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Das Tagebuch von Johnny M. Walker aus dem Gefängnis von Sonderborg.
ОглавлениеMein Zerwürfnis, meine Zerrissenheit, die Suche nach Liebe und Glücklichsein, meine Tat und mein Tod, meine Erlösung oder die Hoffnung, es danach zumindest besser zu haben.
Als ich geboren wurde, wurde mir der Name Johnny Mackebrandt Walker gegeben. Man sollte stolz sein, diesen Name zu tragen, würden viele Leute sagen, aber dieser Name wurde zu meinem Verhängnis.
Mein Vater heißt Walker und meine Mutter Mackebrandt. Wie ich mitbekommen habe, wollte die Familie Mackebrandt unbedingt, dass dieser Name auch auf meiner Geburtsurkunde steht, aber meinem Vater gefiel das weniger. Am Ende stand er doch darauf, aber ausgesprochen wurde er nie. Überall stand immer nur Johnny M. Walker.
Mein Vater ist Halbamerikaner, mein Großvater war ein hoher Offizier der amerikanischen Armee und später Diplomat, und meine Großmutter war eine Deutsche.
Meine Großeltern lernten sich während eines Aufenthalts meiner Oma in Kalifornien kennen. Das war am Flughafen, auf dem Weg zurück nach Deutschland. Mein Großvater, der Offizier, wurde gerade als Diplomat nach Bonn beordert.
Zurück in Deutschland verliebten sie sich schnell und kurze Zeit später wurde meine Oma schwanger. Sie wollte den Mann aber nicht heiraten, weil sie keine Lust hatte, als Ehegattin eines Diplomaten gezwungen zu sein, ein Nomadenleben zu führen. Das Kind aber wollte sie und freute sie sich sehr darüber. Sie nannte den Jungen Willy Hans Walker und sie lebten zunächst als Familie in Bonn.
Als mein Vater 4 Jahre alt wurde, wurde mein Opa nach Ägypten versetzt. Meine Oma lehnte ab, mit ihm dorthin zu gehen, und so begann langsam die Trennung. Meine Oma zog mit meinem Vater nach Darmstadt, um in der Nähe ihrer Familie zu sein. So wurde Darmstadt zu unserer Heimat, in der mein Vater aufwuchs.
In Darmstadt lernte mein Vater auch meine Mutter Margot Mackebrandt kennen. Sie war eine sehr schöne Frau. Ich bewunderte meine Mutter immer für ihre Schönheit und wünschte mir, später auch so eine Frau haben.
Meine Mutter studierte Architektur und mein Vater Volkswirtschaft. Nach ihrem Studium heirateten sie und kurze Zeit später wurde meine große Schwester Mia geboren. Erst 3 Jahre später kam ich zur Welt, der kleine Johnny M. Walker.
Wir lebten damals im Bessungen, in der Nähe des schönsten Parks Darmstadt, der Orangerie.
Wir verbrachten im Sommer wie im Winter sehr viel Zeit in diesem Garten, leider nicht mit unseren Eltern, sondern mit unseren verschiedenen Kindermädchen.
Mein Vater war kaum zu Hause, und wenn er spät abends nach Hause kam, war er immer schon sehr müde. Er spielte ein bisschen mit uns, dann musste er sich die Nachrichten ansehen, und davor mussten wir schon ins Bett gehen.
Meine Mutter kam immer erst, wenn wir vom Kindergarten abgeholt worden waren. Damals, in der Kindergartenzeit, hatte sie einerseits schon mehr Zeit für uns als Papa, aber ich war andererseits immer traurig, dass sie uns kaum selbst abholte, wie es die Mütter meiner Freunde taten. Als wir in die Schule kamen, hatten wir auch mit unserer Mama immer weniger Zeit. Sie arbeitete viel und kam jetzt auch immer spät nach Hause, genau wie Papa.
Wenn wir darüber klagten, warum sie und mein Vater wenig Zeit für uns hatten, sagte sie nur, dass der Papa und sie viel arbeiten müssten, damit es uns gut ginge. Ich sperrte mich dann immer in mein Zimmer ein und fragte mich, warum sie denn jetzt nicht sah, dass es uns nicht gut ging? Sie wollten doch, dass es uns gut ginge, sagte sie – warum ließen sie dann zu, dass es uns schlecht ging?
