Читать книгу Erinnerungen an Kurt Cobain - Manny Rosenfeld, Danny Goldberg M. - Страница 8

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Dem Journalisten Robert Hilburn sagte Kurt 1993: „Ich litt als Kind schwer an Depressionen. Es gab eine Zeit, da weinte ich mich jede Nacht in den Schlaf. Oder ich versuchte, die Luft anzuhalten, damit mein Kopf explodiert, weil ich dachte, dann würde es ihnen endlich leidtun. Damals dachte ich oft, ich würde nicht einmal einundzwanzig.“ In Michael Azerrads Buch Nirvana – Come As You Are sagt Kurt über seine Kindheit: „Ich dachte immer, ich sei adoptiert, und man hätte mich auf einem Raumschiff gefunden. Ich wusste, dass noch Tausende anderer Alien-Babys hier ausgesetzt worden waren, und inzwischen bin ich auch einigen davon begegnet. Eines Tages werden wir herausfinden, weswegen wir eigentlich hier sind.“

Das Gefühl, nicht dazuzugehören, vertiefte sich zusätzlich, da Kurt in der konservativen Holzfällerstadt Aberdeen im US-Bundesstaat Washington aufwuchs, wo er mit seiner sensiblen Künstlerseele schnell zum Außenseiter wurde. Die einzige Band aus Aberdeen, die in der amerikanischen Punk-Szene eine gewisse Beachtung gefunden hatte, waren die Melvins, die persönlich wie auch musikalisch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die frühe Karriere von Nirvana darstellten. Damals kamen selten mehr als ein paar hundert Zuschauer zu einem Punk-Gig, und daher war es für die Fans oft leicht, anschließend mit der Band ins Gespräch zu kommen. Der Leadsänger der Melvins, Buzz Osborne (auch bekannt als King Buzzo), machte Krist Novoselic auf die Indie-Band Flipper aufmerksam, und als ich 2018 mit Krist sprach, schwärmte er noch immer von dem Erweckungserlebnis, das er als Teenager beim ersten Hören des Flipper-Albums Generic gehabt hatte.

1984, mit sechzehn, sah Kurt sein erstes Melvins-Konzert. Wenig später stellte Buzz ein Punk-Mixtape für Kurt zusammen, auf dem sich auch Songs von Black Flag und Flipper befanden. Kurt war völlig fasziniert, hörte die Cassette monatelang jeden Tag und sang die Texte mit. Dem Musikkritiker John Savage sagte er, dass ihm damals zwar die Musik von Mainstream-Rockern wie Led Zeppelin und Aerosmith teilweise durchaus gefiel, aber dass ihm die Texte größtenteils zu eindimensional waren. „Es war oft total sexistisch, wie darin von ihren Schwänzen und von Sex die Rede war. Das hat mich gelangweilt.“ Punk hingegen berührte Kurt; diese Songs spiegelten seine eigene Haltung zu gesellschaftlichen und politischen Fragen. Mit großer Erleichterung stellte er fest, dass er zumindest in dieser Hinsicht nicht völlig allein dastand. Es gab eine andere Welt auf diesem Planeten, und er war fest entschlossen, dazuzugehören. Wenig später machte Buzz Kurt und Krist miteinander bekannt. Im Jahr darauf spielte der Melvins-Drummer Dale Crover auf den ersten Nirvana-Demos mit. Und noch ein paar Jahre später stellte Buzz den Kontakt zwischen Dave Grohl und Nirvana her.

Punk-Fans lieben ihre Musik mit absoluter Leidenschaft, und eingeweihte Kreise diskutieren mit fast religiösem Eifer darüber, welche Band aus welchen Gründen gut ist und wie sich Punk überhaupt definieren lässt – Fragen, zu denen ich mich mangels tieferer Einblicke nicht äußern kann. Wenn ich hier über die Musik schreibe, die Kurt in seinen Jugendjahren prägte, dann gebe ich lediglich Wissen wieder, das ich mir als Außenstehender aneignen konnte.

Der Punk der Siebziger, die Subkulturen, die in New York und rund um die Sex Pistols in London entstanden, interessierten Kurt nur am Rande. Er und Krist waren auf der Highschool mit der darauffolgenden Punk-Generation in Berührung gekommen, die in den 1980ern in kleinen Nischen in den USA florierte. Es war eine Szene, die ungeachtet ihrer bescheidenen Größe aus leidenschaftlichen Fans bestand, für die es keine Rolle spielte, dass die Protagonisten von der Musikindustrie weitgehend ignoriert wurden.

In den Jahren 1980 und 1981 – einige Jahre, bevor Buzz das besagte Mixtape für Kurt zusammenstellte – brachten Flipper, R.E.M. und Hüsker Dü ihre ersten Singles heraus, Mission Of Burma und Minor Threat veröffentlichten ihre ersten EPs, die Dead Kennedys und die Replacements ihre ersten Alben, Henry Rollins stieß zu Black Flag, und Sonic Youth und die Butthole Surfers wurden gegründet. Die Alben dieser Künstler tauchten in den vielen „Top 50“-Listen auf, die Kurt in seinen Tagebüchern zur Erläuterung von Nirvanas Einflüssen anlegte. Von diesen Bands sprach er gelegentlich mit einer Bewunderung, die an einen Katechismus erinnerte. Im Gegensatz zu den etablierten Rock-Bands, die sich meist schon in den 1960ern oder 1970ern gegründet hatten, betrachteten die Bands der Independent-Szene kommerziellen Erfolg nicht als Maß aller Dinge und standen der populären Musikkultur zwiespältig gegenüber.

