen Autoaufkleber mit der Aufschrift: „Ich führe keine Selbstgespräche, ich rede mit Kurt Cobain“. Schade, dass es keinen Sticker gab, laut dem Kurt mit mir gesprochen hätte – den hätte ich sofort gekauft.
Bei der Arbeit an diesem Projekt war mir stets bewusst, dass Kurt mit großem Interesse verfolgt hatte, was über ihn in der Presse stand. Er beklagte sich über Musikjournalisten, die seine Psyche zu analysieren versuchten, und er fand es grässlich, wenn seine Kunst lediglich als gebrochene Spiegelung seiner persönlichen Lebenssituation interpretiert wurde. Dennoch gab er viele hundert Interviews, um das Image, das er für die Band vorsah, so deutlich wie möglich zu transportieren.
Sein künstlerisches Vermächtnis und sein tragischer Selbstmord schufen eine Persönlichkeit, die wie ein Rorschach-Test funktioniert: Wer Kurt kannte, hebt heute meist vor allem jene Aspekte seines Lebens hervor, die das einmal von ihm gefasste Bild stützen. Ich bin da keine Ausnahme. Ich verdanke ihm viel, was meine eigene Karriere betrifft, ich war einer seiner Manager und ein Freund. In meinem Büro betrachte ich oft ein gerahmtes Foto von uns beiden, auf dem er so ein gewisses Funkeln in den Augen hat, dessen Essenz ich mir immer wieder in Erinnerung zu rufen versuche.
Mit der Erinnerung ist es so eine Sache. Viele Details habe ich vergessen. Courtney ging es offenbar ähnlich: Ich hatte mich gerade mit ihr in Verbindung setzen wollen, um meinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen, als sie, nachdem sie mit dem Schreiben ihrer Memoiren begonnen hatte, sich aus genau dem gleichen Grund bei mir meldete. 25 Jahre sind eine lange Zeit, und wir werden alle nicht jünger. Eines der größten Probleme besteht für mich darin, dass es sich manchmal schwer feststellen lässt, wo die allgemein bekannte Geschichte endet und wo meine persönliche Erinnerung beginnt. So viele Fakten aus Kurts Leben sind inzwischen in Büchern, Filmen, YouTube-Clips, Box-Sets und Artikeln dokumentiert. Im Internet, das zu Kurts Lebzeiten kaum eine Rolle spielte, findet man heute Seiten mit Set-Listen von fast allen Konzerten, die Nirvana jemals gaben, oft sogar ergänzt um Niederschriften dessen, was die Musiker auf der Bühne zwischen den Songs zueinander sagten.
Einige Ereignisse konnte ich aus meinen Unterlagen rekonstruieren, und davon abgesehen half es mir sehr, mit anderen zu sprechen, mit denen ich in der Zeit meiner Zusammenarbeit mit Kurt zu tun hatte. Wie ich feststellte, hatten viele Leute, die ich deswegen kontaktierte, einerseits große Gedächtnislücken, andererseits einige sehr lebendige, konkrete Erinnerungen, die sie jahrelang als Relikte aus Kurts und ihrem Leben bewahrt hatten. Mir geht es ähnlich; über einigen Stellen meines Gedächtnisses liegt ein vager, impressionistischer Nebel, aber einige Momente stehen mir noch mit beinahe filmischer Klarheit vor Augen. Dennoch sind einige dieser Geschichten durch jahrelanges Weitererzählen inzwischen zu Legenden geworden, und einige Male musste ich feststellen, dass die Lieblingsanekdote eines Bekannten im Widerspruch zu meiner eigenen Erinnerung oder der eines anderen stand.
Abgesehen von dem Eindruck, den er auf Millionen Fans machte, hat Kurt in seinem kurzen Leben Hunderte von Menschen auch persönlich tief berührt. Selbst nach einem Vierteljahrhundert bestehen vielfach noch die alten Gräben – beispielsweise zwischen einigen von Kurts alten Freunden aus den Anfangstagen von Nirvana und Kontakten, die später mit ihm arbeiteten (so wie ich), oder zwischen jenen, die Courtney negativ gegenüberstanden und anderen, die sie mochten (so wie ich). Die meisten, mit denen ich zu meiner Nirvana-Zeit zu tun hatte, waren gern bereit, ihre Erinnerungen an Kurts Leben und seinen Tod zu teilen, aber einige lehnten das auch ab, weil es für sie noch immer zu schmerzhaft war.
