Читать книгу Letzter Halt - Danuta Reah - Страница 7
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An einem Donnerstagabend im Dezember sah Debbie den Mörder.
Sie hatte gerade ihren Abendkurs hinter sich und wollte das College verlassen. Es war schon spät – etwa halb zehn. Die Studenten hatten sie nach dem Unterricht noch in Gespräche verwickelt, und als sie endlich die Bücher im Dozentenzimmer abgelegt und ihren Mantel geholt hatte, stand Les Walker schon in der Eingangshalle und wartete darauf, dass er hinter ihr abschließen konnte.
Er klirrte mit den Schlüsseln, während sie auf ihn zulief, und tippte viel sagend auf seine Uhr. »Haben Sie denn kein Zuhause?«
»Viel hab ich davon jetzt auch nicht mehr«, erwiderte sie und sah ebenfalls auf die Uhr. »Tut mir Leid. Müssen Sie morgen in aller Frühe wieder anfangen?« Debbie hasste es, andere warten zu lassen. »Habe ich Sie vom Nachhausegehen abgehalten?«
Les schüttelte den Kopf. Er wirkte nicht allzu verstimmt. »Nein, es wird sowieso nach zehn, bis wir hier fertig sind. Ich muss noch die Räume im obersten Stock kontrollieren.«
Er öffnete das schwere Eingangstor. Ein Windstoß drückte es gegen ihn, und Regen spritzte auf den Fußboden.
»Eine raue Nacht«, bemerkte er. »Haben Sie Ihr Auto auf dem oberen Parkdeck stehen? Das haben wir noch nicht abgeschlossen.«
»Nein.« Debbie blickte bedrückt auf den dunkel glänzenden Asphalt. »Ich fahre mit dem Zug.«
»Dann passen Sie nur gut auf sich auf.« Les war ganz ernst geworden. »Denken Sie an diese Mädchen…«
Danke, Les, sehr aufbauend. »Das war doch weiter drüben, hinter Doncaster.«
»Sie haben ihn noch nicht. Der tut es wieder. Ein Irrer wie der macht so lange weiter, bis er gefasst wird. Typen, die sowas machen, gehören aufgeknüpft, das sage ich Ihnen…«
Das Geräusch von Schritten auf den Außenstufen brachte ihn zum Schweigen, und Rob Neave, der Sicherheitsbeauftragte, drängte sich durch die Tür. Die Haare klebten ihm regennass im Gesicht, und von seiner Jacke tropfte Wasser. »Sind Sie hier fertig?«, fragte er Les und grüßte Debbie mit einem Nicken.
»Muss nur noch die obere Etage kontrollieren.« Da Rob Neave für die tägliche Sicherung des Gebäudes verantwortlich war und ihm außerdem der Ruf eines neuen Besens nacheilte, waren die Hausmeister vor ihm auf der Hut. »Ich bringe nur noch Debbie raus. Gerade habe ich ihr gesagt…«
Erneut frischte der Wind auf, und das Klappern eines Fensters, das an seinen Scharnieren nach hinten schwang, unterbrach ihn. Les sah Debbie an. »Seien Sie bloß vorsichtig.« Damit verschwand er die Treppe hinauf und ließ sie mit Rob Neave allein.
Sie machte ihre Aktentasche zu und sah zur Tür. »Ich muss jetzt los«, sagte sie unsicher, während der Wind den Regen gegen die Fenster peitschte.
»Stehst du auf dem oberen Parkdeck? Die Lichter sind aus. Ich begleite dich hinüber.« Spätabends war das Parkhaus dunkel und verlassen.
»Schon gut«, sagte sie. »Danke. Ich fahre mit dem Zug.«
Nachdenklich sah er sie an. Ihr war klar, dass ihr Regenmantel nur einem kurzen Schauer standhielte und ihre Schuhe für dieses Wetter zu leicht waren. Heute Morgen war es doch noch schön! Sie zog ihren Schirm hervor, und er schüttelte den Kopf und lachte. Er hielt ihr die Tür auf und sah ihr nach, wie sie die Stufen hinabging und sich abmühte, den Schirm gegen den Wind aufzuspannen. Dann schloss er die Tür und überließ sie den Launen des Sturms.
