Читать книгу Bilder vom Tod - Danuta Reah - Страница 10
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Kerrys Tagebuch
Ellies Mama ist tot. Ich ging zur Beerdigung, aber ich ging spät hin, weil ich nicht wollte, dass mich jemand sieht. Ich fand es gruselig, weil die ganze Erde auf einem Haufen lag, wo sie begraben war, nicht so wie bei den anderen Gräbern, und auch die Blumen lagen alle auf einem Haufen. Ich möchte nicht begraben werden, wenn ich sterbe. Da war ein Grab mit Ellies Namen, und jemand hatte rote Blumen darauf gelegt. Ich wurde traurig, als ich sie sah …
Ich habe mich verirrt und verspätet. Lyn war nicht da. Sie wird sauer auf mich sein. Sie sagte, es gehe um Papa. Ich verstehe nicht, was sie meint. Sie hat ihnen Dinge über Papa gesagt. Es war nicht ihr Fehler. Das sagte Papa. Nur jetzt sagt sie was anderes, und ich muss sie treffen. Aber sie ist jetzt bestimmt sauer auf mich.
Kerry hörte Mamas Schritte auf der Treppe und schob das Tagebuch unter ihre Matratze. Die Schritte näherten sich ihrer Tür und stoppten, dann schlurften sie vorbei, und sie hörte, wie Mamas Tür zuging. Das war’s dann für diese Nacht. Sie hatte Mama unten in der Küche zurückgelassen. Beim Tee war Mama nett gewesen, hatte Kerry über die Schule und über ihre Freunde und all die Dinge ausgefragt, über die sie sich immer unterhielten. Kerry hatte ihre Ofenpommes auf dem Teller hin und her geschoben und dabei versucht, das Richtige zu sagen, aber Mama hatte ihren großen grünen Becher auf dem Tisch stehen, den, von dem sie behauptete, sie habe Tee drin. »Tee ohne Milch«, pflegte sie zu sagen, mit einem Lachen, das eigentlich keines war, als ob Kerry ein Kind wäre und nichts wissen würde. Und nach einer Weile fing sie an.
»Wo warst du am Montagabend?«, fragte sie.
Kerry glaubte, ihre Mama habe ihre Verspätung nicht bemerkt. Es muss schon halb elf gewesen sein, als sie ihren Schlüssel ins Schloss schob und sich – nicht nur vor Kälte – zitternd ins Haus schlich. »Bei Stacy«, sagte sie. Sie tauchte eine Pommes in Bohnensauce. Die dünne rosa Flüssigkeit tropfte auf das Tischtuch.
»Kerry!« Mama sprang auf und kam um den Tisch herum zu Kerrys Platz. »So eine Schweinerei. Auf dem sauberen Tischtuch!« Sie schien den Tränen nahe zu sein. Sie packte Kerry am Arm. »Mach das sauber!«, schimpfte sie und versuchte, den Fleck mit dem Ärmel von Kerrys T-Shirt wegzuwischen, ihrem besten Shirt, das sie selbst mit Pailletten bestickt hatte, damit es gut aussah. Kerry riss sich los und spürte den brennenden Schmerz im Gesicht, dort, wo sie die Hand ihrer Mutter getroffen hatte. Danach herrschte Stille.
Kerry senkte den Blick auf ihren Teller. Sie wusste, was als Nächstes kam.
»Es tut mir Leid, mein Schatz, es tut mir Leid, Kerry, ich wollte nicht …« Und sie drückte Kerry an sich, an den chemischen Geruch und die Ausdünstung von Zigaretten und Schweiß.
Das Tischtuch war ohnehin dreckig. Überall waren Flecken, und einige davon kamen daher, dass Mama ihr Getränk über den Tisch spritzte, wenn sie redete und lachte und dabei mit den Händen wedelte. »Warum bringst du Stacy nicht mal wieder hierher?«, sagte Mama nach einer Weile. »Sie könnte bei dir übernachten, ich weiß doch, dass euch so was gefällt, dass ihr gern bei anderen übernachtet. Erinnerst du dich noch, als du und Ellie …« Ihre Stimme verlor sich, und sie nahm den Becher und leerte ihn. »Ich brauche noch etwas Tee«, sagte sie.