Dabei kann ich sie nur zu gut verstehen. In den ersten Jahrzehnten nach seinem Selbstmord mied ich Bücher und Filme über ihn. Erst vor kurzem begann ich, mich intensiv mit jeglichem Material zu beschäftigen, das mir in die Hände fiel. Einige Berichte konzentrieren sich auf die Scheidung seiner Eltern, seine anschließend so unglückliche Kindheit und die Beharrlichkeit, mit der er versuchte, sich im amerikanischen Nordwesten Ende der 1980er Jahre einen Namen zu machen. Kurt selbst hatte mir mehrmals erzählt, wie sehr er sich von seinen Eltern verlassen und wie einsam er sich als Kind gefühlt hatte, aber ich habe den Schilderungen seiner frühen Jahre wenig hinzuzufügen, und ich habe mich bei meiner Recherche nur an Leute gewandt, mit denen ich während meiner Zusammenarbeit mit Kurt in Kontakt stand. Als Kurt und ich uns begegneten, begannen Nirvana schon kurz darauf mit der Arbeit an Nevermind, jenem Album, das die Band nach seinem Erscheinen im September 1991 zu internationalen Superstars machte.
Dieses Buch ist eine subjektive Beschreibung der Zeit, in der ich mit ihm verbunden war, dieser letzten dreieinhalb Jahre seines Lebens, als Kurt Cobain die Werke schuf, für die er heute noch bekannt ist. Nach meiner Auffassung umfasst sein künstlerischer Nachlass weit mehr als Nirvanas größte Hits; ich bin fest davon überzeugt, dass ihm ein Platz auf den obersten Rängen der Rock-Hierarchie gebührt. Anderen Musikern gegenüber war er zudem stets sehr großzügig, und seine Rolle als Person des öffentlichen Lebens nahm er ungewöhnlich ernst. Persönlich war er mir gegenüber sehr freundlich, sowohl im direkten Kontakt als auch auf anderen Ebenen, die sich gar nicht in Worte fassen lassen.
Viele aus Kurts direktem Umfeld empfinden heute noch Zorn darüber, dass er Selbstmord beging. Das respektiere ich, aber ich denke anders darüber. Ich vermisse ihn, und ich werde mich ewig fragen, ob ich irgendetwas hätte tun können, um seinen frühen Tod zu verhindern. Aber soweit ich sagen kann, gibt es weder in der Medizin noch in spirituellen Traditionen oder den Werken großer Philosophen eine Erklärung dafür, weswegen manche Menschen ihr eigenes Leben willentlich beenden und andere nicht. Während des bittersüßen Prozesses, mich an sein Leben und sein Werk zu erinnern, bin ich immer stärker zu dem Schluss gelangt, dass sein Selbstmord kein moralisches Versagen darstellte, sondern auf eine psychische Erkrankung zurückzuführen war, die weder er noch jemand in seinem Umfeld erfolgreich behandeln oder heilen konnte. („Erkrankung“ verwende ich hier nicht wie ein Arzt, sondern als Platzhalter für eine Macht, die meiner Meinung nach von niemandem kontrollierbar war.)
Ich zählte nicht zu denen, mit denen Kurt Musik machte, ich teilte auch seine tiefe Verwurzelung im Punk Rock nicht, und wir nahmen auch nie gemeinsam Drogen. Dennoch arbeitete ich mit ihm an dem wichtigsten Kreativ-Projekt seines Lebens, einem Werk der internationalen Popkultur, das den Rock völlig umkrempelte und für viele seiner Fans auch das Männlichkeitsbild neu definierte.