Black Flag waren eine der ersten Bands, die Kurt live erlebte, und wie viele ihrer Zeitgenossen spielten sie schnell und laut. Greg Ginn von Black Flag hatte SST Records ins Leben gerufen, um zunächst einmal die Platten seiner eigenen Band zu veröffentlichen, aber im Laufe der Achtziger wurde SST die Heimat vieler anderer Musiker, die Kurt liebte. Ray Farrell arbeitete lange bei SST und wurde schließlich von Geffen Records angeworben, ein Jahr, bevor Nirvana dort unterkamen. Bei ihrem ersten Treffen sagte Kurt wehmütig zu Farrell: „Um auf SST zu erscheinen, hätte ich getötet.“

SST-Bands bekamen jedoch keine Auftritte in Clubs, die traditionell eher ein Mainstream-Rock-Publikum anzogen, da sie in den konventionellen Musikmedien, an denen sich die Talent-Einkäufer orientierten, kaum stattfanden. Daher mussten SST und andere Indie-Labels wie das von den Dead Kennedys betriebene Alternative Tentacles andere Veranstaltungsorte ausfindig machen, beispielsweise Versammlungssäle von Veteranenorganisationen, in denen es meistens noch nie ein Konzert gegeben hatte. Im Zuge dessen schufen junge Promoter ein alternatives Netz von Auftrittsorten, das wiederum dazu beitrug, die Subkultur, in der sich Nirvana später einnisteten, weiter zu stärken.

Krist erinnert sich gern an die frühen Nirvana-Tourneen durch diese Clubs. „Für uns lief ja sonst nichts. Wir hatten einen Transporter, und in dem bretterten wir über den Highway. Wir fuhren nach Florida, wir fuhren nach Kanada. Wir waren schweineglücklich. Außerdem bekamen wir auch noch ein paar hundert Dollar jede Nacht, und das war für uns richtig viel Geld.“

Kurt ließ sich nicht nur von der Musik, sondern von der gesamten Punk-Kultur inspirieren. Die meisten Künstler, die er toll fand, wurden von den kommerziellen Radiosendern so gut wie nie gespielt, und die Platten wurden von den großen Handelsketten nicht geführt; es gab sie meist nur in kleinen, unabhängigen Plattenläden, die vielen Punk-Fans ein zweites Zuhause wurden. In diesen Geschäften lagen auch billig produzierte Punk-Fanzines aus, die eine ganz bestimmte Ästhetik transportierten und eine Anti-Establishment-Haltung propagierten. Zu den einflussreichsten zählten Flipside, das schon seit 1977 erhältlich war, und Maximum Rocknroll, das seit 1982 vertrieben wurde. (Die großen Magazine wie der Rolling Stone ignorierten die Indie-Szene der Achtziger oder erwähnten sie allenfalls am Rande. Diese Lücke füllte zunächst nur Creem, das Kurt als Jugendlicher abonniert hatte, und später auch Spin, das 1985 ins Leben gerufen wurde.)

Punk fand davon abgesehen nur noch in einem Medium statt: im College-Radio. Die Airplay-Charts dieser Sender wurden für das College Media Journal (CMJ) zusammengefasst, das ab 1982 den New Music Report veröffentlichte, der für aufstrebende Künstler aus dem Indie- und Punk-Underground sehr wichtig wurde.

In den Achtzigern bildeten sich verschiedene Strömungen in der Szene heraus. „Es war Punk, wenn man seine eigenen Wege ging“, sagt Farrell. In ihren Texten orientierten sich viele Künstler am Minimalismus der Ramones, aber nach und nach ließen immer mehr Songwriter breiter gefächerte musikalische Einflüsse und beißende Kritik an Politik und Gesellschaft in ihre Songs einfließen. Ian MacKaye von Fugazi und Jello Biafra von den Dead Kennedys beeinflussten Kurt in seinen politischen Einstellungen stark.

Die Indie-Bands verband weniger ein einheitlicher musikalischer Stil als vielmehr die gemeinsame Außenseiterrolle. Sonic Youth, die bald zu Mentoren der Szene aufstiegen, standen beispielsweise in ihrer Ästhetik der New Yorker Kunstszene näher als den Sex Pistols. Diese so unterschiedlichen kreativen Geister teilten einen Wertekanon, den Kurt später in den Mainstream-Rock transportierte: Musik zu machen, die einem persönlich etwas bedeutete, die anderen Künstler der Gemeinschaft zu unterstützen und eine Beziehung auf Augenhöhe zum Publikum aufrecht zu erhalten.

Einer der Widersprüche in meiner Beziehung zu Kurt lag darin, dass ich eng mit zwei Phänomenen verbunden war, die Punk grundlegend ablehnte: Hippies und Major-Labels.

Das Wort „Hippie“ hatte man zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Kreisen unterschiedlich interpretiert. Hatte man lange Haare in den Sechzigern noch als Ausdruck von Rebellion betrachtet, waren sie in den Achtzigern Teil der konventionellen Macho-Rock-Uniform geworden, wie sich an den zahlreichen Glam-Metal-Bands zeigte, deren Musiker ihre Mähnen mit viel Haarspray in Form brachten. Es gab sogar Punk-Konzerte, bei denen Männer mit langen Haaren von betrunkenen Zuschauern körperlich angegriffen und als „Hippie“ beschimpft wurden.

Einige von Kurts Vorbildern vertraten eine offenere Einstellung. Sie hatten begriffen, dass äußere Symbole schnell veraltet wirken oder vom Mainstream gekapert werden konnten, aber dass die Kunst jeder Generation von einem gewissen Idealismus durchdrungen war, auch die frühe Hippiekultur. Greg Ginn von Black Flag hatte sich mehr als 75 Konzerte von Grateful Dead angesehen, und Ian MacKaye von Fugazi kannte den Woodstock-Film in- und auswendig. Mark Arm nahm Bob Dylans „Masters Of War“ als Protest gegen den ersten Golfkrieg als Single auf. Mike Watt von den Minutemen zitierte Creedence Clearwater Revival als politische Band (unter anderem wegen des Antikriegssongs „Fortunate Son“) und wies darauf hin, dass CCR mit ihren Flanellhemden auch in modischer Hinsicht Vorläufer der Indie-Szene gewesen waren. Vor Nirvana hatten Kurt und Krist in einer CCR-Coverband gespielt. Green River, die Band, in der neben Mark Arm von Mudhoney auch die späteren Pearl-Jam-Mitglieder Stone Gossard und Jeff Ament gespielt hatten, war nach dem gleichnamigen CCR-Album benannt worden.