Aber ich wollte meiner Mutter nichts vorwerfen. Ich wollte ihr nie zeigen, dass ich so traurig war. Ich wollte meine Eltern nicht belasten. Meine Schwester hielt das genauso wie ich. Wir versuchten, das Verhalten unserer Eltern als etwas Gutes zu sehen. Sie wollten uns doch nur Gutes tun. Deswegen taten wir immer so, als ob wir uns freuten, dass unsere Eltern so viel arbeiteten. Im Gegenzug bekamen wir fast alles, was wir wollten, aber auch vieles, was wir nicht wollten oder brauchten. Unsere Eltern zwangen uns regelrecht zu konsumieren, als ob sie damit etwas in uns betäuben wollten. Es kam oft vor, dass mein Vater, wenn er tagelang nicht da war, darauf bestand, mit uns am Samstag in die Stadt zu fahren und shoppen zu gehen.
Wir gingen von Geschäft zu Geschäft. „Sieh mal, Johnny, ist das nicht schön? Das ist das neuste Handy, willst du das nicht?“ „Schau mal hier, Johnny, mein Liebling, sind das nicht spannende Spiele da? Oh, das sind Computerspiele, was meinst du? Ich kaufe dir dann auch einen Computer.“ „Du brauchst eine neue Jacke, die hier sieht aus wie im Katalog, das willst du doch, oder?“ So ging es dann immer weiter, ums Kaufen, Schenken, Geben und Haben. Aber ein neues Handy brauchte ich nicht. Mit wem sollte ich denn dann telefonieren? Ich war erst 10 und unter meinen Freunden verabredeten wir uns direkt nach der Schule. Wozu brauchte ich noch ein Handy? Ich hatte schon drei davon, noch unverpackt in meinem Schrank. Ich wollte nicht Computer spielen. Ich wollte lieber mit ihm in der Orangerie verstecken oder Fußball spielen. Ich liebte Fußball sehr. Mit meinen Freunden traf ich mich oft in der Orangerie, um Fußball zu spielen. Manchmal waren ihre Papas mit dabei, meiner aber fast nie.
Da ich im Fußball gut war, wurde ich beim SV98 aufgenommen. Wir trainierten drei Mal die Woche und hatten am Wochenende mindestens ein Spiel.
Damit ich es einfacher hatte, wie meine Mutter zu mir sagte, wurde ein Auto gekauft und ein Chauffeur eingestellt, der mich ins Training und zu den Spielen am Wochenende fuhr. Nur wenige Male war mein Vater bei einem Spiel dabei.
Ich war traurig, während dem Spiel niemanden zu hören, der meinen Name rief und mich anfeuerte, wie es die anderen Mamas und Papas an der Seite ihrer Söhne taten.
Ich schämte mich ein bisschen, wenn in der Pause alle Eltern mit der Trinkflasche zu ihren Söhnen liefen, ihnen die Flaschen reichten und mit ihnen über das Spiel redeten, um sie aufzubauen.
Es war zum Kotzen, wenn ich nach dem Spiel niemanden hatte, der mir sagen konnte: „Hey Johnny, das war gut, das hast du gut gemacht, du hast den einen da gut ausgedribbelt, deine Flanken waren super!“ Oder auch mit mir schimpfte: „Da hast du Fehler gemacht, dort hättest du mehr kämpfen müssen, schieße nicht immer sofort!“
Ich fühlte mich sehr einsam und der Fahrer redete kaum mit mir. Er fuhr mich hin, verschwand und kam erst wieder, wenn das Spiel fertig war. Unterwegs hörte er seine Musik aus seinem CD Player. Wenn wir zu Hause ankamen, gab er mir die Schlüssel und verschwand. Er war ein Student aus Kamerun. Wir hatten nur eine einzige richtige Unterhaltung, es ging darum, wer der beste Spieler der Welt war. Er sagte Roger Milla aus Kamerun; ich dachte eher an Maradona.
Ich war glücklich, wenn ich zu den Spielen gehen konnte und unglücklich, wenn ich nach Hause kam. Meine Eltern fragten nur: „Wie war es? Habt ihr gewonnen?“ Wenn ich ja sagte, sagten sie auch „Das ist toll“ und fragten weiter, wie ich denn gespielt hätte. Ich antwortete: „Ich weiß es nicht“ und sie kommentierten nicht weiter. Wenn ich aber sagte, wir hätten verloren, dann kam die fast schematisch abgespulte Antwort: „Das ist normal, Verlieren gehört dazu. Man kann nicht immer nur gewinnen.“ Ich verschwand dann sofort wütend in mein Zimmer. War das alles, was sie mir zu sagen hatten?