Denn ein Sturm war es tatsächlich. Es goss in Strömen, und der Wind peitschte den Regen umher, nach oben, unter ihren Schirm, wehte ihn gegen sie, wo er ihr eisig ins Gesicht schlug, während sie versuchte, ihren Mantelkragen hochzuziehen. Eilig lief sie den Hügel in Richtung Bahnhof hinab. Sie war später dran als sonst, doch vielleicht hatte das schlechte Wetter ihren Zug ja aufgehalten, sodass sie ihn noch erwischen könnte. Wenn nicht, durfte sie sich darauf gefasst machen, eine halbe Stunde auf dem eiskalten Bahnsteig herumzustehen. Es gab zwar einen kleinen Warteraum mit Sitzen und einem Heizkörper, doch der wurde immer abgeschlossen, wenn die Letzten vom Bahnhofspersonal um neun Uhr gingen.
Sie erreichte die Hauptstraße und wartete auf Grün. Es regnete zu heftig, um zu sehen, ob ein Auto kam. Die Luft roch ungewöhnlich sauber. Normalerweise war diese Kreuzung von übel riechenden Abgasen verpestet, doch anscheinend hatte der Regen sie beseitigt. Das grüne Männchen leuchtete auf, und sie ging eilig über die Straße und auf die Brücke zu. Sie könnte es gerade noch schaffen. Als sie die Brücke überquerte, hörte sie, wie der vom Regen angeschwollene Fluss an den schmalen Ufern vorbeirauschte.
Der nächste Windstoß packte sie, und sie hörte Glas splittern. Das gäbe morgen einige Versicherungsfälle, dachte sie und nahm sich vor, am nächsten Tag zu prüfen, ob Dachziegel herabgefallen waren. Platschend durchschritt sie die Pfütze vor dem Bahnhof und stand dann endlich im Trockenen.
Der Fahrkartenschalter war bis auf die Aufforderung, den Fahrschein im Zug zu kaufen, eine blinde Fläche. Die Tafel, auf der die ankommenden Züge angekündigt wurden, zeigte schwarzweißes Chaos – ein weiteres Opfer des Sturms. Debbie lief in Richtung Bahnsteig los, falls ihr Zug bereits eingefahren war. Sie hastete die überdachte Rampe entlang, wurde aber langsamer, als sie sah, dass kein Zug dastand. Hatte sie ihn verpasst, oder hatte er Verspätung?
Der Bahnsteig war leer, und langsam merkte sie, dass mit dem Licht etwas nicht in Ordnung war. Es war gelb und flackerte, aber nicht hell genug. Die Schatten in den Ecken waren größer und dunkler, und im Warteraum herrschte tiefste Finsternis. Sie zog an der Tür. Abgesperrt. Der Bahnsteig gegenüber – der einzige andere Bahnsteig – lag im Dunkeln, und die blonde junge Frau, die manchmal zur gleichen Zeit wie Debbie auf der anderen Seite der Gleise wartete, stand nicht da. Es stand überhaupt niemand da, also musste der Zug nach Doncaster schon weg sein.
Ich wollte doch nicht an Doncaster denken.
Der Wind verfing sich im Bahnsteigschild und ließ es an seiner Kette gegen die Rohre klappern. Der Regen prasselte auf dieses seltsame gelbe Licht, und dann herrschte Stille.
Beklommen trat Debbie an die Bahnsteigkante, um nach dem Zug Ausschau zu halten. Unter ihren Füßen knirschte es. Sie sah nach unten. Glas, zerbrochenes Glas. Ihr fiel ein, dass sie Glas splittern gehört hatte, als sie über die Brücke kam, und sie blickte sich um. Sah nach oben. Das Glas über der Lampe war zerbrochen, und die Leuchtröhre saß locker, weshalb sie dieses matte, flackernde Licht abgab.