Kurt identifizierte sich mal mit Hippies, mal mit Hippie-Hassern. Kurz vor der Veröffentlichung von Nevermind berichtete ihm John Rosenfelder, ein junger Promoter, den wir alle Rosie nannten, viele der Kiffertypen bei den College-Sendern, die sonst Psychedelic Rock hörten, seien von „Smells Like Teen Spirit“ begeistert. Kurt erwiderte abfällig: „Ich hätte gern ein Batikshirt, das mit dem Blut von Jerry Garcia gefärbt wurde.“ Bei anderen Gelegenheiten erinnerte sich Kurt allerdings ganz nostalgisch daran, wie er an Jimi Hendrix’ Grab in Seattle gesessen und Bier getrunken hatte.

Der Song „Territorial Pissings“ auf Nevermind beginnt mit Textzeilen aus „Get Together“, einem Titel aus den Sechzigern, der vor allem in der Version der Youngbloods bekannt wurde. Als wollte er die darin geäußerte Utopie der Hippie-Hymne verspotten, singt Krist mit verzerrter Stimme: „Come on people now/smile on your brother/everybody get together/try to love one another/right now.“ Viele Rock-Kritiker werteten das Intro als Zeichen dafür, dass Nirvana nichts für die Zeit von Peace & Love übrig hatten.

Krist jedoch sagte mir, dass sie keinesfalls die in dem Song angesprochenen Ideale niedermachen wollten, sondern sich vielmehr bitterlich darüber beklagten, dass die meisten Baby-Boomer sich von ihren hehren Zielen abgewandt hatten, als sie älter und einflussreicher wurden. Den ausführlichsten Kommentar dazu gab Kurt in einem Interview mit der brasilianischen Tageszeitung O Globo: „Der Song handelt von Leuten, die zusammenkommen, um etwas Cooles auf die Beine zu stellen, um etwas Neues zu versuchen, und die damit das genaue Gegenteil der Leute sind, die ich in ‚Territorial Pissings‘ porträtiere. Wir wollten den Typen, der den Song geschrieben hat, nicht beleidigen. Das Konzept, positiv zu denken und einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, wurde von den Medien vereinnahmt und der Lächerlichkeit preisgegeben.“

Dass Kurt bei vielen frühen Nirvana-Gigs rituell seine Gitarre auf der Bühne zertrümmerte, war nicht misszuverstehen; er parodierte damit ganz offen Pete Townshend von The Who, der das seit 1964 bei Konzerten tat, nachdem seine Band ihre Sechziger-Hymne „My Generation“ gespielt hatte. Ihr Drummer Keith Moon hatte daraufhin oft auch noch sein Schlagzeug umgestoßen, was Dave Grohl am Ende vieler Auftritte ebenfalls begeistert kopierte.

Die Zerstörung von Instrumenten passte perfekt zum Anarchismus des Punk. Kurts Faszination für die Beatles hingegen war bei den Künstlern der Subkultur, aus der Kurt stammte, eher ungewöhnlich. Wie Thurston Moore mir sagte, sprachen die Nirvana-Musiker oft augenzwinkernd vom „B-Wort“, als müsse man sich ein kleines bisschen dafür schämen, die Fab Four zu hören – möglicherweise, weil die Beatles dem kommerziellen Erfolg stets sehr positiv gegenübergestanden hatten.

Nirvanas widersprüchliche Einstellung zur Gegenkultur der Sechziger brachte den britischen Rock-Kritiker Jon Savage zu der Annahme, dass bereits der Name Nirvana „einen sarkastischen Seitenhieb auf die Pietät der Hippies darstellte“, obwohl Kurts Erklärung für die Namensgebung tatsächlich respektvoll auf die spirituelle Herkunft des Wortes abhob.

Als Nirvana beim britischen Reading Festival als Headliner auftraten, gab es jede Menge „Fuck Woodstock“-T-Shirts im Publikum. Kurt und Krist erklärten mir allerdings beide, dass sie radikale Sechziger-Aktivisten wie Abbie Hoffman und Timothy Leary bewunderten und es sehr bedauerten, dass ihre eigene Generation keine vergleichbaren Vordenker hervorgebracht hatte. Und während viele Punk-Musiker sich die Köpfe rasierten oder einen Irokesenschnitt trugen, hatten die Jungs von Nirvana Langhaarfrisuren, mit denen sie in Woodstock kaum aufgefallen wären.

Weihnachten 1991 schenkte ich Kurt und Courtney eine gebundene Faksimile-Ausgabe des kompletten San Francisco Oracle, der während der 18 Monate seines Erscheinens die wichtigste Hippie-Zeitung der Stadt gewesen war. Wenig später erklärte Kurt in einem Interview, die Haight-Ashbury-Gemeinde hätte schon 1967 erkannt, dass sie ihre Bedeutung verloren hatte – das zeige bereits ein „Tod den Hippies“-Marsch, über den der Oracle ausführlich berichtet hatte.

Aus meinem eigenen Babyboomer-Blickwinkel erschien die Punk-Rebellion lediglich wie eine Neuauflage des jugendlichen Aufbegehrens, das Der Wilde, der Filmklassiker mit Marlon Brando, bereits in den Fünfzigern formuliert hatte. Als die Hauptfigur Johnny Strabler gefragt wird, wogegen er denn rebelliert, antwortet der in Leder gekleidete Motorrad-Rocker finster: „Was haben Sie denn anzubieten?“ Auch in der Punk-Szene gab es Leute, denen ungerichtete Aggression, ein steinzeitliches Stammeszugehörigkeitsgefühl und ein gemeinsamer Musikgeschmack als Identifikationsgrundlage genügte. Dennoch hatten die vielen Strömungen des Punk auch einen spezifischen Subtext. 1980, lange bevor Donald Trump zur Stimme der zornigen, alten, weißen Männer wurde, nahmen Black Flag deren Ängste in dem Song „White Minority“ vorweg: „We’re gonna be a white minority … we’re gonna feel inferitority“ – Wir werden eine weiße Minderheit sein … wir werden erleben, was es heißt, unterlegen zu sein.