Meine Mutter kam zu diesen Gelegenheiten in mein Zimmer und versuchte, mich wieder aufzumuntern.
Es klang für mich paradox, als meine Eltern mir sagten: „Johnny, wir sind stolz auf dich. Johnny, du machst das gut.“ Ich sagte mir, wie können sie behaupten, dass ich etwas gut mache, wenn sie gar nicht wissen, nicht sehen, was ich überhaupt mache? Sie versuchten immer, die Familie als etwas Besonderes darzustellen. Wenn wir zum Beispiel im Urlaub waren, klang es in meinen Ohren fast zynisch, wenn sie sagten: „Wir haben es schön, wir sind doch eine glückliche Familie, wir haben es geschafft, wir können uns alles leisten und wir haben zwei tolle Kinder. Wir müssen auf uns alle stolz sein.“ Bei solchen Komplimenten an uns selbst versuchten Mia und ich auch zu lachen und am Ende waren wir fast überzeugt, dachten wir, dass wir doch eine gute Familie waren.
Damals schien es toll, so früh solche Freiheit zu haben. Wir durften alles tun, was wir wollten. In der Schule mussten wir nur die Fächer wählen, die uns gefielen. Ausgehen durften wir, wann wir wollten, mit wem wir wollten. Wir kamen nach Hause, wann wir wollten. Wir waren unabhängig.
Heute sehe ich die Sache total anders. Wir waren noch nicht so weit. Diese verfrühte Unabhängigkeit und so früh Verantwortung zu tragen hat uns mehr Schaden zugefügt, als es uns geholfen hat.
Herr Walker hörte auf zu lesen, schaute nach Anne Schmidt und sagte exklamatorisch: „Aber wir dachten immer, sie freuten sich, das zu tun, was die anderen nicht durften. Das war für uns ein Zeichen, dass wir ihnen vertrauten. Wir wollten, dass sie selbst für sich Entscheidungen treffen konnten und früh erkannten, was sie wollen und was sie nicht wollen, dass sie schon sehr früh ihren Weg erkennen können!“
„Haben Sie sie jemals nach ihrer Meinung gefragt, ob sie das überhaupt wollten? Diese frühe Verantwortung zu tragen?“, fragte Anne.
„Wir dachten, es tut ihnen gut“, antwortete Herr Walker leise und las weiter.
Sie meinten immer, dass sie uns vertrauen und dass wir groß genug seien, um allein zu entscheiden, was uns gefällt oder nicht. Somit hatten sie den Druck auf uns abgeladen und ihr eigenes Leben leichter gemacht. Es war doch einfacher für sie, sich auf die Couch zu legen, Fernsehen zu schauen, Zeitungen zu lesen oder zu telefonieren, als sich um die Hausaufgaben zu kümmern. Es war so viel bequemer für sie, als mit uns zu streiten und uns zu zwingen, zu überzeugen, dass wir doch dies oder jenes machen müssten. Es war erholsamer für sie, sich keine Sorgen über uns machen zu müssen, wenn wir zu spät nach Hause kamen. Nein, sie lagen zufrieden im Bett und schliefen.
Sie hatten sich wirklich ein gutes Alibi für ihr Gewissen ausgesucht. Freie Erziehung. Aber diese brachte nur ihnen etwas, uns zerstörte sie langsam, ganz langsam, aber ganz sicher unser Leben.
Nein, ich hätte es anders gewollt. Klar, dass sich jedes Kind über ein Geschenk freut. Es ist für einen Jugendlichen etwas Besonderes, auszugehen und nicht so früh nach Hause kommen zu müssen. Aber es wird zu einer Last, wenn du den Eindruck hast, dass sich niemand Sorgen um dich macht. Etwas könnte dir unterwegs passiert sein und deine Eltern liegen ruhig zu Hause und schlafen.