Trotz der elenden Zustände, in denen er in seinen schlimmsten Zeiten lebte, und der grotesken Realität seines Todes erinnere ich mich größtenteils auf eine beinahe romantische Art und Weise an Kurts kreative und idealistische Seite. Es gab mindestens eine Begebenheit, bei der ich diesem Impuls blindlings nachgab und dabei viel zu wenig Rücksicht auf die Trauer und die Empfindungen anderer Freunde nahm. Ich hielt die letzte Trauerrede bei der privaten Beerdigungsfeier, die Courtney organisiert hatte, nachdem sein Leichnam gefunden worden war. In Nirvana – Die wahre Geschichte schrieb der britische Rock-Journalist Everett True darüber: „Danny Goldberg hatte bei Kurts Beerdigung eine Rede gehalten, die mir genau vor Augen geführt hatte, wieso der Sänger die Waffen gestreckt hatte. Die Rede hatte nichts mit der Realität oder mit dem Mann, den ich gekannt hatte, zu tun. Er beschrieb Kurt darin als Engel, der in menschlicher Gestalt auf die Erde kam, der für dieses Leben zu gut war, und das war der Grund, weshalb er nur so kurze Zeit bei uns sein konnte. So ein ausgemachter Blödsinn! Kurt war so nervig und schlecht gelaunt und angriffslustig und ungezogen und lustig und langweilig wie wir alle.“
Kurz, nachdem sein Buch erschien, begegneten Everett und ich uns bei einer Musikbusiness-Konferenz in Australien, und wir stellten fest, dass wir mehr gemeinsam hatten als erwartet, was unsere Gefühle für Kurt betraf. Dennoch ist mir bewusst, dass meine Trauerrede einigen anderen ähnlich übel aufgestoßen war wie ihm.
Ich denke, die verschiedenen Sichtweisen enthalten alle einen Teil der Wahrheit. Kurt war eine mehrfach gespaltene Persönlichkeit. Er litt an Depressionen, er war ein Junkie und ein schöpferisches Genie. Er konnte beißend sarkastisch sein oder in tiefe Verzweiflung verfallen, aber er hatte auch eine ausgesprochen romantische Seite und war sehr überzeugt von der Qualität seines Werks. Kurt war ein bisschen schlampig und chaotisch und hatte sich einen gewissen Blödel-Humor erhalten. Er mochte noch immer denselben Junkfood, den er als Kind gegessen hatte, und er liebte es, den ganzen Tag im Schlafanzug herumzulaufen. Aber seine Gammler-Erscheinung lenkte oft von dem ausgeprägten Intellekt ab, den er besaß.
Mark Kates von Geffen Records, der dort zu den Mitarbeitern zählte, die den engsten Kontakt zu Kurt pflegten, sprach aus, was viele dachten, als er mir mit bewegter Stimme anvertraute: „Zwei Dinge werden bei Kurt oft vergessen. Zum einen, dass er sehr witzig war. Und zum anderen, dass er unglaublich klug war.“
Kurt verachtete Menschen, die ihn nicht respektierten, und er konnte schlecht gelaunt und unangenehm sein, wenn er Schmerzen hatte, aber meistens verströmte er eine Freundlichkeit, wie man sie bei Genies oder Stars selten findet. Die meiste Zeit war er, wenn ich das so sagen darf, ein netter Kerl.
Das besagte Foto von Kurt und mir, das ich immer wieder ansehe, entstand am 6. März 1992 bei einem Konzert, das zwei seiner Lieblingsbands, Mudhoney und Eugenius, im Palace in Los Angeles gaben. Nevermind, das Album, das Nirvana den großen Durchbruch beschert hatte, war im September 1991 erschienen, und in den fünfeinhalb Monaten, die seitdem vergangen waren, war die Popularität der Band mit einem solchen meteorischen Knall explodiert, wie man ihn in der Musikgeschichte kaum jemals erlebt hatte. Auf einzigartige Weise hatten Nirvana die Energie des Punk und die Anti-Establishment-Haltung der Sex Pistols mit Pop-Melodien verschmolzen, und das genau in dem Augenblick, als sich das Rock-Publikum der ganzen Welt genau nach so etwas sehnte. Kurt gab sich in Interviews oft überkritisch und verglich beispielsweise die Pop-Anteile in seinem Songwriting mit den Bay City Rollers, The Knack oder Cheap Trick, aber ich glaube, in Wahrheit ahmte er vor allem die Beatles nach.
Seit die erste Singleauskopplung aus diesem Album, „Smells Like Teen Spirit“, wenige Wochen zuvor erstmals im Radio gespielt worden war, hatte sich für die Band die gesamte Realität auf surreale, abrupte Weise gewandelt. Zu Beginn ihrer Karriere hatten Punk-Ethos und Sparsamkeit ihr Leben beherrscht, und jetzt reisten sie plötzlich nicht mehr im Transporter, sondern mit dem Flugzeug, und sie schliefen in Hotels anstatt bei Freunden auf dem Sofa. Wenn sie jemanden neu kennenlernten, betrachtete der sie als Star und nicht als verkrachte Existenzen.