Von 1981 bis 1989, in Kurts Teenagerzeit, war Ronald Reagan Präsident der USA, und er wurde ähnlich zum Katalysator für die Wut der amerikanischen Punk-Kultur der damaligen Zeit wie die Antikriegsbewegung die Gegenkultur der Sechziger geprägt hatte und die konservative Margaret Thatcher nach ihrer Wahl 1979 die Haltung von The Clash und anderen britischen Punks beeinflusste.

Für die Jugendlichen, die sich für Punk interessierten, war Reagans Hemdsärmeligkeit ein typisches Beispiel der heuchlerischen Falschheit Hollywoods. Die damalige First Lady Nancy Reagan machte eine schlichte „Just say No“-Kampagne gegen Drogen zum Mittelpunkt ihrer nationalen Identität. Während ihr Gatte damit beschäftigt war, zahlreiche Hilfsprogramme für die Ärmsten der Armen einzustampfen, gab Mrs. Reagan 200.000 Dollar für ein neues Porzellanservice im Weißen Haus aus. Hinter Reagan stand eine große Mehrheit der Wähler; es gab in den USA keine breite „Widerstandskultur“, die sich gegen die Regierung gerichtet hätte, und daher erschufen sich die Punks ihre eigene. DOA veröffentlichten den Song „Fucked Up Ronnie“, die Minutemen nahmen „If Reagan Played Disco“ auf, und es gab eine Hardcore-Band, die sich Reagan Youth nannte. 1983 organisierten die Dead Kennedys, die Band von Jello Biafra, eine Rock-Against-Reagan-Tour. Zwei Jahre später beschrieb Thurston Moore das Sonic-Youth-Album Bad Moon Rising als „Statement gegen das verlogene Grinsen von Reagans Wiederwahl-Kampagne“, die unter dem Motto „Morning in America“ stand. 1991, als Nevermind erschien, sagte Kurt: „Die Reagan-Jahre haben uns wieder in die Zeit zurückgeworfen, in der sich der durchschnittliche Teenager verloren fühlt und es wenig Hoffnung gibt.“

Reagans Vizepräsident und Nachfolger George H.W. Bush führte die USA in den Golfkrieg, von dem viele Punks den Eindruck hatten, dass er in erster Linie dazu diente, die Interessen der Ölunternehmen zu schützen. Kurt und Krist spürten ein Gefühl von Isolation, als sich zeigte, dass 90 Prozent der Bevölkerung den Krieg befürworteten, was an den allgegenwärtigen gelben Schleifen zu erkennen war, die eigentlich die Unterstützung der Truppen symbolisieren sollten, aber von den politischen Scharfmachern gern ganz allgemein als Zustimmung für den Krieg interpretiert wurden.

Noch während Reagans Regierungszeit hatte Tipper Gore, die Ehefrau des damaligen US-Senators Al Gore, gemeinsam mit den Ehefrauen anderer Abgeordneter eine Organisation ins Leben gerufen, die den Zugang Minderjähriger zu Rockmusik mit anstößigen Texten erschweren sollte. Dabei gerieten viele Künstler in die Schusslinie, die Nirvana sehr schätzten. Dem Dead-Kennedys-Album Frankenchrist lag ein Poster bei, das das Gemälde Penis Landscape des Schweizer Surrealisten H.R. Giger zeigte. („Dieses Bild bringt Reagans Amerika auf den Punkt“, sagte Biafra stolz.) Die Staatsanwaltschaft Los Angeles machte das Poster und das dazugehörige Album zum Gegenstand einer Anklage wegen Obszönität, aber die American Civil Liberties Union, eine Bürgerrechtsorganisation, bei deren südkalifornischem Ableger ich im Stiftungsrat saß, übernahm die Verteidigung und trug den Sieg davon.

Für viele Punks gehörten die etablierte Musikindustrie und die konservative Politik zusammen. Auf meine Frage, welche Bedeutung Ronald Reagan für die Punk-Bewegung der Achtziger gehabt hatte, antwortete Michael Azerrad scherzhaft: „Eine sehr große. Er war ein absoluter Major-Label-Präsident.“ Als Kurt starb, war auch ich ein Teil dieser Musikindustrie, und wie fast mein gesamtes Umfeld verabscheute ich Reagans Politik, aber mir war klar, dass Azerrad mit seinem Spruch die typische Einstellung äußerte, die in Punk-Kreisen vorherrschte. Seine Formulierung rief mir in Erinnerung, welche Gratwanderung Kurt absolviert hatte.

In einem Interview mit dem französischen Magazin Best, ein Jahr nach der Veröffentlichung von Nevermind, sagte Kurt: „Früher habe ich die Welt immer in die da oben und wir hier unten aufgeteilt. Seit wir als Teil der Musikindustrie betrachtet werden, ist mir klar geworden, dass es leider nicht so einfach ist. Wir haben bei den großen Unternehmen Leute kennengelernt, die wirklich überzeugte Musik-Fans sind und versuchen, die Dinge voranzutreiben. Aber gleichzeitig verstehe ich auch, dass Underground-Fans glauben, wir hätten uns verkauft. Ich habe früher genauso argumentiert wie sie.“

Zwar hatte Kurt bei unserem ersten Treffen keinen Zweifel daran gelassen, dass Nirvana bei einer großen Plattenfirma unterschreiben wollten, aber dennoch war die Strahlkraft der Independent-Labels für seine künstlerische Entwicklung entscheidend gewesen, und er hatte seinen Respekt für die Indie-Kultur nie verloren.