Ich provozierte oft, damit man mir meine Grenzen aufzeigte. Nichts kam zurück, immer wurde nur die Liebe betont. „Johnny, ich vertrau dir, mach, was du glaubst, was gut für dich ist.“ Ich wurde innerlich immer wütender und fragte mich, ob Eltern nur dazu da sind, uns finanziell abzusichern? Uns ein Dach über den Kopf zu geben? Uns Essen zur Verfügung zu stellen? Ich fragte mich Tag und Nacht, was denn die Verantwortung von Eltern sei. Warum müssen wir, die Kinder, in diesem Alter alles tragen? Warum müssen wir für uns allein entscheiden? Handeln? Wenn wir nach einem Rat fragten, kam immer nur die gleiche Antwort: „Höre in dich und tu das, von dem du glaubst, dass es dir gut tut.“ Wie viele Mal standen wir mit 14, 15, 16 da und wussten nicht, was uns gut tun würde?
Aber damals waren wir auch stolz, muss ich zugeben. Wir waren stolz, dass wir liebe Eltern hatten, die uns vertrauten und uns die ganze Freiheit überließen.
Heute sage ich nur, dass es gut war, aber diese Freiheit, diese Demokratie und Unabhängigkeit muss gelernt werden. Sie muss nach und nach übergeben werden. Zu spät ist schlecht, zu früh aber auch. Bei uns war es zu früh und wir haben es nicht verkraftet. Wir waren zu früh auf uns allein gestellt, ohne Schutz. Wie sehr wünsche ich mir jetzt, dass ich Gott gekannt hätte! Irgendetwas, das mir in der Zeit, in der ich nicht wusste, wie es mit mir weiter geht, zur Seite gestanden hätte. Mich einfach angepackt hätte und nicht nur gesagt hätte: „Du schaffst es, tu, was mit dir stimmig ist.“ Etwas , das mir einfach genau gesagt hätte, was ich tun sollte, wenn ich keine Ahnung mehr hatte, wie es weiter geht. Ein Gott, bei dem ich wüsste, er würde mich jetzt schützen, wenn ich angegriffen würde. Er würde die Angreifer verjagen, wenn ich in Gefahr wäre. Einer, von dem ich mir zu 100% sicher sein konnte, dass er über mich wachte.
Die Last, die sie uns zu tragen gaben, war zu schwer für uns in diesem Alter. Wir mussten nicht nur die Last tragen, uns selbst zu erziehen und die elterliche Verantwortung zu übernehmen, nein, wir mussten noch mehr tun. Das, was fast alle Kinder tun. Wir mussten unsere Eltern auch noch schützen. Wir mussten noch so tun, als ob sie Recht hätten. Als ob alles toll wäre, damit sie sich als die tollsten Eltern fühlen konnten. Schlimmer noch, wir durften nicht zeigen, dass wir keine Ahnung hatten, was uns gut tut. Denn das hätte geheißen, dass wir versagt hätten. Dass wir das Vertrauen unserer Eltern nicht verdient hätten. Sie wollten doch nur Gutes für uns tun. Wir trauten uns nie, ihnen etwas vorzuwerfen. Das haben wir übrigens bis jetzt nicht getan. Wir waren die Energiequelle unserer Eltern.
Es wurde dann langsam deprimierend, zu wissen und zu erkennen, dass wir nicht alles allein schaffen konnten und doch mussten. Es war für mich fast eine Schande, als ich merkte, dass ich doch jemand brauchte, der manchmal meine Hand hält. Dass ich noch ein Kind war und meine Eltern als Eltern brauchte. Es war für mich unerträglich, als ich die Grenzen meines „Ich“ erkannte. Ich hatte doch versagt. Meine Eltern hatten mich doch auf mich alleine gestellt, damit ich unabhängig von allen das erreiche, was ich möchte. Es tat weh zu sehen, dass nur auf mich zu hören bestimmte seelische Schmerzen nicht lösen konnte.
Ja, wie gesagt, kam leider alles anders. Wir spürten immer mehr, wie sich eine Leere in uns ausbreitete und fingen sehr schnell an, uns mit esoterischen und astrologischen Themen zu befassen. Wir suchten woanders die Antworten, die uns unsere Eltern verweigern hatten. Unsere Verwirrung wurde immer größer, wie auch unsere innere Instabilität.
Meiner Schwester ging es immer schlechter und sie fing an, in Therapie zu gehen. Worüber sie denn dort sprach, hatte ich sie einmal gefragt. Sie antwortete: „Ich weiß es nicht, Jo.“ Sie war die einzige, die mich „Jo“ nannte. Ich liebte meine Schwester sehr. Wir liebten uns gegenseitig sehr. Wir brauchten diese Liebe als Halt, weil wir beide das Gleiche erlitten.
