Читать книгу Bilder vom Tod - Danuta Reah - Страница 11

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Als Kerry aufwachte, fühlte sie sich besser. Sie stand auf und bügelte ihren grauen Rock und den kastanienbraunen Pullover, die als Schulkleidung vorgeschrieben waren. Sie hatten den Rock enger und den Saum umgenäht. Von Mama hatte sie sich Geld für ein Oberteil erbeten, eines dieser T-Shirts mit Adlern und Blumen darauf, wie sie es an Samantha Mumba gesehen hatte, aber Mama hatte gemeint: »Für T-Shirts habe ich kein Geld, Kerry. Lass es gut sein.« Also hatte Kerry das mit dem Tiger geholt, das vom World Wildlife Fund stammte, und hatte es mit Pailletten und Flitterkram aufgepeppt, aber mit dem Pullover ließ sich nicht viel anstellen.

Sie streifte das Top über und zog die Ärmel nach unten, damit man die feinen Schnitte nicht sah, die sich über die Innenseite ihres Arms zogen. Es war kalt, aber sie legte sich den Pullover sorgfältig um die Schultern und band die Ärmel vorn locker zusammen. Das sah besser aus. Der Rock saß sehr locker. Sie würde ihn noch mal enger nähen müssen. Sie bürstete ihr Haar und sah sich im Spiegel an. Hätte sie es gestern gewaschen, hätte sie es offen tragen können wie Buffy. So band sie es mit einem Band hoch und lächelte dann ihrem Spiegelbild zu. Buffy lächelte zurück. Das war gut so.

Sie ging nach unten. Auf der Fußmatte lag Post. Sie hob sie auf. Ein Brief im braunen Fensterkuvert. Eine Rechnung. Über der Adresse stand in roten Buchstaben Letzte Mahnung. Ein an Mama adressierter Brief – er kam von der Schule, wie Kerry am Briefstempel erkannte. Sie steckte ihn in ihre Tasche. Kein Brief von Papa.

Mama war in der Küche, und sie blickte auf, als Kerry durch die Tür kam und nahm den grünen Becher, der neben ihr stand. Sie trug noch ihren Morgenmantel. »Gehst du jetzt?«, fragte sie. Sie lächelte, klang aber verängstigt, und ihr Lächeln hatte was Müdes, Angestrengtes. Sie wollte, dass Kerry ging. Um sie herum war eine Duftwolke, süß und penetrant wie Nagellack. Kerry wusste, was das zu bedeuten hatte.

Sie holte die Cornflakes herunter. »Möchtest du welche, Mama?«

»Ich werde später was essen.« Mama zündete sich eine Zigarette an und sah zu, wie Kerry Milch auf ihr Müsli goss.

»Gehst du denn nicht zur Arbeit?« Kerry hörte, dass ihre Stimme verzagt und wütend klang. Sie legte den braunen Umschlag auf den Küchentisch. »Du solltest lieber arbeiten gehen, denn hier ist wieder eine Rechnung, die du nicht bezahlt hast.«

Mama starrte auf das Fenster. »O Kerry, nerv mich nicht«, sagte sie. »Beeil dich. Du kommst sonst zu spät.« Sie trat rastlos von einem Bein aufs andere. Kerry hätte gern was erwidert, aber Mama sah sie so verständnislos an, dass ihr nichts einfiel. Sie nahm ihre Tasche und schaute noch mal in den Spiegel. Dieses Mal sah ihr nur Kerry entgegen, aber das konnte sie nun nicht mehr ändern.