Ohne Labels wie SST (gegründet 1978), Alternative Tentacles (1979), Dischord (1980), Epitaph (1980), Touch And Go (1981), K (1982), Homestead (1983), C/Z (1985), Sub Pop (1988) und Matador (1989) hätte ein Großteil der Musik, die Kurt inspirierte, ihr potenzielles Publikum gar nicht erst erreicht. Als er sich um einen Plattenvertrag bemühte, war es von daher selbstverständlich, dass Kurt seine Demo-Cassetten an die Indie-Labels schickte. Zum einen liebte er die Musik, die dort erschien, zum anderen standen einer Band aus dem Punk-Umfeld damals auch kaum andere Möglichkeiten offen.

Da diese kleinen Firmen finanziell oft mit dem Rücken zur Wand standen und kaum oder gar keine Vorschüsse zahlen konnten, waren sie meist auch nicht in der Lage, Künstler langfristig an sich zu binden. Daher waren die Major Labels nicht nur aus ideologischen Gründen der Klassenfeind, sondern stellten eine reale, existenzielle Bedrohung dar, wenn sie den Indies die vielversprechendsten Bands wegschnappten, die sie zuvor gefördert und überhaupt erst sichtbar gemacht hatten. (Hüsker Dü nahmen beispielsweise ihre ersten drei Alben bei SST auf, um dann 1986 bei Warner Bros. zu unterschreiben.)

Mir war klar, dass es für viele dieser jungen Leute nur eine Möglichkeit gab, um im Musikgeschäft Fuß zu fassen – sie mussten die Leistungen der vorangegangenen Generationen diskreditieren. Musiktrends werden von Jugendlichen gemacht. In der Musik umfasst eine „Generation“ in der Regel etwa vier Jahre, in etwa die Zeit, die man auf der Highschool verbringt. Für clevere, ehrgeizige Anfangszwanziger, die glaubwürdig vermitteln können, dass alle Älteren „es nicht mehr blicken“, ergeben sich immer erfolgversprechende Möglichkeiten. Das hatte ich selbst erlebt, als ich mich Ende der Sechziger bei dem Versuch, im Musikgeschäft Arbeit zu finden, mit meiner Langhaar-Hippie-Frisur erfolgreich von den älteren „Spießern“ abgehoben hatte.

Dennoch verfolgt jeder Künstler seine eigenen Ziele, und der Fundamentalismus der Indie-Gemeinde lag nicht jedem. Als Kurt und ich uns begegneten, war er bereits zu dem Schluss gekommen, dass einige der Grundsätze, die man in der Szene hochhielt, durchaus ihren Sinn hatten, andere hingegen einem umgekehrten Snobismus entsprangen, der einfach blödsinnig war. Wenn es seinen Zwecken diente, wies Kurt gern darauf hin, dass R.E.M., die Stooges, die Ramones, Patti Smith und die Sex Pistols durchaus Platten auf Major-Labels veröffentlicht hatten, ohne dass ihre musikalische Qualität oder ihre Glaubwürdigkeit dadurch Schaden genommen hatte.

Der Leitstern für Nirvana waren Sonic Youth. Thurston Moore schilderte mir 2018 die Beweggründe, die seine Band dazu gebracht hatten, bei Geffen zu unterschreiben. „Uns war aufgefallen, dass sich die Musik von Hüsker Dü nach dem Wechsel zu Warner nicht verändert hatte. Bei den Indies, mit denen wir zu tun hatten – SST Records, Blast First Records oder Neutral Records –, war es so, dass die Buchhaltung, wenn es überhaupt eine gab, oft genug nicht stimmte. Bei Geffen hingegen konnten wir einen Vorschuss bekommen, der es uns ermöglichte, die Miete und die Krankenversicherung zu bezahlen, sich ein bisschen was zu leisten und vielleicht sogar den regulären Job zu knicken. Wir hatten das Gefühl, dass es uns gelingen würde, einen soliden Vertrag auszuhandeln.“

Sonic Youth genossen damals ein solches Ansehen, dass sie es sich leisten konnten, die Anwürfe der Indie-Dogmatiker zu ignorieren. Thurston ärgert sich jedoch heute noch darüber, dass die Indie-Label-Ikone Steve Albini, selbst ein Punk-Musiker, damals einen Artikel verfasste, „indem er verschiedene Szenarien schilderte, wie Künstler von einem Major-Label systematisch abgezockt werden. Es war eine rüde Darstellung. Der Artikel endete mit dem Satz: ‚Wenn man ein Schwein fickt, darf man sich nicht wundern, wenn man anschließend Scheiße am Schwanz hat.‘ Ich schrieb damals einen Leserbrief dazu und bemerkte: ‚Ein wirklich interessantes Bild. Bei diesem Beispiel, wie eine Band von den Majors in den Arsch gefickt wird, hast du nur eins vergessen – nämlich hinzuzusetzen, dass diese Band wirklich ziemlich blöd sein muss.‘“

Sie selbst, erklärt Thurston, seien damals zu jedem Business-Meeting gegangen. „Wir wussten genau, worauf wir uns einließen. Wir wussten, wo das Geld herkam und wer was wofür ausgab. Ich hatte nicht das Gefühl, dass wir blauäugig irgendwas unterschrieben, so wie Albini es darstellte. Wir sprachen mit einer Bank. Für uns war das kein Ausverkauf. Wir kauften uns ein.“

Aber selbst Thurston war zeitweise hin- und hergerissen zwischen der Indie-Ideologie und dem wahren Leben. Im Dokumentarfilm 1991: The Year That Punk Broke, der entstand, nachdem Sonic Youth längst bei Geffen unterschrieben hatten, wird er dabei gezeigt, wie er jungen Fans in Deutschland erklärt: „Ich denke, wir sollten den betrügerischen Kapitalismus zerstören, der sich in die Jugendkultur hineinfrisst. Der erste Schritt dabei ist die Zerstörung der Plattenfirmen.“

Krist Novoselic war zwei Jahre älter als Kurt, und er ist der einzige, der Nirvanas gesamte Entwicklung von einer kleinen Lokal-Band aus Aberdeen bis zum Welterfolg miterlebte. Krist wusste, wie talentiert und sensibel Kurt war. Vielleicht schon deshalb, weil er ihm mit seiner Körpergröße von fast zwei Metern um einen Kopf überragte, erschien er mir immer wie der große Bruder, den Kurt nie gehabt hatte, nur ohne die typische Rivalität, die oft unter Geschwistern herrscht.