Meine Schwester ging immer weiter in diese Richtung und probierte fast alles, was mit Esoterik zu tun hatte: Kartenlegen, Horoskope, Hellseher und vieles mehr. Aber alles brachte nur kurze Abhilfe, dann kam immer diese allgemeine Unzufriedenheit, von der man nicht wusste, woher sie kam. Sie war einfach da.
Du liebst dich selbst nicht, du fühlst dich unwohl, du bist hässlich, zu dünn oder zu dick.
Langsam folgte ich ihr auf diesem Weg der Suche nach dem, was mich glücklich machen würde. Fresssucht entstand bei uns beiden und bei mir auch Sexsucht. Die Fresssucht hatte ich ein bisschen unter Kontrolle, meine Schwester aber überhaupt nicht. Sie aß und fraß wie der Teufel, nur um die nächste Woche wieder zu hungern, um die Pfunde wieder los zu werden.
Bei mir war es der Sex, durch den ich mich bestätigt fühlte. Darin, dachte ich, hätte ich Erfolg. Da Gott mich bestens bestückt hatte und die Frauen, weiß Gott warum, darauf wie verrückt reagierten (auch wenn sie alle immer sagten, es käme nicht auf die Größe an) wechselte ich die Frauen wie die Slips. Je älter, desto besser. Je ähnlicher eine Frau meiner Mutter sah, desto schöner fand ich sie. In solche Frauen war ich dann nicht verliebt, aber ich war abhängig von ihnen. Wenn ich so eine Frau hatte, wollte ich nicht mehr, dass sie wegging. Ich habe an ihnen gehangen und geweint, wie ein kleines Kind, das Geborgenheit suchte. Leider zerstört gerade dieses Abhängigkeitsverhalten die Beziehungen und am Ende war ich doch wieder allein, allein mit meinem Kummer und mit der Einsamkeit.
Meine Eltern waren sehr viel unterwegs. Irgendwann fing auch unsere Mutter an, viel zu reisen. Sie meinte, wir wären schon groß genug und bräuchten gar keine Erwachsenen mehr. Außerdem gäbe es einen Chauffeur und ein Dienstmädchen zu Hause. Wir hassten diese Reisen. Jedes Mal, wenn sie zurückkamen, fragten wir uns schon, wann sie wieder gehen mussten. Es stresste uns sehr, in dieser Anspannung und dieser Angst zu leben. Wir freuten uns sehr, wenn sie wieder da waren, aber die Freude verschwand wieder viel zu schnell, weil sie auch in Darmstadt weiter arbeiteten, jeden Tag bis in den frühen Abend hinein, und am Samstag waren sie oft auf verschiedenen Feiern, wo Leute, die dachten, sie wären ganz oben angekommen, sich trafen, um über New York, Johannesburg, Kairo, Peking, Montreal, Sidney und Prag zu reden, über Boote, das neue Haus, die neue Eroberung, das neue Kleid und ähnliches. Sie taten so, als ob alles wunderbar wäre, während ihre Kinder allein im Bett zu Hause lagen und weinten.
Zu Hause schien in der Familie alles gut zu laufen. Ich fragte mich aber immer öfter, was das für eine Art von Familienliebe ist, die mich als Mensch nicht befreien kann? Eine Liebe, die die Kinder nicht glücklich machen kann? Anscheinend ging es nur unseren Eltern gut. Ich und meine Schwester waren schon fast krank, innerlich unglücklich und unzufrieden, ohne wirklich zu wissen, warum.
Anne Schmidt unterbrach Herr Walker mit einer Zwischenfrage:
„Herr Walker, haben Sie nicht gemerkt, dass es ihren Kindern schlecht ging?“
Herr Walker seufzte, biss sich auf die Lippen und sagte:
„Sie haben ihre Gefühle verdammt gut versteckt. Vielleicht lag es daran, wie er sagt, dass sie uns nicht beunruhigen wollten? Dass sie uns nicht zeigen wollten, dass wir versagt hatten? Klar haben wir uns darüber unterhalten, meine Frau und ich. Aber wir dachten natürlich nicht, dass das etwas mit uns zu tun hätte. Wir dachten bei unserer Tochter an Liebeskummer oder so etwas in der Art, aber sonst haben sie uns immer vorgespielt, dass alles normal wäre. Sie machten uns Komplimente. Wenn sie unterwegs waren und uns Karten geschickt haben, stand immer drauf, dass wir die liebsten Eltern der Welt seien. Es war ein Dilemma für sie. Sie haben uns schützen wollen, anstatt dass wir sie geschützt haben. Ja, es sollte aber andersrum sein, sie brauchten unseren Schutz. Vielleicht war es wirklich zu früh? Meine Frau wollte darüber aber nicht diskutieren. Sie wollte es so. Sie bestand darauf, die Kinder schon so früh in die Selbständigkeit und Selbstverantwortung zu schicken. Klar möchte ich mich selbst da nicht rausziehen. Es tut mir nur leid, so eine Sache durch ein Tagebuch zu erfahren, die man vielleicht gemeinsam hätte lösen können. Es tut mir im Herzen weh.“
„Wollen Sie mal eine Pause machen? Oder ich kann gern auch weiterlesen“, schlug Anne Schmidt vor, als sie sah, wie schlecht es Herrn Walker sichtlich ging.