»Ich bring ihn dir«, bot Kerry rasch an. Wenn Mama jetzt nichts mehr bekam, dann würde sie vielleicht schlafen gehen und dann wäre sie vielleicht am Morgen nicht so schlecht gelaunt.
»Nein, du bleibst, wo du bist, mein Schatz«, entgegnete Mama. »Du hast einen anstrengenden Schultag hinter dir. Ich hole ihn mir.«
Kerry rutschte vom Stuhl. »Du warst in der Arbeit …«, begann sie und bemerkte, wie Mamas Blick ihr auswich, und da wusste sie, dass Mama nicht in der Arbeit gewesen war, wieder nicht. »Ich hole ihn dir«, sagte sie.
»Ich sagte doch, ich werde ihn holen!« Es war ein Aufschrei, unvermittelt und scharf, und Mama ging in die Küche und schlug hinter sich die Tür zu. Kerry saß am Tisch und presste die Augen zusammen. Ihre Arme kribbelten und juckten, und sie rieb sie. Dann schob sie ihren Ärmel hoch und zog ihre Nägel über die Haut, aber das unangenehme Gefühl blieb, und so kratzte sie sich immer und immer wieder, bis die Haut ganz wund war und das Muster der zarten roten Linien, die kreuz und quer über ihre Arme liefen, rot und zornig hervorstach. Sie hörte, wie Mama sich in der Küche bewegte. Sie rief: »Ich gehe jetzt und mache meine Hausaufgaben.«
Mama Stimme klang schleppend. »Tu … das.«
Kerry saß auf ihrem Bett. Draußen war es dunkel. Die Straßenlampe war kaputt, aber sie wusste, dass es spät sein musste, denn die Kinder. die auf dem Grundstück gespielt hatten, waren heimgegangen. Sie gähnte. Mama sollte wissen, warum sie Stacy nicht mit nach Hause brachte, und auch sonst niemanden. Einmal hatte sie Stacy mitgebracht, und Mama war anfangs auch okay gewesen. Kerry war nicht entgangen, wie Stacy sich im Raum umsah, der so anders war als zu Hause bei Stacy. In Stacys Haus gab es überall Kissen und getrocknete Blumen und kleine Ornamente und drei verschiedene Vorhänge an den Fenstern.
Und dann hatte Mama davon zu erzählen begonnen, wo sie früher gewohnt hatte und wie anders dort alles gewesen war. Voller Qual hatte Kerry »Mama!« gesagt, und dann hatte Mama zu schreien begonnen und war im Sessel eingeschlafen. Am nächsten Tag in der Schule hatte Kerry mitbekommen, wie Stacy mit ein paar anderen Mädchen flüsterte, aber da ohnehin keiner Stacy leiden konnte, sagte auch keiner etwas.
Kerry knipste das Licht aus und rollte sich unter ihrer Decke zusammen. Sie war von der Schule abgehauen und würde Ärger bekommen, aber sie hatte in jener Nacht geträumt. Sie hatte von Lyn geträumt, vom Kanal und vom Treidelpfad, und dass sie im Dunkeln auf dem Treidelpfad war und dass etwas sie jagte und ihre Beine sich nicht bewegen wollten, als wäre die Luft zäh geworden wie Sirup. Sie erinnerte sich, in den Bogengang zurückgeblickt zu haben, und dass sie im Wasser etwas gehört hatte. Dann war es auf einmal ein strahlender heißer Tag gewesen, und der Fluss glitzerte in den Sonne, und da war Ellie, aber sie lief vor Kerry weg, schneller und immer schneller, und wie laut Kerry auch rief, sie drehte sich nicht um.