Bei unseren Gesprächen für dieses Buch äußerte Krist wiederholt: „Es ist immer schön, über Kurt zu reden.“ Krist ist inzwischen über fünfzig, und sein noch verbliebenes Haar wird langsam grau, aber er hat sich eine beinahe kindliche Unschuld und einen großen Idealismus bewahrt, was Musik und Politik betrifft. Auch heute klingt er immer noch bestrebt, seinen alten Bandkollegen zu beschützen. „Manche Leute dachten, Kurt sei faul, weil er keine Lust hatte, bei seinem Job als Hausmeister die Klos zu putzen, aber wenn es um Kunst und Musik ging, hat er stets unglaublich hart gearbeitet.“

Kurt zählte zu den wenigen Leadgitarristen, die eine Linkshänder-Gitarre mit normaler Saitenbespannung spielten, von daher hatte er als Musiker wenige Vorbilder. (Was die Musik betraf, hatte er sich fast alles selbst beigebracht; Noten lesen lernte er nie.) Manche Gitarristen wie Duane Allman und David Bowie, die eigentlich Linkshänder waren, spielten trotzdem wie Rechtshänder. Kurt, wie auch Jimi Hendrix, schrieb zwar mit rechts, spielte aber mit links.

Krist erinnert sich, dass Kurt immer damit beschäftigt war, Texte und Musik zu schreiben und zu überarbeiten. Als bildender Künstler war er ähnlich produktiv: „Eines Tages besuchte ich ihn in Aberdeen, und er zeigte mir selbstgezeichnete pornografische Comics, bei denen er einen Hund, Scooby Doo, mitspielen ließ. Sie waren echt gut! Kurt hat immer an Skulpturen, Bildern, Zeichnungen gearbeitet. Er hätte auch zur Kunstakademie gehen können. Er zog schließlich nach Olympia, weil in Aberdeen nichts los war.“ Courtney ergänzt: „Das war für ihn zwangsläufig. Erst in Olympia kam er mit Menschen in Kontakt, die nicht nur auf die Melvins und Black Sabbath standen, sondern auch noch auf andere Musik.“

Olympia liegt achtzig Kilometer östlich von Aberdeen und ist mit seinen rund 50.000 Einwohnern etwas größer als Kurts Heimatstadt. Das dortige Evergreen State College ist eine progressive Hochschule, die auf Noten verzichtet; zu den Absolventen zählen die Underground-Cartoonistin Lynda Barry und der Simpsons-Schöpfer Matt Groening ebenso wie Tobi Vail und Kathleen Hanna von Bikini Kill, Carrie Brownstein von Sleater-Kinney, der Sub-Pop-Gründer Bruce Pavitt und Calvin Johnson, der K Records gründete und zudem bei der einflussreichen Lokal-Band Beat Happening sang und Gitarre spielte.

Dass Olympia für den amerikanischen Punk eine so entscheidende Rolle spielte, lag auch am Radiosender des Evergreen-Colleges, KAOS, zu dessen Richtlinien es zählte, dass 80 Prozent der gespielten Songs von Indie-Labels stammen mussten. Hier trafen sich viele der späteren Schlüsselfiguren der Indie-Szene; Johnson und Pavitt hatten beispielsweise eigene Sendungen bei KAOS, bevor sie ihre Labels gründeten. 1987 gaben Nirvana im KAOS-Studio ihren zweiten öffentlichen Auftritt.

K Records gaben einen Newsletter heraus, auf dem das Label-Logo in Menschengestalt dargestellt und mit der Unterzeile versehen war: „Der echte Held kämpft gegen das vielarmige Kapitalismus-Monster und bricht den Bann musikalischer Unterdrückung“. Johnson trug maßgeblich dazu bei, die Leinwand der Indie-Rock-Kultur zu verbreitern. Azerrad zufolge war es K zu verdanken, „dass man sich unter Punk nicht länger einen Typen mit Irokesenschnitt und Lederjacke vorstellte, sondern ein nerdiges Mädchen mit Strickjacke.“ Stella Marrs schrieb in der Einleitung von Love Rock Revolution – K Records And The Rise Of Independent Music: „An die Stelle des Macho-Rock-Gotts der herrschenden Musikkultur war eine andere Form von Männlichkeit getreten, die sich auch einmal zu weinen traute.“ Damit konnte sich Kurt sehr identifizieren. Schon seit Beginn seiner Karriere war er bestrebt, ein Mann ohne Macho-Allüren zu sein.

Eric Erlandson, der später als Gitarrist zu Hole stieß und eng mit Kurt befreundet war, sagt über Olympia: „Es gab eine echte Underground-Szene, die immer schon Verbindungen nach Washington, D.C., pflegte.“ (Von dort stammten beispielsweise Fugazi, aber auch Dave Grohls erste Band Scream.) „Es war wie ein cooler, kleiner, inzestuöser Club, aber die meisten Leute waren offen und warmherzig. Kurt hinterließ bei den dortigen Musikern sofort einen großen Eindruck.“ Krist sagte über diese Zeit: „Kurt hatte schon jahrelang Songs geschrieben, und daher war er vielen anderen Musikern in seiner diesbezüglichen Entwicklung drei oder vier Jahre voraus. Nirvana fingen zwar als Musiker erst in Olympia und Seattle an, zeitgleich mit vielen anderen Bands, aber als Songwriter war Kurt schon auf einem anderen Level.“

Slim Moon machte 1986 seinen Highschool-Abschluss in Seattle und zählte zu einer Gruppe besessener Melvins-Fans, die zu jedem Konzert reisten, das in halbwegs fahrbarer Entfernung stattfand. Moon: „Die Melvins waren meistens mit einem Transporter mit Tigermuster unterwegs, der ihrem Roadie gehörte, und dieser Roadie war Krist.“ Bei einem dieser Gigs bemerkte Moon auch Kurt zum ersten Mal.