Das war nicht der Wind. Jemand hat es zerbrochen. Jemand hat es genau in dem Moment zerbrochen, als ich über die Brücke ging. Aber es ist niemand aus dem Bahnhof herausgekommen.
Sie schaute sich um, die Rampe hinauf, in Richtung des einzigen Ausgangs. Ihr Mund wurde trocken. Am oberen Ende der Rampe stand jemand, rührte sich nicht, sah nur zu ihr auf den Bahnsteig hinab. Sie konnte ihn – es musste ein Mann sein, er war so massig – nicht deutlich ausmachen. Das Licht war hinter ihm. Die Vernunft sagte ihr: Es ist ein Fahrgast, sei nicht albern, doch auf ihren Armen stellten sich die Haare auf, und ihr Herz raste. Die Gestalt begann die Rampe hinunter und auf sie zuzugehen.
Es gibt kein Entkommen!
In diesem Moment hörte sie den Zug. Angespannt wartete sie auf seine Lichter in der Dunkelheit. Ihre Knie waren weich, und sie hätte am liebsten schon nach der Tür gegriffen, als der Zug noch an ihr vorbeifuhr und langsamer wurde. Ohne auf das Lichtsignal zu warten, drückte sie den Knopf zum Tür öffnen, und als die Tür endlich aufging, fiel sie beinahe in den Wagen. Dann kam sie sich albern vor und sah aus dem Fenster, um zu verfolgen, was ihr beängstigender Mitreisender tat.
Doch es war niemand da.
Debbie kam erst spät nach Hause. Sie klappte ihren Schirm zu, schüttelte ihn dabei aus und hastete die Passage entlang, die zur Rückseite der Zeile kleiner Reihenhäuser führte. Durch die Küche trat sie ein, warf Mantel und Schirm neben die Hintertür und ging rasch zum Wohnzimmer durch. Dort schaltete sie die Gasheizung an und blieb ein paar Minuten davor stehen, um die Wärme aufzusaugen. Debbie träumte davon, in ein warmes und einladendes Haus zu kommen, doch sie hatte keine Zentralheizung und rechnete auch nicht damit, sich in absehbarer Zeit eine leisten zu können. Das Gehalt einer jungen Dozentin im Bereich Weiterbildung gestattete keine Sonderwünsche.
Langsam wurde es warm im Raum. Debbie sah sich mit einem gewissen Stolz um. Sie hatte das Haus vor achtzehn Monaten gekauft. Es war – laut Maklerjargon – modernisierungsbedürftig gewesen. Sie hatte sich nicht Miete und Hypothek gleichzeitig leisten können, also lebte sie in dem Haus, indem sie ein Zimmer mehr oder weniger bewohnbar hielt, während um sie herum neue Leitungen gelegt, Installationen eingebaut und Wände verputzt wurden. Nach und nach sah es nun so aus, wie sie es sich vorstellte, und dieses Zimmer war schon fast fertig. Ein Teppichboden hatte ihre finanziellen Möglichkeiten überschritten, aber ihre Mutter hatte ihr den Perserteppich aus dem selten benutzten Wohnzimmer in dem Haus angeboten, wo Debbie aufgewachsen war. Debbie hatte ihn genommen, die Dielenbretter selbst geschliffen und versiegelt, und nun prangte der Teppich in der Mitte des Fußbodens. Einen Teppichboden wollte sie nicht mehr, seit sie gesehen hatte, wie der Perser wirkte. In dem kleinen Raum standen sehr wenige Möbel – zwei Sessel und ein poliertes Holztischchen dazwischen.
Rechts und links des Kaminvorsprungs waren Regale angebracht. An den Wänden hingen Bilder – eine Zeichnung der Wälder bei Goldthorpe und ein gerahmtes Poster von der Monet-Ausstellung, die Debbie vor ein paar Jahren in der Royal Academy gesehen hatte. Den einzigen anderen Schmuck bildete eine Gruppe Fotografien auf dem Tisch.