Kerry wachte in der Dunkelheit auf. Ihr Gesicht fühlte sich nass an. Das Bild wollte nicht verschwinden – das Grab mit Ellies Namen darauf, und die Blumen, rot wie der Pullover, den Kerry an diesem Tag getragen hatte. Sie wollte Lyn treffen. Mit Mama konnte sie nicht reden, und mit Papa auch nicht. Früher hatte sie immer mit Maggie geredet, aber Maggie schickte sie weg. Und jetzt war auch Maggie tot.
Vielleicht hatte Lyn woanders auf sie gewartet. Vielleicht hatte Lyn versucht, sie zu erreichen. Kerry hatte nicht auf ihr Handy geschaut, hatte es in den Tiefen ihrer Tasche vergraben und versucht, nicht daran zu denken, wie das Wasser im Kanal Strudel gebildet und sich gekräuselt hatte, als würde etwas sich durchs Wasser bewegen, verstohlen, geräuschlos, forschend.
Morgen war der Tag, an dem sie von Papa einen Brief bekam. Er schrieb jede Woche, aber in letzter Zeit … Vielleicht könnte sie ihm erzählen, was Lyn gesagt hatte, vielleicht würde Papa wissen, was sie meinte, und er könnte Kerry sagen, was sie tun musste. Als sie wieder einschlief, sah alles ein wenig rosiger aus. Wg.dIem Papa. CU Cafy 7 KONIZUSPÄ …
Es war kurz nach acht am folgenden Morgen, als DCI Farnham sein Team zusammentrommelte. Die Leiche aus dem Kanal war nun offiziell ein Mordopfer. Tina Barraclough schüttelte ihren Kopf frei, der von den Schlaftabletten, die sie am Abend genommen hatte, noch benebelt war. Die Tabletten sorgten wenigstens dafür, dass sie nicht träumte. Dave West hatte ihr einen Platz freigehalten, und sie bahnte sich ihren Weg durch die Gruppe, um sich neben ihn zu setzen. »Mit wem warst du denn gestern zugange?«, fragte er.
Dann sah sie also immer noch schlecht aus. Na gut. »Mit keinem, den du kennst«, erwiderte sie.
Knapp, effizient und leidenschaftslos fasste Farnham den Obduktionsbericht zusammen, der bestätigte, was sie bereits herausgefunden hatten – die Frau, die sie aus dem Kanal gefischt hatten, war umgebracht worden.
»Wir haben eine vorläufige Identifizierung«, berichtete Farnham. »Sie wohnte in einer der Wohnungen über der Galerie – und sie hieß Cara Hobson. Wir müssen das bestätigen, die nächsten Verwandten ausfindig machen, geht das klar? Sie wurde umgebracht. Möglicherweise hat man versucht, es wie einen Selbstmord aussehen zu lassen, aber nur sehr halbherzig.«
»Vielleicht hat derjenige, der es war, gar nicht die Absicht gehabt, sie zu töten«, schlug einer der Beamten vor. »Geriet in Panik und hat sie anschließend in den Kanal geworfen.«
»Sie ist im Kanal ertrunken«, entgegnete Farnham. »Das ist die Todesursache. Aber der vorläufige Obduktionsbefund legt nahe, dass wir es mit einer vorsätzlichen Tat zu tun haben.«
Obwohl Caras Arme und Beine nackt waren, als ihre Leiche aus dem Wasser geborgen wurde, gab es Spuren an ihren Hand- und Fußgelenken, die darauf schließen ließen, dass sie irgendwann vor ihrem Tod gefesselt gewesen sein musste. Ein Stück Schnur, das zu den Markierungen an den Handgelenken passte, war im Wasser gefunden worden. »Der Kanal hat keine Strömung«, erklärte Farnham, »also wird alles, was sie verloren hat, noch in der Nähe sein. Wir haben weder ihre Tasche noch eine Geldbörse gefunden. Ihr Geld, ihre Karten, ihre Schlüssel – das alles fehlt.«