„Nein, es ist schon okay. Ich möchte lieber selbst weiterlesen. Ich habe Angst, dass mich eine Pause dazu verleiten könnte, nachzudenken und meinen Mut zu verlieren, Weiteres zu erfahren. Jetzt möchte ich aber da durch. Wenn Sie müde sind, können wir aber auch eine Pause machen“, antwortete er.
„Nein, ich glaube, ich habe den gleichen Eindruck wie Sie, ich möchte alles wissen. Von mir aus können Sie weiterlesen. Ich habe Zeit“, sagte sie.
In der Familie lief alles prima, aber bei meiner Schwester und mir lief gar nichts. Richtig enge Freunde hatten wir wenige.
Wir versagten bei fast allem, was wir taten und fingen nun doch als Erwachsene an, an unseren Eltern zu hängen. Das machte mich noch unglücklicher. In diesem Alter lösen sich Kinder normalerweise von ihren Eltern, aber bei uns war das Gegenteil der Fall. Wir schämten uns sehr dafür. Sehr früh mussten und durften wir alles allein machen. Damals hingen unsere Freunde an ihren Eltern, die sich sehr um sie kümmerten. Wir machten uns darüber lustig, da sie immer eine Erlaubnis von Mama und Papa brauchten, um ins Kino zu gehen. Wir lachten sie aus, wenn sie sich beklagten, dass sie nicht ausgehen durften, bis sie ihre Matheaufgaben richtig gemacht hatten. Wir fanden es cool, mit 13 oder 14 auszugehen und nach Hause zu kommen, wann wir wollten, wenn unsere gleichaltrigen Freunde um 23 oder 24 Uhr zu Hause sein mussten. Wir machten uns darüber lustig, wenn Kinder, die nur eine Stunde länger draußen blieben, als es vereinbart worden war, von ihren Eltern angerufen wurden, um zu wissen, was los ist, ob etwas passiert sei. Aber insgeheim wünschten wir uns das auch. Ich spürte schon damals, dass ich diesen Schutz brauchte, um keine Angst zu haben.
Ja, es war komisch, nun dabei zuzusehen, wie die meisten Freunde nach ihrem Abi aus dem elterlichen Haus ausgezogen waren und jetzt in einer WG oder in ihrem eigenen Studentenzimmer wohnten. Andere verließen Darmstadt und gingen ganz woanders hin, studierten sogar im Ausland.
Aber wir blieben zu Hause und konnten doch nicht mit der uns viel zu früh gegebenen Freiheit, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung, umgehen. Der Erziehungsstil meiner Eltern war nach hinten losgegangen.
Sie hatten nun zwei gebrochene Kinder, die mit sich selbst kämpften und ihren Weg suchten. Anstatt dass unsere Eltern konsequent blieben und uns unseren Weg allein suchen ließen, wie sie es schon seit Jahren machten, kam jetzt wieder alles anders. Sie wurden wieder fürsorglicher und machten uns somit finanziell und emotional noch abhängiger von ihnen denn je. Das war verrückt. Damals, als sie sich um uns hätten kümmern sollen und für uns hätten sorgen sollen, hatten sie uns für unabhängig erklärt. Jetzt aber, in diesem Alter, in dem ein normales Kind von den Eltern loskommen sollte, banden sie uns wieder fest an sich. Ich frage mich echt, jetzt und hier in dieser Zelle: „Was wollten sie denn mit uns? Hatten sie sich auch nur einmal die Frage gestellt, was für uns gut gewesen wäre?“ Nein, ich glaube nicht, ich bin überzeugt, dass sie nur ihre eigene Lebensphilosophie leben wollten. Sie haben uns sehr geliebt, da bin ich mir sicher. Aber diese Liebe hat uns nieder gedrückt und zerstört. Sie haben am Ende immer nur das getan, was zu Ihnen selbst besser passte.