Sie verließ das Haus und ging zur Bushaltestelle, mit jedem Schritt wurde sie langsamer. Sie öffnete den Brief von der Schule. Es war das Übliche. Sehr geehrte Mrs. Fraser … Mama nannte sich nicht mehr Mrs. Fraser, aber die Schule beharrte auf diesem Irrtum, denn Kerry blieb Kerry Fraser. Sehr geehrte Mrs. Fraser … Kerry schnitt ein Gesicht. Blablabla … unentschuldigte Abwesenheiten … blabla … Sie wollte ihn schon zusammenknüllen und wegwerfen, als ihr ein Satz ins Auge fiel: … zeitweiliger Schulausschluss … Sie las den Brief genauer, aber es war in Ordnung. Sie war nicht ausgeschlossen, aber sie musste am Freitag nachsitzen. Wenn sie dies … ohne triftige Gründe … versäumte, würde sie ausgeschlossen werden. Wenigstens konnten sie Mama jetzt nicht mehr anrufen. Sie musste an das letzte Mal denken, als die Schule angerufen hatte. Mamas Augen waren müde gewesen. »Ich komme damit nicht zurecht«, hatte sie gesagt. Und Kerry war es von innen her kalt gewesen. Und wenn Mama sie nun wegschickte? Wenn sie Kerry in ein Heim abschob? Das hatte sie mit Lyn gemacht. Wie sollte sie dann Papa helfen?

Aber das Telefon war stillgelegt worden. Eine weitere Rechnung, die Mama nicht bezahlt hatte. Kerry hatte es Lyn erzählt, und Lyn hatte wieder ein Gesicht geschnitten und Kerry das Mobiltelefon geschenkt. »Sieh zu, dass sie es nicht in die Finger kriegt«, warnte Lyn sie. »Ich habe hart gearbeitet, um das zu kaufen.«

Kerry verwahrte es unten in ihrer Tasche, wo Mama es nicht sehen konnte, und sie schaltete es immer ab, damit es nicht klingelte und sie verriet. Aber jetzt schaltete sie es ein. Sie wollte Lyn anrufen, aber Lyn war sauer auf sie und würde bestimmt nicht reden wollen. Sie überlegte kurz, dann schrieb sie eine SMS: TML wg. Verspät. Sie drückte auf»Senden« und hielt den Atem an. War Lyn so wütend auf sie, dass sie sich nicht meldete? Das Handy in der Hand, setzte sie sich auf das Mäuerchen an der Bushaltestelle und sah in die Richtung, aus der der Bus kommen musste. Es hatte nichts zu bedeuten, wenn sie keine Antwort bekam. Lyn hatte womöglich ihr Handy ausgeschaltet, sie hatte vielleicht zu tun, irgendwas.

In der Ferne sah sie den Bus, der die andere Haltestelle anfuhr. Schon wollte sie das Handy sicher in ihrer Tasche verstauen, als es piepte. Fast hätte sie es fallen lassen. Das Nachrichtensignal blinkte. Atemlos drückte sie den Befehl»Lesen«. Alles war gut. Lyn war nicht sauer auf sie – Lyn war besorgt. Die Buchstaben liefen über das Display.

BIDU OK?

Eliza stand zeitig auf und beobachtete, wie die Sonne über dem Kanal aufging. Sie hatte nicht viel geschlafen in dieser Nacht. Jedes Mal, wenn sie wegdämmerte, glaubte sie, wieder diese Schritte auf der anderen Seite der Wand zu hören.

Um acht Uhr war sie angezogen und hatte gefrühstückt und freute sich, nach unten gehen und mit der Arbeit anfangen zu können, wieder in die Welt der Normalität, der Gewohnheit und des Alltags zurückzukehren.

Jonathan kam spät. Er habe eine schlimme Nacht gehabt, erklärte er gereizt, und keine Lust, den ganzen Tag eingeschlossen in seinem Büro in der Galerie zu verbringen. Das erinnerte Eliza daran, dass sie die Aussage, die sie tags zuvor DC Barraclough gegenüber gemacht hatte, noch einmal durchsehen und unterschreiben musste. Wahrscheinlich war sie die letzte bekannte Person, die Cara lebend gesehen – oder wenigstens gehört hatte. Jonathan seufzte, als sie es ihm erzählte.