Die Verletzung an Caras Händen war aufgefallen, als man die Leiche aus dem Wasser gehievt hatte. »Es sind keine Abwehrverletzungen«, sagte Farnham. »Und sie hat sich auch nicht die Finger gebrochen, weil sie versuchte, ihren Hals aus der Schlinge zu befreien. Sie wurden ihr gebrochen, ehe sie starb – jemand hat sie verdreht, bis sie brachen.«
Darauf folgte Gemurmel im Raum. Farnham hielt einen Stoffsack mit einer Kordel hoch. »Das war um ihren Hals gebunden und mit einem Stein beschwert. Auf diese Art und Weise ertränkt man einen Hund, man wirft ihn mit einem Ziegelstein um den Hals in den Kanal. Aber die Obduktion ergab – zwar nicht definitiv, aber doch sehr wahrscheinlich –, dass sie bereits ertrunken war, ehe ihr der Sack um den Hals gebunden wurde.« Er erklärte das mit den Abdrücken des Stricks, der um Caras Hals gebunden war. »Es gibt nur geringfügige Einblutungen im weichen Gewebe – womöglich war es eine nachträgliche Überlegung, um sicherzugehen, dass ihr Kopf auf alle Fälle unter Wasser blieb. Es gab keinen Versuch, die Leiche zu verstecken – sie steckte im Schlamm. Hätte man sie ins Wasser geworfen, wäre sie gesunken, und dann hätten wir sie wahrscheinlich erst nach einer Weile gefunden.«
Und durch das Untertauchen sind alle Spuren von Caras Mörder zerstört worden, die womöglich auf ihrem Körper zu finden gewesen wären. »Und das bedeutet«, hatte Farnham ausgeführt, »was immer auch passiert ist, hat Zeit in Anspruch genommen und ging nicht geräuschlos vonstatten. Es ist unwahrscheinlich, dass sie in der Wohnung überfallen wurde. Die Nachbarin hat nichts gehört. Keiner am Kanalufer hat irgendwas gehört. Es gibt also noch einen anderen Ort. Er hat einige Zeit mit ihr verbracht.«
Die Pathologin war nicht in der Lage gewesen, den Todeszeitpunkt genau festzustellen. Durch die Kälte des Wassers war diese ohnehin schon problematische Feststellung noch schwieriger geworden. Der Zeitpunkt von Caras Tod konnte irgendwann zwischen zehn Uhr abends und kurz nach Mitternacht liegen. Sie war mindestens schon sechs Stunden tot, als sie um halb sieben Uhr morgens aus dem Kanal gezogen wurde.
Tinas Gedanken wanderten zurück zu der Wohnung, dem düsteren Raum, den nicht funktionierenden Lichtschaltern, den schweren Decken vor den Fenstern, dem flackernden Kerzenlicht. Sie verpasste die nächsten Ausführungen. West stupste sie an, und sie rekonstruierte hastig, was Farnham gefragt hatte: Um welche Uhrzeit hatte Eliza Eliot Cara in der Wohnung gehört? »Gegen Mitternacht«, sagte sie. »Sie kommt heute vorbei, um ihre Aussage zu Protokoll zu geben.«
Farnham betrachtete sie einen Moment und fuhr dann fort. Tina konnte wieder atmen. Ihr fiel das Gespräch ein, das sie mit dieser Eliot am Vorabend geführt hatte, hin und her gerissen zwischen Kopfschmerz und Müdigkeit, die sie zu überwältigen drohten. Eliot hatte mit Entschiedenheit behauptet, Cara gehört zu haben, war sich aber wegen der Zeit unsicher. »Ich war – ich denke, ich bin wach geworden«, hatte sie gesagt. »Ich glaube, ich hatte geschlafen. Also muss es um – vielleicht fällt mir ja etwas ein, woran ich den Zeitpunkt festmachen kann.«
»Nun, war es vor Mitternacht oder nach Mitternacht?« Tina hatte nichts anderes im Sinn gehabt, als nach Hause zu gehen, sich hinzulegen und die Kopfschmerzen loszuwerden, die sie dem Speed zu verdanken hatte und die immer schlimmer wurden.