Nach der Schule zog Moon nach Olympia und besuchte das Evergreen College. Zwar gab er sein Studium bald auf, aber er blieb in der Stadt, weil er die Musikszene so großartig fand. Eines Abends gingen Moon und sein Highschool-Freund Dylan Carlson zu einer Party im Dude Ranch, einem Club in East Olympia, und kamen zum ersten Mal mit Kurt ins Gespräch; die gemeinsame Begeisterung für die Band Big Black sorgte sofort für eine gewisse Verbundenheit. Schon damals zeigte sich Kurts einzigartiger Sinn für Ästhetik. „Kurt trug einen sehr auffälligen Trenchcoat“, erinnert sich Moon.

Einige Monate später erlebte Moon bei einer anderen Party zum ersten Mal die neue Band von Kurt und Krist. Dale Crover von den Melvins saß am Schlagzeug. Sie nannten sich – zumindest an diesem Abend – Skid Row. „Damals änderten sie ihren Namen praktisch für jeden Gig“, sagt Moon. „Kurt trug Glam-Klamotten, sogar Plateauschuhe, aber es war klar, dass das reine Verarsche war. Vor allem erinnere ich mich daran, dass er kein Gitarrensolo spielte. Er hatte ein digitales Delay-Pedal, und es war ein bisschen so, als ob er halbe Gitarrensoli brachte, um klar zu machen, dass er sich über dieses Rock-Klischee lustig machte. Es war bemerkenswert.“

Moon, der inzwischen in Olympia kleinere Konzerte veranstaltete, buchte Kurts Band für ihren zweiten Gig. Er gibt zu, dass sein Freund Dylan Carlson „schneller raushatte als ich, dass Kurt ein Genie war“. (Kurt war bis zu seinem Tod mit Dylan befreundet, der höchstwahrscheinlich der letzte war, der ihn lebend sah.) Moon hingegen erkannte Kurts Qualitäten erst, als der damals Zwanzigjährige ihm einen Song vorspielte. „Das war so ein echter Ohrwurm, noch mehr als die meisten Sachen, die später dann auf Bleach landeten. Das haute mich wirklich um. Dass er mit den verschiedensten Formen spielte. Auf seiner Jeansjacke prangten zwar die Namen seiner ganzen Lieblingsbands, die auf Touch And Go und anderen Indie-Labels erschienen waren, aber er konnte trotzdem einen umwerfenden Killer-Song schreiben.“

Schon in dieser Lebensphase nahm Kurt gelegentlich Drogen. „Als ich umziehen musste, fragte ich Kurt, ob er mir helfen konnte. Zwar sagte er, dass er sich nicht gut fühlte, aber als ich einwandte, dass er der einzige meiner Bekannten war, der ein Auto hatte, half er mir beim Einpacken, verschwand kurz draußen, weil er kotzen musste, kam dann aber wieder und zog den ganzen Umzug mit mir durch. Das war so nett von ihm, dass er mich unterstützte, obwohl er sich so scheiße fühlte. Dass er Drogen nahm, war mir gar nicht klar.“

Olympia beschreibt Moon als „hartes Pflaster, wenn man als cool gelten wollte. Die Stadt stand in dem Ruf, ziemlich elitär zu sein, und es hieß, dass es dort ziemlich viele Cliquen gäbe. Kurt wollte sofort von den Leuten dort anerkannt werden, und das schaffte er natürlich auch. Die Band war viel zu gut, als dass man sie nicht akzeptiert hätte. Außerdem war er bei Partys echt lustig. Manchmal war er erst ganz still, und dann plötzlich konnte er den ganzen Raum unterhalten.“

Olympia war auch das Zentrum der Riot-Grrrl-Bewegung, die gerade, als Kurt dort hingezogen war, in Schwung kam. Die Musikjournalistin Ann Powers, die unter anderem für die in Seattle beheimatete Wochenzeitung The Rocket schrieb und inzwischen eine Reihe von Büchern über Rockmusik und Feminismus herausgebracht hat, erklärt: „Riot Grrrl war Punk Rock mit Bewusstsein. Eine der einflussreichsten Bands, Bikini Kill, veröffentlichte ihr Album auf dem von Moon gegründeten Label Kill Rock Stars, dessen Vertrieb über K Records lief. Kurt hatte, als er in Olympia lebte, eine heiße Affäre mit der Bikini-Kill-Schlagzeugerin Tobi Vail.“ Courtney bestätigt das: „Tobi war die erste Frau, die Kurt wirklich geliebt hat.“

Powers führt weiter aus: „Die Erfahrungen, die er in dieser Szene machte, sorgten dafür, dass Nirvana anders tickten als Mudhoney oder Pearl Jam. Er war mittendrin. Er war mit einer Frau zusammen, die feministische Musik machte, alle wichtigen Bücher zu dem Thema las und die Welt unter diesem Blickwinkel betrachtete.“ Kurt wiederum beeinflusste auch Vail. Sie sagte Everett True, dass sie von Kurt viel über Gesang gelernt hätte, unter anderem, wie man Schreie so einsetzte, als sei die Stimme ein Musikinstrument.