»Ich muss weg«, sagte er. »Ich habe eine Sitzung, und ich möchte nicht, dass Mel hier ganz allein ist.«

Das war das erste Mal, dass Eliza von einer Sitzung hörte. »Kann das nicht warten? Mel braucht Betreuung.« Oder sie verbringt den ganzen Morgen mit hoch gelegten Beinen und ihren Zeitschriften.

»Mel macht sich doch«, sagte er.

Sie sah ihn an. Er wirkte angespannt und besorgt. »Stimmt was nicht?«

»Oh …« Sein Seufzer war gut zu hören. »Die Polizei hat sich gemeldet. Sie haben ihre Wohnung durchsucht und die Treppen, und jetzt möchten sie auch noch die Galerie durchsuchen.« Dann war das also der Grund für die plötzliche Verabredung. Er wollte sich nicht mit der Polizei abgeben. Aber da konnte sie ihm auch nicht helfen. »Wann sind Sie wieder zurück?«, fragte er.

»Keine Ahnung«, erwiderte sie schärfer als beabsichtigt. »Ich hatte bisher noch nicht mit einem Mordfall zu tun.«

Er machte ein betretenes Gesicht. »Ich weiß«, sagte er. »Nun gut, Sie müssen gehen. Und, äh, ich nehme an, dass ich umdisponieren kann.«

Eliza brach rechtzeitig zu ihrem Termin auf. Sie wollte zehn Minuten für sich allein haben, mit einem anständigen Kaffee, ehe sie wieder über Cara und über Caras Tod nachdenken musste, über die schäbige Wohnung, das lautlose Bündel im Kinderbett. Sie lief am Kanalbecken entlang zum Café, setzte sich am Fenster auf einen Polsterstuhl und beobachtete die Boote und die Menschen, die auf dem Treidelpfad kamen und gingen. Etwas zog ihren Blick auf sich. Es war ein Foto in der Zeitung, die ein junger Mann las, und sie erhaschte einen Blick darauf, als er vorbeischlenderte.

Auf den Ständern und auf den Tischen gab es Zeitungen. Sie ging hin, um einen Blick darauf zu werfen, blätterte durch die überregionalen Zeitungen, fand aber nicht das, wonach sie suchte. Dann entdeckte sie die Morgenausgabe der Lokalzeitung. Sie schlug sie auf, und das Foto starrte ihr entgegen. Cara und Briony Rose. Sie legte die Zeitung vor sich auf den Tisch. Was hatte sie erwartet? Natürlich stand die Sache in der Lokalzeitung. Wahrscheinlich war auch in der überregionalen Presse darüber berichtet worden. Sie sah sich die Schlagzeile an. Beim ersten Mal nahm sie nicht auf, was sie las, dann las sie noch einmal. SORGE UM DAS KIND IM PROSTITUIERTENMORD. Das konnte nicht die richtige Geschichte sein. Die Geschichte passte nicht zu dem Foto. Es …

Sie las den Artikel langsam, und ihr Herz sank. Die Polizei ging bei Caras Tod von Mord aus, und sie glaubten, Cara sei eine Prostituierte gewesen. Sie sei in der Mordnacht auf der Straße gewesen, hieß es in dem Artikel. Das war lächerlich. Cara war keine Prostituierte gewesen. Sie … Aber die Heftigkeit, mit der sie diese Idee zurückwies, verlor an Kraft. Die Galerie lag sehr nah an dem Rotlichtviertel von West Bar Green und der Corporation Street. Eliza hatte die Prostituierten oft genug am Bordstein stehen sehen. Und Cara war jung, einsam und arm gewesen.