Die Fotografien zeigten ausschließlich ihre Familie – ihren Vater mit einer jüngeren Debbie, der stolz auf seine Tochter hinabsah, während sie breit grinste und irgendeine Trophäe schwenkte. Wofür hatte sie die bekommen? Beim Schwimmwettkampf der Junioren? Ihre Mutter sah in ihrem Graduiertentalar der Open University ungewohnt ernst drein. Sie hatte darauf bestanden, dass ein offizielles Foto gemacht wurde. Ich habe lange genug auf diesen Tag gewartet, hatte sie Debbie und ihrem Mann erklärt. Und ein späteres Bild von ihrem Vater, etwa ein Jahr vor seinem Tod aufgenommen.
Die Katzentür klapperte, und Debbies Katze kam aufgeregt in den Raum gerannt, mit hoch gerecktem Schwanz und atemlos miauend. Debbie nahm sie auf den Arm und ging in die Küche, um nach dem Büchsenöffner zu suchen. Die Katze schnupperte an ihrem Ohr und krallte sich ungeduldig in ihre Schulter. Debbie setzte sie auf den Fußboden, wo sie ihr immer wieder zwischen die Beine geriet und sie zum Stolpern brachte, während Debbie eine Schüssel mit Futter füllte. Sowie die Schüssel auf dem Boden stand, steckte die Katze entschlossen den Kopf hinein und fraß. Debbie hatte eigentlich gar keine Katze haben wollen. Sie war viel weg und brauchte ihre Freiheit, daher war es einfach unpraktisch, doch als das zerzauste Kätzchen hinter dem alten Schuppen im Garten aufgetaucht war, konnte sie es einfach nicht abweisen. Eine Woche hatte sie gebraucht, um das kleine Tierchen näher heranzulocken, und fast eine weitere Woche, bis es sich von ihr anfassen ließ. Danach kam es immer häufiger ins Haus. Zwei Wochen später rümpfte es die Nase über billiges Katzenfutter und stürzte sich auf Debbies Knöchel, wenn sie vorüberging. Debbie taufte die Katze Buttercup, Butterblume, weil sie so ein gelb geschecktes Fell hatte.
Ihr fiel der nasse Regenmantel in der Küche ein, also holte sie ihn in den Flur und hängte ihn an einen Haken. Wenn er nicht rechtzeitig trocknete, müsste sie morgen ihre Jacke anziehen. Irgendetwas in ihr sperrte sich dagegen, sich in aller Ruhe hinzusetzen. Nach einem Abendkurs brauchte sie meist etwa eine halbe Stunde, um abzuschalten, während sie ein Glas Wein oder auch ein Bier trank und Musik hörte. Danach nahm sie ein zweites Glas Wein mit hinauf ins Badezimmer und ließ sich ein heißes Bad einlaufen – den Boiler so zu stellen, dass er sich donnerstags früher einschaltete, war ein Luxus, den sie sich gönnte –, und dann lag sie da, schlürfte den Wein und entspannte sich. Wenn sie müde wurde, ging sie ins Bett, wo sie normalerweise binnen Minuten einschlief und erst wieder aufwachte, wenn um acht der Wecker klingelte.
Sie schenkte sich ein Glas Wein ein, kehrte ins Wohnzimmer zurück und setzte sich vor den Gasofen. Die Begegnung am Bahnhof ging ihr nach, sie konnte sich nicht beruhigen. Wenn sie die Augen schloss, sah sie wieder dieses seltsame Licht vor sich. Das Trommeln des Regens an ihrem Fenster wurde zum Trommeln des Regens auf der Bahnsteigüberdachung. Die Gestalt auf dem Bahnsteig begann auf sie zuzugehen, doch ihre Beine waren schwer, und sie konnte sich nicht bewegen. Sie versuchte zu schreien, aber ihre Stimme war zu schwach, um irgendeinen Laut hervorzubringen. Sie sah sich nach dem einfahrenden Zug um, doch das Gleis war verschwunden, neben ihr verlief ein schnell dahinfließender Fluss, glatt und gefährlich. Sie sah zu Boden, und auf einmal floss der Fluss unter ihren Füßen. Das dünne Gitter, auf dem sie stand, begann sich aufzulösen. Die dunkle Gestalt war hinter ihr, aber sie konnte sie nicht sehen.