Vielleicht hatte Bruce Springsteen zwanzig Jahre zuvor etwas ähnliches erlebt, als ihn Born To Run auf die Titelseiten von Time und Newsweek katapultierte und über Nacht berühmt machte, aber selbst beim Boss dauerte es noch einige Jahre, bis er mit The River tatsächlich ein Nummer-1-Album verbuchen konnte und ihm „Hungry Heart“ den ersten echten Pop-Hit bescherte. Bei Nirvana stellten sich Kritikerlob und Pop-Erfolg zur gleichen Zeit ein, und das war umso bemerkenswerter, da die Band aus der in den USA recht kleinen Punk-Szene stammte, für die sich die amerikanischen Rock-Fans in der Regel nicht besonders interessierten.
Musiker bestimmen ihren kulturellen Einfluss stärker selbst als andere Künstler. Von wenigen Einzelfällen in der Autorenfilmszene abgesehen, sind Schauspieler abhängig von den Drehbüchern anderer. Selbst die größten Filmstars, Schriftsteller und Maler haben nicht die Gelegenheit, Abend für Abend vor Tausenden von Bewunderern zu stehen oder sich so unmittelbar in die Köpfe ihrer Fans zu schleichen, wie es bei einem Hit geschieht. Daher ist der Begriff „Rockstar“ von einer besonderen, kraftvollen Qualität. Da Kurt jener seltene Typ Rockstar war, der nicht nur Sex-Appeal oder Unterhaltung verkörperte, sondern noch etwas anderes, betrachteten ihn viele Journalisten und Fans geradezu als Heilsbringer. Es war eine destruktive Sinnestäuschung, die aber auch ihre Vorteile hatte. Kurt war stolz auf das, was die Band erreicht hatte, und es war eine Erleichterung, dass er sich zum ersten Mal in seinem Leben nicht mehr ständig Sorgen um Geld machen musste.
An dem besagten Abend genoss es Kurt, einmal wieder nur Fan zu sein. Mudhoney zählten zu seinen Lieblings-Bands aus Seattle, und er war mit dem Leadsänger, Mark Arm, befreundet. Auch mit Eugene Kelly von Eugenius (die sich früher einmal Captain America genannt hatten, aber von Marvel Comics dazu gezwungen worden waren, ihren Namen zu ändern) verband ihn ein herzliches Verhältnis. Kelly hatte für seine frühere Band, The Vaselines, den Titel „Molly’s Lips“ geschrieben, den Nirvana auf einer frühen Single gecovert hatten. Noch ein Jahr zuvor hatte Kurt zu Arm und Kelly aufgesehen, aber jetzt war er so etwas wie ihr erfolgreicher kleiner Bruder, der sie großherzig anfeuerte.
Obwohl damals mehrmals am Tag Nirvana-Videos auf MTV liefen, wurde Kurt von den anderen Zuschauern nicht bedrängt. Vielleicht lag es daran, dass er mit seinen einsdreiundsiebzig und der durch Skoliose leicht gebeugten Gestalt in der Menge unterging; außerdem zog er sich noch immer so an wie zu der Zeit, als er völlig pleite gewesen war, und mit seinen zerrissenen Jeans und Chucks fiel er überhaupt nicht auf, zumal er keinen Klüngel von Bewunderern oder gar Bodyguards um sich hatte. Dennoch vermute ich, dass einige Fans ihn durchaus erkannten, aber spürten, dass er seine Ruhe haben wollte, um wie sie die Musik zu genießen.
Kurt hatte gerade einen Entzug hinter sich und war, soweit ich das beurteilen konnte, clean. Seine Augen waren klar, und das war ein enormer Kontrast zu dem deprimierten, verdunkelten, leeren Heroinblick, den ich an ihm wahrgenommen hatte, als ich Nirvana bei ihrem Auftritt in der Fernseh-Show Saturday Night Live gesehen hatte. Kurt und Courtney hatten sich beide einer Behandlung unterzogen, und offenbar hatte sie angeschlagen. Zumindest in diesem Moment war er glücklich, da bin ich mir sicher.
In einer Pause standen wir beide unbedrängt in einer Ecke auf der Empore, die Zuschauern mit Gästeliste-Pässen vorbehalten war, und Kurt entdeckte einen Fotografen, legte den Arm um meine Schultern und sagte: „Komm, wir machen ein Foto“, als ob er gewusst hätte, dass es ein Augenblick war, den ich nicht vergessen wollte.