Aber das Hauptaugenmerk des Artikels lag auf dem Baby. Eliza beschlich das Gefühl, dass Caras Tod – Caras Ermordung? Die Polizei hatte nichts von Mord gesagt –, wäre da nicht das Kind gewesen, nicht mehr als einen kurzen Artikel im Innenteil bekommen hätte. Sie las weiter. Briony Rose war unterkühlt gewesen und hatte unter Flüssigkeitsentzug gelitten, als man sie fand, nachdem sie über zwölf Stunden in der Wohnung eingeschlossen gewesen war. Sie befand sich noch in Behandlung, würde aber »zur Gänze wiederhergestellt werden«, wie man erwartete. Cara hatte das Baby offenbar allein gelassen, wenn sie zur Arbeit ging. Und dann verwies der Leitartikel in einem Abschnitt auf Ellies Ermordung, in dem es um den »Todeskanal« ging.

Sie las den Artikel zweimal und versuchte, sich einen Reim darauf zu machen, dann sah sie auf die Uhr. Scheiße! Sie war spät dran. Sie griff nach ihren Sachen und rannte die Straße entlang und den Hügel hoch bis zu dem Klinkerbau, in dem die Polizei untergebracht war.

»Ich danke Ihnen, Miss Eliot, dass Sie sich herbemüht haben.« Es war DC Barraclough, die junge Frau, mit der Eliza sich tags zuvor unterhalten hatte. Sie sah immer noch müde aus und hatte schwere Augenlider. Offenbar führte sie ein Leben, das ihrem Äußeren entsprach. »Ich weiß, dass Sie in der Galerie viel zu tun haben.«

»Es ist wegen der Vernissage am Freitag«, erklärte Eliza und schaltete automatisch auf PR-Ton um. »Möchten Sie nicht auch kommen?«, fügte sie hinzu, weil ihr einfiel, welches Interesse die Frau gezeigt hatte – Ich dachte, es war ein rotes Pferd …

DC Barraclough war überrascht. »Ja, vielleicht«, sagte sie.

»Dann schicke ich Ihnen eine Einladung«, versprach Eliza.

Die andere Frau konzentrierte sich auf ihre Unterlagen. »Es gibt da ein, zwei Punkte in Ihrer Aussage, die ich noch mal mit Ihnen durchgehen möchte …«, sagte sie. Stirnrunzelnd sah sie sich im Raum um. »Danke, dass Sie hergekommen sind«, sagte sie noch mal. Sie schüttelte den Kopf und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen.

»Bevor wir anfangen …«, meldete Eliza sich zu Wort.

DC Barraclough warf ihr einen Blick zu und wartete.

»Das Baby«, fuhr Eliza fort, »Briony Rose. Wie geht es ihr?« Sie konnte das Bild von diesem lautlosen Bündel nicht aus ihrem Kopf verbannen.

»Es geht ihr gut, sie wird bald aus dem Krankenhaus entlassen.«

»Und was wird dann mit ihr geschehen?«

DC Barraclough schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß es nicht«, sagte sie und zog ein Blatt mit Notizen hervor. »Das liegt im Ermessen der Sozialdienste. Und jetzt« – sie wechselte brüsk das Thema – »möchte ich mit Ihnen Ihre Zeitangaben durchgehen. Wir hätten es gern ein wenig genauer.«

»Sie sagten, Sie wollten sich einen eher allgemeinen Überblick verschaffen«, erwiderte Eliza. Wegen des Babys empfand sie eine mit Besorgnis gemischte Erleichterung.

»Nur ein bisschen genauer. Sie schlossen die Feuertür also kurz vor Mitternacht –«

Eliza nickte. »Es muss so gewesen sein, denn ich hörte sie später in der Wohnung herumlaufen.«

»– und dann, sagten Sie, hörten Sie das Baby schreien, und dann hörten Sie auch Cara? Erinnern Sie sich, wann das war?«

»Ich erinnere mich, dass ich auf die Uhr sah«, antwortete Eliza. »Ich war sauer, wieder geweckt worden zu sein. Aber ich kann mich nicht erinnern, um wie viel Uhr es war. Sie sagten, es müsse um Mitternacht gewesen sein.« Sie zog die Stirn kraus und überlegte. So war es gewesen, oder?