Einen festen Platz in der Kurt-Cobain-Legende nimmt die Geschichte ein, dass Kathleen Hanna, die Leadsängerin von Bikini Kills, an die Wand über seinem Bett die Worte „Kurt smells like teen spirit“ schrieb. Sie bezog sich dabei auf das Deodorant, das Vail benutzte, aber Kurts künstlerisches Genie verarbeitete den Ausdruck auf seine ganz eigene Weise in seinem wohl berühmtesten Song. Courtney pflegte zwar, wie allgemein bekannt ist, eine herzliche Abneigung gegen die Musikerinnen von Bikini Kills, die auf Gegenseitigkeit beruhte, aber in unseren Gesprächen 2018 erklärte sie respektvoll: „Ich war zwar nie ein Fan ihrer Musik, aber ihre Kultur fand ich großartig.“

Die Riot Grrrls und Courtney Love standen für zwei sehr unterschiedliche Überzeugungen, die Everett True so beschreibt: „Es gab Bands wie die Sex Pistols und The Clash, die überzeugt waren, dass man die Gesellschaft unterwandern, von innen aufbrechen und das System auf den Kopf stellen sollte, und auf der anderen Seite Leute wie Ian MacKaye und Fugazi, die meinten, dass man durch jede Berührung mit dem System korrumpiert würde und besser außerhalb komplett alternative Strukturen schuf. Kurt entschied sich offensichtlich für das Unterwandern. Und er war am Schluss mit Courtney Love zusammen und nicht mit Tobi Vail. Das sagt doch schon alles, oder?“

Das spiegelt sich auch in Kurts Tagebüchern aus der Zeit nach den Aufnahmen von Nevermind: „Durch die jüngsten Kontakte zu Angestellten des Kapitalismus-Monsters habe ich festgestellt, dass es eine Handvoll äußerst ehrenwerter und aufrichtiger Musik-Fans gibt, die sich als Feinde getarnt haben, um selbst die Mechanismen des Imperiums zu infiltrieren und um das zu zerstören, was wir als Scheiße erkannt haben.“

Dass Kurt schließlich beschloss, Olympia den Rücken zu kehren, führten einige seiner Biografen darauf zurück, dass seine Beziehung zu Vail zerbrach, aber Krist nennt einen anderen Grund. „Er war wesentlich talentierter als die meisten Leute in der Stadt. Eine Menge Leute in der Kreativszene sind reine Poser, die nichts wirklich erschaffen. Kurt hingegen war wirklich ein Künstler.“

Mir hatte Kurt oft gesagt, dass die elitäre Haltung dieser Szene ihm auf die Nerven gehe und sie ihn in seinem Ehrgeiz bremse. Eric Erlandson berichtet: „Ich konnte verstehen, was Kurt an Olympia gefiel, aber auch, was ihm nicht gefiel – dass es dort so verbohrt und wertend zuging und überall geklüngelt wurde.“ Kurt beschwerte sich Azerrad gegenüber: „Ich wünschte mir, die Leute würde nicht alles so beschissen ernst nehmen. Jeder in der Underground-Szene scheint für irgendeine Utopie zu kämpfen. Es gibt unglaublich viele kleine Grüppchen. Wenn es nicht gelingt, eine vereinte Untergrundbewegung zu schaffen, sondern ständig über irgendwelchen Kleinkram gestritten wird, wie will man dann auf breiter Ebene irgendwas bewirken?“ Die Punk-Szene in Olympia wollte allerdings auch nichts bewirken. Kurts Talent und seine Sensibilität wurden gefeiert, aber seinen Ehrgeiz ignorierte man.

Courtney Love hatte eine Zeitlang in Olympia gelebt, bevor sie Kurt kennenlernte, und dabei eine noch bitterere Einstellung zu der Szene rund um K Records gewonnen. In ihrem Song „Rock Star“ von Holes Album Live Through This machte sie sich gallig über die dort herrschende Selbstzufriedenheit lustig: „When I went to school in Olympia / And everyone’s the same / We look the same / We talk the same.“ In der Akustikversion, die sie für die Sendung des legendären BBC-Moderators John Peel aufnahm, fügte sie in sarkastischem Ton hinzu: „I went to school with Calvin.“

Sie bezog sich dabei auf Calvin Johnson von K Records, der Kurt auf Künstler wie die Vaselines und Jad Fair aufmerksam gemacht hatte, auf Musik, die nuancierter ausfiel als der harte Sound der lauten Punk-Bands, die ein größtenteils männliches Publikum anzogen. Zwar nahmen Nirvana nie etwas für K auf, aber im September 1990 spielte Kurt in Johnsons Sendung auf KAOS ein paar akustische Songs und coverte mit ihm gemeinsam den Wipers-Song „D-7“. (In dieser Sendung gab Kurt zudem bekannt, dass Dave Grohl die Band am Schlagzeug verstärken würde.) 1991, nachdem er aus Olympia weggezogen war und kurz, bevor Nirvana bei Geffen unterschrieben, ließ sich Kurt das K-Records-Logo auf den Unterarm tätowieren. „Es soll mich daran erinnern, ein Kind zu bleiben“, sagte er dazu. Er stand mit Johnson noch lange in Briefkontakt, auch nachdem Nevermind ein Welterfolg geworden war.

In der Woche, nachdem „Smells Like Teen Spirit“ erstmals im Radio gespielt worden war, veranstaltete K die International Pop Underground Convention (IPUC) in Olympia. Das dazugehörige Manifest verkündete unter anderem: „Schleichend weitet das Kapitalismus-Monster seinen Einfluss auf die Köpfe der Jugend in den Industriestaaten aus, und damit ist für die Rocker aus aller Welt die Zeit gekommen, sich zusammenzuschließen und unsere großartige Unabhängigkeit zu feiern. Weil das Kapitalismus-Monster die kreative Community mit der schwarzen Pest der vertraglichen Knechtschaft infiziert hat. Weil wir die Totengräber sind, die das graue Gespenst des Rockstar-Mythos begraben haben. Wir werden nicht verschwinden … Revolution ist das Ende. Revolution ist der Anfang. Lakaien des Kapitalismus-Monsters haben keinen Zutritt.“ Doch andernorts, im Bundesstaat Washington, standen schon neue Indie-Kräfte in den Startlöchern.

Erinnerungen an Kurt Cobain

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