Eliot hatte sie angesehen. »Ich bin nicht …«
»Wir brauchen nur eine ungefähre Vorstellung.« Wenn sie nicht bald hier herauskam, würde sie sich übergeben müssen.
»… davor. Glaube ich.«
»Und wenn ich um Mitternacht sagte?«, hatte Tina vorgeschlagen.
Als sie daran dachte, fühlte sie, wie ihr Gesicht heiß wurde, und sie konzentrierte sich auf ihre Notizen, um das zu verbergen. Aber Mitternacht dürfte in etwa richtig sein.
Farnham kam zum Schluss. »In der Wohnung herrschte Unordnung«, berichtete er. »Kissen lagen durcheinander herum, Sachen quollen aus den Schubladen und Schränken heraus. Es sieht nicht nach einem Kampf aus – aber ausschließen können wir das nicht, jedenfalls nicht, bis die Kriminaltechniker dort fertig sind.« Die Kerze hatte etwa achtzehn Stunden lang gebrannt – aber auch das war kein Hinweis auf die Zeit, zu der Cara die Wohnung verlassen hatte.
Da war noch was. Cara Hobson war vor drei Wochen auf der Broad Street aufgegriffen und beschuldigt worden, dort nach Freiern Ausschau gehalten zu haben. Tina spürte, wie die Stimmung im Raum sich veränderte. Ein Murmeln ging durch das Team. Sie glaubte, bei einigen Männern sogar eine gewisse Entspannung feststellen zu können. Ein verwirrender Fall, der plötzlich einfacher geworden war. Eine Prostituierte. Das war zwar ein Unglück, aber so etwas passierte eben. Berufsrisiko.
Tina war die Aufgabe übertragen worden, sich die Sachen durchzusehen, die man aus Cara Hobsons Wohnung geholt hatte. Das war eigentlich etwas für die normalen Streifenbeamten, und Tina fragte sich, ob Farnham ihr Zuspätkommen, die Anzeichen eines Katers und ihre Konzentrationsschwierigkeiten bemerkt hatte. Sie musste sich zusammenreißen. Lustlos durchwühlte sie den Haufen Papier und versuchte, dabei nicht auf die Uhr zu schauen. Eliza Eliot würde am späteren Vormittag vorbeikommen, um ihre Aussage zu machen. Das wäre eine Unterbrechung.
Wenn ihr Kopf sich von den Schlaftabletten nur nicht wie Watte anfühlen würde. Sie könnte es ja versuchen und ihrer Aufmerksamkeit mit ein wenig … Sie ließ den Gedanken fallen. Wenn sie jetzt den letzten Rest von ihrem Kokain nahm, würde sie das für den Moment zwar beleben, aber der spätere Zusammenbruch wäre garantiert. Sie machte sich an ihre Aufgabe, die Sachen durchzusehen, die von der Kriminaltechnik aus der Wohnung mitgenommen worden waren.
Sie erinnerte sich an die ersten Eindrücke in der Wohnung – ein seltsam düsteres Kinderzimmer, erhellt vom flackernden Kerzenlicht. Dass es wie ein Kinderzimmer aussah – eigentlich eher wie ein Kinderschlafzimmer, überlegte Tina –, kam von dem im Raum verstreuten Spielzeug, das für ein Kleinkind viel zu groß war: ein Schaukelpferd, eine Puppe, ein Teddybär, alles größer als das Baby selbst; eine Tagesdecke, bedruckt mit Motiven aus Kinderreimen. Vermutlich versuchte Cara, eine idealisierte Kinderwelt für Briony Rose zu schaffen. Die sie selbst vielleicht nicht gehabt hatte? Diesen Gedanken sollte sie im Auge behalten.
Sie durchwühlte die Kleider. Cara hatte formlose, sackartige Kleidung bevorzugt, weite Jeans mit ausgestelltem Bein, locker sitzende Sweatshirts, aber es gab auch ein paar Überraschungen – eine Baskenmütze, Spitzenstrümpfe und etwas, das nach altmodischer Schuluniform aussah –, merkwürdige Kleidungsstücke für eine Frau von Caras Alter und Geschmack.