Sie sah, dass DC Barraclough an ihr vorbeiblickte, und drehte sich um. Ein großer Mann mit hellen Haaren hatte den Raum betreten. Gleich darauf erkannte sie in ihm Roy Farnham, den Mann von der Beerdigung, den Mann, der gestern in der Galerie gewesen war und sich um alles gekümmert hatte, als sie das Baby fanden.

»Danke, dass Sie gekommen sind, Miss Eliot«, sagte er.

»Eliza«, sagte sie. Er nickte und blickte gedankenverloren auf DC Barraclough, deren Gesicht leicht gerötet war.

»Alles in Ordnung, Barraclough?«, fragte er. Seine Stimme war höflich, aber DC Barraclough errötete noch heftiger. Er wandte sich an Eliza. »Ich hätte gern ein klareres Bild von dem Abend. Können wir den noch mal durchsprechen?«

Sie nickte. »Ich sagte es gerade zu DC Barraclough. Es ist wirklich schwer, sich zu erinnern.«

Er ging darüber hinweg. »Keine Sorge. Mal sehen, was wir hier haben.« Er ging mit ihr den Abend durch, den sie mit Cara verbracht hatte, die Uhrzeit, als Cara die Wohnung verlassen hatte, was Eliza als Nächstes getan hatte. »Sie erlauben sich nicht viele Pausen«, bemerkte er mit einem raschen Lächeln, das sie erwiderte. »Gut, Sie haben also – den ganzen Abend gearbeitet? Haben Sie sonst noch was gemacht?«

»Nein, ich arbeitete, dann wurde ich müde und machte mich bettfertig.«

»Und dann …«

»Ich ging zu Bett und las noch eine Weile …«

»Lassen Sie uns das noch mal durchgehen«, unterbrach er sie. »Es war halb acht, als Sie mit Cara Hobson nach oben gingen. Sie tranken Kaffee, und dann ging sie – wie lange ist sie geblieben?«

»Oh, nur so lang, wie man braucht, um einen Kaffee zu trinken. Zwanzig Minuten oder so.«

»Okay. Dann fingen Sie also gegen halb neun zu arbeiten an. Wie viel Arbeit haben Sie geschafft?«

»Ich hatte einen ganzen Ordner voll – den habe ich durchgearbeitet. Das muss mindestens ein paar Stunden gedauert haben … Ja. Die Nachrichten waren schon zu Ende – ich hatte vor, sie anzuschauen, aber ich verpasste sie.« Er sagte nichts, er wartete. »Ich habe geduscht«, fuhr sie fort. Jetzt wurde alles deutlicher.

»Dann müsste es so gegen elf gewesen sein, als Sie ins Bett gingen?«

Sie nickte wieder. »Und dann habe ich gelesen, bis mir die Augen zufielen.«

»Und etwas weckte Sie auf?«, fragte er.

»Es war dieser Luftzug von der Tür«, berichtete sie. »Es gibt eine Feuertür, die zur Treppe führt, und manchmal hat Cara sie nicht richtig zugemacht, wenn sie hereinkam. Ich musste aufstehen und sie schließen.«

»Dann waren Sie also hellwach«, meinte er. Sein Lächeln war mitfühlend. »Und am nächsten Tag mussten Sie früh raus?«

Sie sah ihn an. »Jetzt fällt es mir wieder ein: Ich sah auf die Uhr, es war nach eins. Ich war wirklich sauer. Und da hörte ich dann die Schritte. Ich versuchte, einzuschlafen, aber ich konnte hören, wie Cara mit dem Baby herumwanderte.«

»Und dann …«

Sie runzelte die Brauen. »Später wurde ich durch etwas anderes wach, daran erinnere ich mich. Ich verbrachte den Rest der Nacht im Sessel. Das Baby weinte. Aber es war was anderes, wovon ich wach wurde.« Sie schüttelte den Kopf. Es wollte ihr nicht mehr einfallen.