Courtney war bereits schwanger und kurz zuvor mit Kurt in eine neue Wohnung in der Alta Loma Terrace in den Hollywood Hills gezogen, und Kurt kam nun kurzfristig der Gedanke, dort nach dem Konzert noch eine Party zu geben. Er hatte viel Spaß an der Vorstellung, einmal so zu tun, als sei er wirklich erwachsen. Die Wohnung war schwer zu finden. Das Haus lag in einem verwinkelten Gebiet von kleinen Gässchen und konnte nur zu Fuß über Treppen oder einen Fahrstuhl erreicht werden. Damals hatte kaum jemand GPS, und Kurt hatte keine Wegbeschreibung gegeben, von daher kamen nur sehr wenig Leute, aber dennoch war die Stimmung großartig. Es war schön zu sehen, dass sich Kurt und Courtney zumindest kurzzeitig wirklich wohl in ihrer Haut fühlten. Diese friedliche Zeit dauerte jedoch nicht lange. Nur eine Woche später gab Courtney der Journalistin Lynn Hirschberg das erste einer Reihe von Interviews für ein Porträt im Vanity Fair, das bei seinem Erscheinen die Welt der beiden völlig aus den Angeln hob und dessen negative Auswirkungen noch jahrelang spürbar blieben.
Als Kurt und ich uns kennenlernten, war ich 40 und er 23. Wäre er noch am Leben, wären wir heute beide Männer mittleren Alters, aber damals war ich alt und er jung. Kurt befand sich noch in dem Stadium, in dem sich Rockmusikern in ihren Songs und ihrer Haltung stark davon beeinflusst zeigen, wie man sich als Teenager gefühlt hat. Ich hingegen war ein abgewichster Veteran mit zwanzig Jahren Rockbusiness-Erfahrung, mit einem Kind, einer Hypothek und einem Job in einem großen Unternehmen. Im Jahr zuvor hatte ich bei der Grammy-Verleihung einen echten Höhepunkt meiner bisherigen Karriere erlebt, als mich Bonnie Raitt, die den Preis für das beste Album erhielt, in ihrer Dankesrede erwähnte. Kurts Persönlichkeit hingegen war geprägt von der Punk-Szene des amerikanischen Nordwestens, die dem Establishment mehr als kritisch gegenüberstand und die für konventionelle Showbiz-Rituale wie Preisverleihungen nur Verachtung übrighatte.
Kurt hatte ein feines Gespür dafür, wie er alle Aspekte der Rockmusik miteinander in Einklang bringen konnte. Er schrieb die Musik und die Texte für Nirvana. Er war der Leadsänger und der Leadgitarrist. (Bei den meisten Rock-Bands teilen sich mehrere Bandmitglieder diese Aufgaben, wie Jagger und Richards bei den Rolling Stones oder Page und Plant bei Led Zeppelin. Abgesehen von Kurt war Jimi Hendrix das einzige Mitglied in einer Superstar-Band, der all das allein übernahm.) Kurt kontrollierte bei der Produktion der Nirvana-Aufnahmen jedes Detail. Er entwarf die Cover selbst, gestaltete sogar viele der Band-T-Shirts und schrieb die Rohfassungen der Drehbücher für die Musikvideos.
Nevermind, jenes Album, das Nirvana den Durchbruch brachte, hat sich inzwischen über 15 Mio. mal verkauft, aber der bloße kommerzielle Erfolg birgt ebenso wenig einen Schlüssel für Kurts Geheimnis wie eine Auflistung seiner musikalischen Fähigkeiten. Er war ein ausgezeichneter Gitarrist, aber beileibe kein Hendrix. Seine Stimme war kein bisschen gekünstelt, sondern hemmungslos und wild und konnte sowohl Verletzlichkeit als auch Kraft transportieren, aber die Rock-Szene hat viele große Sänger hervorgebracht. Auf der Bühne verstand er das Publikum zu fesseln und mitzureißen, aber es gab dennoch andere, dramatischere Frontmänner. Er zählte zu den wenigen Songwritern, die wussten, wie man poppige Songstrukturen mit Hard Rock verbindet, aber das beherrschten auch die Rolling Stones und einige andere Bands. Er war ein besserer Texter, als er selbst zugeben wollte, erreichte aber nicht die Qualität eines Bob Dylan oder Leonard Cohen. Er war ein Moralist, aber kein Kreuzritter.