Als sie Zeit für sich brauchten und noch jung waren und noch ihr Leben leben wollten, hielten sie es für eine gute Idee, uns früh in die Freiheit zu schicken. Nun, da sie älter waren und uns brauchten, drehten sie das Spiel einfach um, und am Ende blieben sie die guten Eltern und wir die unfähigen Kinder, die Versager, die ohne Papa und Mama nichts schaffen können. Vielleicht finden sie darin einen Sinn ihres Lebens?
Alles wurde noch schlimmer, als meine Eltern sich entschieden, eine Villa im Steinbergviertel zu kaufen. Die Entscheidung dazu fiel mehr auf Druck meiner Mutter. Meinem Vater war das ziemlich egal, glaube ich. Das Haus, das wir in Bessungen hatten, war schon sehr schön, aber meine Mutter wollte ein Statussymbol haben und sie hatten inzwischen ja auch genug Geld verdient.
Wir kauften das neue Haus, ein sehr schönes Haus, wie ich fand. Aber ab diesem Zeitpunkt fing meine Mutter an abzubauen. Das neue Haus raubte ihr die letzte Kraft.
Es ging meiner Schwester immer schlechter. Um sich den Mann ihres Lebens zu angeln, hungerte sie monatelang und war nun richtig dünn. Sie kam auch tatsächlich mit dem Mann zusammen, obwohl ihr Psychologe ihr davon abgeraten hatte. Er hatte ihr gesagt: „Du bist, wie du bist, hungere nicht, damit er dich liebt. Er wird dich gerade auch deswegen wieder verlassen.“ Meine Eltern aber unterstützen sie in diesem Wahn. Mit diesem Mann blieb sie genau gesagt auch nur 3 Wochen zusammen, bis er sich doch in eine kräftigere Frau verliebte und sich von Mia trennte. Er begründete es damit, dass meine Schwester sehr dünn geworden wäre und jetzt nichts Weibliches mehr an sich hätte. Weiter sagte er, die neue Frau wäre eine richtige Frau und Sex mit ihr wäre toll. Ein Mann muss etwas anfassen können, betonte er. Ja, genau so machte er mit ihr in einer Mail Schluss. Da meine Schwester diesen Mann sehr liebte, versuchte sie, nach der Trennung wieder zuzunehmen, in der Hoffnung, Jonas würde zu ihr zurückkommen. Leider kam Jonas nicht zurück, im Gegenteil: Er verlobte sich mit seiner neuen Freundin, die wenig später ein Kind von ihm bekam.
Meine Schwester ertrug diese Niederlage nicht und wurde immer dicker und dicker. Sie ging kaum noch raus und keine Therapie konnte ihr mehr helfen.
Eines Tages, an einem Wintertag, wollte sie zu einem Hofgut herausfahren, um reiten zu gehen. Eine Stunde später erreichte uns die Nachricht, dass Mia tot sei. Wir wissen bis heute nicht, ob es ein Unfall war, wegen des Eises und der Glätte, oder Selbstmord. Auf jeden Fall schlug das Auto gegen einen Baum, so heftig, dass von dem Auto nur noch Schrott übrig blieb. Sie wurde zerquetscht und war nicht mehr zu erkennen.
Nach diesem plötzlichen, aber irgendwie schon vorhersehbaren Tod meiner Schwester veränderte sich meine Mutter. Sie machte sich immer häufiger Vorwürfe, dass sie mit uns falsch umgegangen wäre.
Als Einzelkind wurde ich nun noch mehr bemuttert, anstatt dass sie mich frei ließ.
Meine Mutter fing auch an, in Therapie zu gehen. Es dauerte Monate, bis die Therapie erste positive Wirkungen zeigte. Meine Mutter wurde wieder stärker und das neue Haus wurde immer wichtiger.