»Jemand, der hinausging? Die Feuertür öffnete?«

Eliza schüttelte den Kopf. »Das würde ich nicht hören. Ich weiß nicht, was es war.« Im Geiste hörte sie den klagenden Wind, der durch die Fenster der baufälligen Häuser pfiff. Sie schüttelte den Kopf. Alles Weitere wäre geraten. »Ich machte mir was zu trinken. Das war gegen zwei, glaube ich. Ich hatte es vergessen zu sagen.« Es freute sie, dass sie sich daran erinnert hatte.

Farnham nickte. »Hörten Sie sonst noch was aus Caras Wohnung? Abgesehen von dem Baby.«

Eliza dachte nach. »Nein, es war nur das Baby. Ich erinnere mich nicht, etwas anderes gehört zu haben.«

»Gut«, sagte er. »Und Sie haben Cara nicht mehr gesehen, nachdem sie Ihre Wohnung verlassen hatte?«

»Nein.« Eliza sah Cara vor sich, wie diese auf die Tür zuging. Im Nachhinein – war es im Nachhinein? – war sie eine einsame und traurige Gestalt. »Nein, ich sah sie nicht mehr.«

Er erhob sich. »Ich danke Ihnen, Miss Eliot, Sie haben uns sehr geholfen. DC Barraclough wird Ihre Aussage aufnehmen.« Eliza wurde sich plötzlich der schweigenden Gegenwart der anderen Frau bewusst und spürte die Spannung, die in der Luft lag.

»Hören Sie«, begann sie. »Ich hätte da noch eine Frage … Ich weiß nicht, ob Sie mir das sagen dürfen …«

Farnham wartete, die Hand auf der Türklinke.

Sie wusste, dass er viel zu tun hatte, aber sie musste einfach fragen. »In der Zeitung«, sagte sie. Sie sah, wie sich sein Gesichtsausdruck veränderte, vorsichtig wurde. »Sie schrieben etwas über den Kanal, nannten ihn den Todeskanal und erwähnten Ellie Chapman. Warum stellt man diese Verbindung her? Ist es nur der Kanal?«

Er sah sie an. »Sie kannten Ellie«, sagte er. Er schien zu zögern, dann sprach er weiter: »Wir fanden Cara Hobsons Leiche nahe der Cadman Street Bridge.«

Natürlich. Die Stelle, an der man Ellies Leiche versteckt im Unterholz neben dem Treidelpfad zufällig gefunden hatte. Die Polizei hatte den Treidelpfad abgesucht, nachdem ein Junkie in einem am Kanal vertäuten Boot an einer Überdosis gestorben war.

»Es ist eine abgelegene Stelle«, fuhr er fort, »die aber mitten im Stadtzentrum liegt – und es gibt in dieser Gegend viele zweifelhafte Ecken, wie Ihnen sicherlich aufgefallen ist –, ein guter Platz also, um sich einen Schuss zu setzen, ein guter Platz, um einen Freier hinzuführen. Ein guter Platz, um eine Leiche loszuwerden.« Er sah sie an, um sicherzugehen, dass sie verstanden hatte. »Eine andere Verbindung gibt es nicht«, schloss er.

Es war schon nach Mittag, als Eliza die Polizeistation verließ. Irgendwie hatte sie erwartet, die Nachricht von Caras Tod würde Wirkung zeigen, dass die Menschen, die in der Stadt ihren Geschäften nachgingen, sich Sorgen machten, aufmerksam würden und über den Tod redeten, der mitten unter ihnen stattgefunden hatte. Aber auch Eliza fühlte sich nur deshalb betroffen und hatte das Gefühl, dass sich etwas Katalytisches ereignet hatte, weil sie Cara gekannt hatte. Würde sie ansonsten der Tod einer Prostituierten belasten?