»Das gibt nicht viel her«, bemerkte Dave West. Er hatte Zeugenaussagen aufgenommen und war hereingekommen, um Tina seine Hilfe anzubieten, nicht weil sie diese nötig gehabt hätte, sondern als Geste der Unterstützung. Er nahm sich eine Schachtel mit Papieren vor.
Gemäß den Aussagen von Eliza Eliot und Jonathan Massey hatte Cara etwa drei Monate lang in der Wohnung gewohnt. Es hätten Rechnungen vorhanden sein müssen: von den Stadtwerken, vom Finanzamt. Es hätte auch irgendwelche Nachweise für Caras Einkünfte geben müssen: Bankauszüge, Mietunterlagen der Wohnbaugesellschaft, Belege der Sozialhilfe. Aber da war nichts. Es hätten auch persönliche Dinge zu finden sein müssen: Adressen, Telefonnummern, irgendwas, das auf Freunde hinwies, auf Verabredungen. Aber wieder war nichts zu finden. Keiner in der Galerie wusste von Besuchern – Eliza Eliot hatte das einsame Leben, das Cara Hobson führte, sogar ausdrücklich erwähnt.
Es war kein Telefon installiert. »Gibt es denn ein Mobiltelefon?«, fragte West.
Tina überprüfte das. Es schien nahe liegend, aber nichts deutete auf ein Handy hin, und es gab auch keine Abrechnung. »Das müssen wir überprüfen.« Tina machte sich eine Notiz. Ein Mobiltelefon könnte jede Menge nützliche Informationen liefern. Caras Mörder könnte es auch an sich genommen und weggeworfen haben. »Glaubst du denn, dass jemand die Wohnung ausgeräumt hat, ehe wir hinkamen?«
West zuckte mit den Schultern. Möglich wäre es. »Was sagt die Kriminaltechnik?«, erkundigte er sich.
»Die identifizierbaren Fingerabdrücke in der Wohnung waren die von Cara. Es gibt auch einen Daumenabdruck, der bis jetzt noch niemandem zugeordnet werden kann. Sie befassen sich noch damit. Abgesehen davon deutet nichts auf einen Einbruch hin.« Aber es waren Sachen aus den Schubladen gezerrt und im Raum verstreut worden. War das die allgemeine Unordnung, in der Neunzehnjährige zu hausen pflegten? Die Wohnung selbst war trostlos und ohne jeden Komfort – die Wände frisch geweißelt, das Badezimmer ungefliest, kein Herd, rohe Bodenbretter.
Nachdem sie mit den Kleidungsstücken fertig war, machte Tina sich an die Papierstapel, die Dave vorsortiert hatte. Es war, wie er gesagt hatte: nicht viel. »Ich werde mit den Leuten reden, die die Wohnungen vermieten«, sagte Tina. »Dieser Trust oder was auch immer es ist.« Auf der Suche nach einer Telefonnummer überflog sie ihre Notizen.
»Hier.« Dave hatte die Nummer gefunden.
Tina manövrierte sich durch das elektronische Beantwortungssystem, drückte die von der Automatenstimme vorgeschriebenen Tasten, bis sie endlich ein menschliches Wesen am anderen Ende der Leitung hatte. Die Frau erklärte, tatsächlich etwas von der Wohnung über der Second Site Galerie zu wissen, ließ sich Tinas Nummer geben und versprach, zurückzurufen.
»Sie hat ›Wohnung‹ gesagt.« Tina erinnerte sich, dass sie die Galerie in der Erwartung aufgesucht hatten, nur einen Bewohner anzutreffen.