Sie schreckte aus dem Schlaf empor, das Bild zerfiel, und das Rauschen des Flusses wurde zum Zischen der Gasflamme. Zeit, ins Bett zu gehen.
Früh am nächsten Morgen, nicht lange nach Mitternacht, als der Sturm sich gelegt hatte, bremste ein Güterzug, der eine Ladung Alteisen von Leeds nach Sheffield transportierte, am Signal vor der Abzweigstelle bei Rawmarsh etwas ab. Als er hinter der Gleiskreuzung wieder Geschwindigkeit aufnahm, bemerkte der Lokführer etwas, das zusammengesackt an einem Mast neben dem Gleis lehnte. Es hätte ein Sack Müll sein können. Er gab es über Funk durch, und die Meldung ging an die Ermittler des zuständigen Polizeireviers.
»Wo genau hat er gesagt?« Kevin Naylor ging am Gleis entlang und leuchtete mit seiner Taschenlampe die Strecke in Richtung Brücke ab. Hier waren die Gleisanlagen besonders schwer zugänglich – sie hatten mit dem Auto einen matschigen Feldweg entlangholpern und dann zur Brücke laufen müssen.
»Direkt hinter der Abzweigstelle.« Seine Partnerin Cath Hill war sauer. Es war kalt und nass, und sie hatte keine Lust, sich auf der Suche nach irgendwelchen abgeladenen Müllsäcken durch das dichte Gebüsch neben den Gleisen zu zwängen. Sie hatten gerade zurück ins Revier fahren und Pause machen wollen, als die Meldung eintraf. Sie stocherte in den Büschen herum. »Hier liegen genug Kondome, um eine Fabrik aufzumachen. Es muss direkt am Gleis sein, hat er gesagt, gleich nach der Abzweigstelle. Angehalten hat er nicht, ist aber langsamer geworden, also ist es vermutlich nicht allzu weit von hier. Er hat irgendwas von einem Mast gesagt. Bringen wir’s hinter uns, damit wir zum Auto zurückkönnen.«
Als sie die Gleise abgingen und mit ihren Taschenlampen vor sich her leuchteten, verblassten die Lichter des Stahlwerks hinter ihnen. Cath leuchtete mit ihrer Taschenlampe in die Büsche. Die nassen Blätter warfen den Schein glitzernd zurück, doch das Licht konnte die Finsternis in dem dichten Laub kaum durchdringen. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, und irgendetwas raschelte und bewegte sich im Unterholz. Sie richtete ihre Taschenlampe auf das Geräusch, doch es wiederholte sich nicht. Der Wind frischte wieder auf, und Cath musste sich dagegen stemmen, als er durch die Blätter fegte und einen plötzlichen Guss Regenwasser herabschüttelte. Vor ihr lag ein Hohlweg, wo das Gleis in der Finsternis verschwand. Cath war nicht scharf darauf, diesen engen Raum zu betreten, ohne zu wissen, was sie erwartete. Die Haare auf ihren Armen stellten sich langsam auf, und sie spähte am Gleis entlang nach hinten, um sich zu vergewissern, dass sie nicht allein war.