Kurts Bewunderung für die Beatles schloss auch die holistische Beziehung mit ein, die vor allem John Lennon mit der riesigen Fan-Gemeinde aufgebaut hatte. Mir erschien es, als ob Kurt die gesamte Bandbreite seines öffentlichen Daseins als Kunst betrachtete, jeden Live-Auftritt, jedes Interview und jedes Foto. So kritisch er dem Ruhm generell auch gegenüberstand, so sehr war er dennoch bereit, ihn effektiv zu nutzen. Er zählte zu den wenigen Künstlern in der Rock-Geschichte, der simultan durch verschiedene kulturelle Ausdrucksformen kommunizierte: durch die Energie des Hard Rock, die Integrität des Punk, die ansteckende Vertrautheit von Pop-Songs und den inspirierenden Appeal eines sozialen Bewusstseins. Anfang der Neunziger hatte Kurt zudem jene Rolle inne, die Allen Ginsberg, als er Jahrzehnte zuvor über Bob Dylan sprach, als „die unkonventionelle Fackel der Erleuchtung und Selbstermächtigung“ bezeichnet hatte.
Aber der verklärte Blick, den beispielsweise der Jugendliche zeigte, der mich im Lager von Occupy Wall Street ansprach, ist auf etwas anderes zurückzuführen: Kurt brachte anderen Menschen, vor allem den Außenseitern, eine einzigartige Empathie entgegen. Er konnte den Fans das Gefühl vermitteln, dass es eine Kraft im Universum gab, die sie so akzeptierte, wie sie waren. Sie hatten den Eindruck, als würden sie ihn wirklich kennen – und umgekehrt er sie auch.
Meiner Meinung nach findet sich ein vergleichbares Phänomen nicht im Bereich des Rock, sondern eher in den Romanen von J.D. Salinger, besonders in Der Fänger im Roggen. Ähnlich wie in jenem literarischen Klassiker der 1950er Jahre gab Kurts Werk den Underdogs ihre Würde zurück und knackte dabei derart den Code der Massenkultur, dass Millionen sich darin wiederfinden konnten. Die Reagan-Ära, die Kurts Generation und die damalige Indie-Szene maßgeblich prägte, ist schon lange vorbei, aber auch 25 Jahre nach Kurts Tod ist es sein poetisches, ungefiltertes Verständnis für den Schmerz der Jugend, das junge Menschen dazu bringt, Nirvana-T-Shirts zu tragen, weil für sie damit ein gewisses Statement verbunden ist.
Kurt war viel mehr als die Summe seiner Dämonen. Eine Zeichnung in einem seiner Tagebücher trug die Bezeichnung „die vielen Stimmungen des Kurdt Cobain: Baby, Pissy, Bully, Sassy“ – übersetzt in etwa „Baby, Nervensäge, Grobian, Wirbelwind“. (Damals probierte er noch verschiedene Schreibweisen seines Vornamens aus.) In einem Artikel in der Zeitschrift Spin zum zehnten Jahrestag von Kurts Tod bezeichnete ihn John Norris als „Punk, Popstar-Helden, Opfer, Junkie, Feministen, Rächer-Nerd, Klugscheißer“.
Kurts langjähriger Bandkollege und Freund Krist Novoselic sagte mir vor kurzem: „Kurt konnte unglaublich nett und der beste Mensch der Welt sein, dessen Reaktionen mich oft unglaublich berührt haben, aber manchmal war er auch wirklich gemein und hinterhältig.“
Auf mich wirkte Kurt manchmal wie ein verwirrter Weiser vom anderen Stern, aber ebenso wie ein sehr fokussierter Kontroll-Freak, ein verletzliches Opfer körperlicher Schmerzen oder gesellschaftlicher Ablehnung, ein doppelzüngiger Junkie, ein liebender Ehemann und Vater oder ein aufmerksamer Freund. Manchmal wechselte er in Sekunden von paranoid zu übernatürlich selbstbewusst, und er wusste durchaus die Werbetrommel für sich selbst zu rühren. Mal war er ein sensibler Außenseiter, ein selbstkritischer Normalo, der stille, aber unbestreitbare Mittelpunkt der Aufmerksamkeit oder ein verzweifelter Kindmann, für den das Leben keine Bedeutung zu haben schien. Kurt vermittelte seine Gefühle oft ohne Worte. Ich erinnere mich noch sehr deutlich an die verschiedenen Gesichter, die er zeigen konnte: gestresst, amüsiert, gelangweilt, genervt, zugewandt und gebend. All das konnte man in seinen durchdringenden, blauen Augen lesen.