»Stimmt einen nicht gerade zuversichtlich.« DC West packte die Sachen zurück in die Kartons. »Wenn der Chef aus dem Zeug hier was herausholt, ist er ein besserer …«
Das Telefon klingelte. »Wir haben eine Mieterin«, informierte die Frau vom Trust Tina. »Miss Eliza Eliot. Sie übernahm die Wohnung im August letzten Jahres, sobald diese bezugsfertig war.«
»Und die andere Mieterin – ich meine, die andere Wohnung«, hakte Tina nach. »Cara Hobson und ihre Tochter.«
»Es gibt keine andere Wohnung«, erklärte die Frau.
Vor Überraschung war Tina kurz sprachlos. »Natürlich gibt es die«, beharrte sie. »Cara Hobson hat dort doch gewohnt.«
»Nun, es tut mir Leid …« Man hörte, wie in Papieren geblättert wurde. »Warten Sie, ich überprüfe das.« Tina legte ihre Hand über den Hörer und sah Dave an. Sie zog die Brauen hoch und deutete auf ihren Kopf. Hirnlos. Dann war die Frau wieder dran. »Es gibt Pläne für eine zweite Wohnung«, sagte sie. »Aber der Umbau ist noch nicht abgeschlossen. Und es ist auch nicht vorgesehen, vor nächstem Sommer damit fertig zu werden. Im Augenblick gibt es nur die eine Wohnung.«
Tina bedankte sich bei der Frau und legte auf. »Hobson war offenbar illegal in der Wohnung«, meinte Dave, als sie es ihm erzählte.
Tina überlegte. Das erklärte den fehlenden Komfort und den unfertigen Eindruck der Wohnung. Aber für eine Wohnungsbesetzung war es ein merkwürdiger Ort. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie aus dem Gebäude auszusperren – man brauchte nur die beiden Zugangstüren zu sichern, und Cara hätte unmöglich zurückkommen können. Handelte es sich jedoch nur um eine vorübergehende Bleibe, würde das andererseits erklären, warum Cara so wenig besaß und weshalb es keinerlei Papiere gab, die ihre Existenz belegten.
Sie brachte diese Zweifel Dave gegenüber zum Ausdruck, der sie schulterzuckend zur Kenntnis nahm. »Wer weiß schon, was in denen vorgeht?«
Wer begreift schon, was eine Prostituierte denkt?, übersetzte Tina. Und wen kümmert es?
»Und was ist damit?« Dave hielt ein paar Blätter Papier in der Hand und entfaltete sie. Sie sah ihm über die Schulter. Es schienen Zeitungsausschnitte zu sein, Fotokopien von Zeitungsberichten. »Geht um Kunst«, meinte David abwertend.
Tina las das erste Blatt mit zunehmendem Interesse, jenseits der üblichen Routine der grundlegenden Polizeiarbeit, die – zugegeben – wichtig war, aber langweilig und stumpfsinnig.
Lasst die Gebeine tanzen!
Arnolfini Gallery, Bristol, bis zum 9. September.
»Entropie« ist eine faszinierende Ausstellung von Film- und Computerbildern und einen Besuch wert. In Ivan Baksts Zeitrafferanimation und der Aufbereitung von Stillleben in abstrakte Muster erfährt der Prozess von Tod und Verfall eine Verwandlung in etwas von seltsamer, wenn auch makabrer Schönheit …
Dazu gab es ein Foto – ein toter Fuchs, der die Zähne fletschte; die Augen waren eingefallen. Sie überprüfte das Datum: 1999. Der zweite Ausschnitt war ein Bericht über dieselbe Ausstellung. Tina las ihn. Diese Besprechung war abwertend. Todesobsession … Klischee … unnötige Details …
Sie sah West an, der mit einem Kopfschütteln reagierte. Ihm sagte das gar nichts. Sie drehte die Blätter um. Auf die Rückseite hatte jemand gekritzelt: J – ich dachte, das könnte Sie vielleicht interessieren. J? Jonathan Massey? Sie machte sich eine Notiz, diesem Hinweis nachzugehen, und eine weitere, sich nach den genauen Umständen von Caras Ankunft in der Wohnung zu erkundigen, dann sah sie sich den Rest der Papiere an. Es gab nichts mehr.