Sie leuchtete mit ihrer Taschenlampe durch die Rinne und ließ den Strahl den nassen Stein hinauf und hinab wandern. Jetzt konnte sie den Mast sehen, direkt hinter dem anderen Ende, und ja, es lehnte tatsächlich etwas Massiges daran. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen, und vor Anspannung verkrampfte sich ihr Magen. Ihre Sinne waren hellwach. Sie rief nach Kevin, der weiter hinten mit der Taschenlampe das Gebüsch ableuchtete. Er machte sich auf in ihre Richtung. Cath ging auf den Mast zu. Sie beeilte sich nun nicht mehr, weil sie wusste, was sie dort vorfände. Im Schein der Taschenlampe konnte sie bereits helles Haar ausmachen, und beim Näherkommen fiel ihr auf, dass das Gesicht der Frau seltsam überschattet war und ihre Augen große, dunkle Kreise bildeten. Sie ging zu ihr hinüber und kauerte sich vor sie hin. Dann leuchtete sie ihr direkt ins Gesicht.
»O Gott, o Scheiße!« Sie riss ihre Lampe zurück, als Kevin ihr über die Schulter leuchtete. Sie vernahm seinen Aufschrei, als er sich abwandte. Das Gesicht der Frau war unten mit schwarzem Klebeband bedeckt, das von weitem wie dunkle Schatten gewirkt hatte. Ihre Augen waren – weg. Blutige Höhlen starrten ihnen entgegen, während der Kopf von dem Draht, der fest um den Hals gezurrt war, nach hinten an den Mast gedrückt wurde.
Rob Neave drehte sich im Bett um. Das Radio hatte ihn geweckt: halb sechs, gerade rechtzeitig für den Seewetterbericht und Landwirtschaft heute. Er wachte meist um diese Zeit auf, ob er nun Frühschicht hatte oder nicht, und hörte sich die Sendung entweder beim Aufstehen an oder er blieb liegen und lauschte, während der Seewetterbericht in die Landwirtschaftssendung und später in Today überging. Heute Morgen machten sich die Bauern mal wieder Sorgen wegen der Schweine. Langsam wurde er zum Schweineexperten – oder zumindest zum Experten für Schweinefleischpreise. Er hatte in seinem ganzen Leben noch kein echtes Schwein gesehen.
Er beschloss, wieder um halb acht anzufangen. Es reizte ihn wenig, zu Hause zu bleiben, und wenn er nicht zur Arbeit musste, fiel es ihm schwer, überhaupt aus dem Bett zu kommen. Brachte irgendwie nichts. Er war am Abend zuvor erst nach zehn nach Hause gekommen, hatte dann noch Musik gehört und ein paar Biere getrunken. Es war ein langer Tag gewesen, also hatte er sich etwas zu essen gemacht und war ins Bett gegangen. Das Einschlafen war ihm schwer gefallen. Schließlich hatte er das Radio angemacht, bis Sendeschluss zugehört und dann zum BBC World Service umgeschaltet.
Er kam gerade aus der Dusche und trocknete sich ab, als er den Schluss des ersten Nachrichtenbeitrags aufschnappte. … Heute in den frühen Morgenstunden wurde an einer Bahnstrecke in South Yorkshire die Leiche einer Frau gefunden. Ein Polizeisprecher gab bekannt, dass es noch zu früh sei, um zu sagen, wie die Frau ums Leben kam. In den letzten achtzehn Monaten wurden in South Yorkshire bereits drei Frauen ermordet, deren Leichen auf oder neben Bahngleisen abgelegt worden waren…
Er hörte sich den Rest des Beitrags an, in dem die früheren Morde zusammengefasst, aber keine weiteren Angaben über die Tote gemacht wurden. Er sah Deborah Sykes in ihrem leichten Regenmantel vor sich, wie sie sich abmühte, den Schirm gerade zu halten, als sie am vergangenen Abend im Sturm verschwunden war. Er beschloss, aufs Frühstück zu verzichten, und zog sich an, wobei er nach Schlüsseln und Geldbeutel Ausschau hielt. Zehn Minuten später bremste er an der ersten Ampel, die ihn mitten auf einer leeren Straße bei Rot anhalten ließ.