Es schien alles wieder vorwärts zu gehen, als meine Mutter an einen Nachmittag vor dem neuen Haus plötzlich zusammenbrach. Sie wurde ins Krankenhaus gebracht, wo ihr Krebs im Endstadium diagnostiziert wurde. Obwohl sie regelmäßig zur Krebsvorsorge gegangen war, wurde anscheinend zu spät festgestellt, dass sich der Krebs schon weit verbreitet hatte. Die Ärzte waren sehr erstaunt, dass sie bis zu diesem Tag durchgehalten hatte. Nur zwei Wochen nach der Einlieferung starb sie.
Das war ein Schock für mich. Innerhalb eines Jahres hatte ich meine Lieblingsschwester und nun auch meine Mutter verloren. Ich hasste das Leben, ich hasste das Geld und ich hasste das luxuriöse Haus, weil es das ganze Materielle symbolisierte, das meinen Eltern immer so unglaublich wichtig gewesen war. Ich beschuldigte mich selbst. Ich beschuldigte meinen Vater. Ich beschuldigte alle, die ich konnte.
Es ging mir total schlecht. Ich wollte nicht einmal an der Beerdigung meiner Mutter teilnehmen. Ich wollte weg. Ich wollte verschwinden. Ich wollte dahin, wo die beiden sich befanden.
Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie ich weiterleben sollte. Ich hatte keine echte Beziehung zu meinem Vater. Alles lief immer über Mama. Mama hier, Mama da. Es war immer Mama. Mein Vater war mehr ein ruhiger Typ, der sich bei fast allem heraushielt. Er hasste Konfrontationen und gab bei Streitereien mit meiner Mutter immer schnell klein bei.
Nun mussten wir zu zweit leben und auskommen.
Ich wollte nicht umziehen. Ich sah in dem neuen Haus einen Fluch. Erst nachdem das Haus gekauft worden war, fing es an Tote in der Familie zu geben. Dieses Haus brachte nur Pech und Unglück. Mein Vater glaubte, ich würde lieber gestern als heute das Haus wieder verkaufen.
Dann fanden wir einen Brief meiner Mutter, der uns 2 Monaten nach ihrem Tod zugestellt wurde. Der Brief war ein Schock, aber auch eine Befreiung. Meine Mutter hatte schon gewusst, dass sie Krebs hatte und bald sterben würde. Sie hatte uns nicht Bescheid gesagt, damit wir uns keine Sorgen machen mussten und außerdem, weil sie unbedingt wollte, dass das Haus blieb, das Haus, für das sie so viel getan hatte, so viel angekauft hatte. In dem Brief bat sie meinen Vater, das Haus nicht zu verkaufen und noch im gleichen Jahr einzuziehen. Also zogen wir ein paar Monaten später in das Haus ein und lebten nun zu zweit darin weiter.
Ich war eigentlich schon zu alt, um noch bei meinem Vater zu leben, aber ich wollte ihn nicht alleine lassen. Er wollte keine andere Frau haben, was ich nicht gut fand. Ich dachte immer, dass vielleicht eine neue Frau ihm das Lachen wieder bringen könnte.
Ehrlich gesagt, jetzt, da ich sehr oft alleine mit meinem Vater war, fragte ich mich, ob sie sich wirklich geliebt hatten. Ich meine, er und meine Mutter. Ich hatte ein komisches Gefühl, dass meine Mutter zu dominant war und mein Vater doch nicht ganz glücklich mit ihr war, aber trotzdem mitgemacht hatte, weil es so für ihn einfacher war.
Auf jeden Fall war ich fertig mit meinem Jurastudium und arbeitete nun in einer Anwaltskanzlei in Frankfurt. Ich musste jeden Morgen hin und kam erst wieder abends zurück nach Hause. Das tat mir gut, weil ich so wenig Zeit zu Hause verbrachte. Aber gleichzeitig ärgerte mich genau das sehr, weil ich, wie mein Vater früher, nur noch an die Arbeit dachte. Aber ich beruhigte mich damit, dass ich Single war und niemand darunter leiden musste. Die Anwaltskanzlei gehörte einem Freund meines Vaters. Deswegen wollte ich so schnell wie möglich da weg, um mein eigenes Ding zu machen. Ich wollte nicht mehr von Papa abhängig sein und ihm alles verdanken. Aber irgendwie schaffte ich es nicht. Ich war am Ende doch viel abhängiger von meiner Familie, als ich es gedacht hatte.
Eines Tages kam eine Klientin in die Kanzlei, um die ich mich kümmern sollte. Sie kam wegen eines Scheidungsfalls zu uns. So lernte ich meine zukünftige Frau kennen.