Im Laufe der Jahre habe ich mich vor allem mit Kurts Rolle als Künstler beschäftigt. Als er noch klein war, ging seine Familie davon aus, dass er später vielleicht einmal Grafiker werden würde, und er beschäftigte sich bis zu seinem Tod mit Zeichnungen und Skulpturen. „Ich war der beste Künstler von Aberdeen“, sagte er mir einmal mit einem schiefen Lächeln, „aber ich glaube, in einer großen Stadt oder draußen in der Welt hätte ich keinen Eindruck hinterlassen. Für dieses Level reichte es bei mir nicht.“ In der Musik, auf die sich seine Kreativität in erster Linie konzentrierte, sah es anders aus: In diesem Bereich war er außergewöhnlich, und das wusste er. Als ich Kurt kennenlernte, strahlte er die stille Überzeugung aus, dass seine Musik von einer ganz besonderen Güte war, und darin bestärkten ihn sein gesamtes Umfeld und auch andere Musiker.
Vermutlich sind die meisten Leser dieses Buches Nirvana-Fans, aber hin und wieder stoße ich immer noch auf Leute, die nicht begreifen, was an der Band so großartig gewesen sein soll. Geschmäcker sind verschieden, und wir alle fühlen uns auch später im Leben latent zu jenen Dingen hingezogen, die wir schon in der Schulzeit mochten.
Wie groß Kurts Einfluss war, lässt sich quantitativ vielleicht allenfalls mit den Statistiken des Streaming-Dienstes Spotify belegen, der seit 2008 Musik anbietet, als Kurts Tod schon 14 Jahre zurücklag. Hier ist eine Aufstellung der weltweiten Zugriffszahlen seit den Anfangstagen von Spotify auf die beliebtesten Songs von Kurt und seinen Zeitgenossen, aber auch vielen vor und nach Nirvana aktiven Künstlern (die Zahlen stammen aus dem Mai 2018):
Madonna, „Material Girl“ – 56 Mio.
Prince, „Kiss“ – 80 Mio.
N.W.A., „Straight Outta Compton“ – 113 Mio.
Pearl Jam, „Alive“ – 116 Mio.
Bruce Springsteen, „Dancin’ In The Dark“ – 126 Mio.
Soundgarden, „Black Hole Sun“ – 139 Mio.
2Pac, „Ambitionz Az A Ridah“ – 144 Mio.
U2, „With Or Without You“ – 210 Mio.
Foo Fighters, „Everlong“ – 210 Mio.
R.E.M., „Losing My Religion“ – 229 Mio.
Radiohead, „Creep“ – 257 Mio.
Dr. Dre, „Still D.R.E.“ – 275 Mio.
Green Day, „Basket Case“ – 282 Mio.
Michael Jackson, „Billie Jean“ – 353 Mio.
Guns N’ Roses, „Sweet Child O’ Mine“ – 358 Mio.
Nirvana, „Smells Like Teen Spirit“ – 387 Mio.
Das nur so nebenbei.
Für die amerikanische Originalausgabe dieses Buches habe ich den Titel „Serving The Servant“ gewählt, als Hommage an einen Song, den Kurt für das Album In Utero schrieb, nachdem Nirvana plötzlich kommerziell so unglaublich erfolgreich geworden waren. Besonders bekannt ist seine erste Zeile: „Teenage angst has paid off well“, die Teenager-Angst hat sich gut bezahlt gemacht – ein Seitenhieb auf den enormen Erfolg von Nevermind. Kurt erklärte außerdem, dass der Text teilweise auch ein Versuch war, sich über die Beziehung zu seinem Vater Don klarzuwerden, zu dem er keinen Kontakt mehr hatte (und den ich zum ersten und einzigen Mal bei Kurts Beerdigung traf). Für mich spiegelt der Titel, der wörtlich mit „dem Diener dienen“ übersetzt werden kann, wie es war, mit Kurt zu arbeiten – er war der Diener einer Muse, die nur er sehen und hören konnte, aber deren Energie er in eine Sprache übertrug, mit der sich Millionen identifizierten. Meine Aufgabe und die anderer Mitarbeiter war es, ihn im Rahmen unserer Möglichkeiten dabei zu unterstützen.