Dieser Gedanke deprimierte sie, und sie kehrt schlecht gelaunt in die Galerie zurück. Die Polizei war da gewesen und war wieder gegangen. Die Durchsuchung der Galerie hatte nichts ergeben, und Jonathan bereitete sich darauf vor, zu der Sitzung aufzubrechen, deretwegen er sich vorhin so aufgeregt hatte. Sie zeigte ihm die Zeitung, und er überflog beklommen die Artikel. »Sie erwähnen die Galerie«, sagte er.

»Nun, das ist doch nahe liegend.« Eliza hängte ihren Mantel auf und zog sich den Kittel über, mit dem sie ihre Kleidung schützte, wenn sie Bilder herumzuschleppen hatte. »Cara hat hier gewohnt.«

»Sie hat in einem der Apartments gewohnt, Eliza. Das hat nichts mit der Galerie zu tun.« Er raschelte gereizt mit dem Papier.

»Ja, gut …« Elizas Gedanken wanderten zwischen den Ereignissen des gestrigen Tages und der Arbeit hin und her, die noch getan werden musste.

»Ich wusste, dass es keine gute Idee war, die Wohnung diesem Kind zu geben«, meinte er. »Und jetzt werden sämtliche Luden und Bordsteinschwalben bei uns anklopfen. Es war schon schlimm genug, als hier ein Kindergarten war, aber jetzt sind wir ein verdammtes Bordell.«

»Seien Sie still, Jonathan«, sagte Eliza müde.

Er sah sie beschämt an. Eliza war nicht wirklich wütend auf ihn. Er hatte einen anstrengenden Tag gehabt, die Vorbereitung auf die Ausstellungseröffnung war durch den Besuch des Polizeiteams gestört worden. Sie nahm an, dass es einfach seine Art war, damit umzugehen. Er zog seinen Mantel an. »Ich komme heute nicht mehr rein«, informierte er sie. »Rufen Sie an, falls sich was Dringendes ergibt.«

»Das wird nicht passieren«, versicherte Eliza ihm. Sie machte sich einen Kaffee – Instant, bäh – und nahm ihn mit nach oben, damit sie mit ihrer Arbeit für Flynns Ausstellung weitermachen konnte. Sie hinkte ihrem Zeitplan hinterher. Die Worte »zweifelhafte Todesursache« hallten in ihren Gedanken nach, und sie musste ständig an Schritte denken, die sich geräuschlos im Dunkeln durch die Galerie bewegten, in der Nacht, wenn sie schlief, ein paar Stockwerke unter ihr, sich der Treppe näherten und zu ihr hinaufkamen … Aufhören! »Sei doch nicht so dramatisch!«, sagte sie laut. Keiner war in die Galerie gekommen. Die Polizei hatte das überprüft. In der Zeitung hieß es, Cara sei ausgegangen, anschaffen gegangen, und habe das Baby allein in der Wohnung gelassen.

Cara war in der Nacht in der Wohnung gewesen – Eliza hatte sie gehört. Sie muss später weggegangen sein. Sie erinnerte sich noch an das Schreien. Es war fast ein hysterisches Schreien gewesen, und dann war es nach und nach leiser geworden, bis es nur noch ein Aufschluchzen war, danach Stille. Eliza verharrte reglos in der leeren Galerie, das Licht der tief stehenden Wintersonne warf lange Schatten auf den Fußboden. Was war da vor sich gegangen auf der anderen Seite der Wand, im Dunkeln, in der Nacht, als sie, Eliza, sich in ihrem Sessel zusammengerollt und Kakao getrunken hatte und irgendwann eingeschlafen war?

Madrid

Elizas achtzehn Monate in Madrid rauschten an ihr vorbei wie im Traum. Nachdem Daniel Flynn angekommen war, schien die Zeit in einem aufregenden Wirbel aus Kunst und Büchern und Reisen und Sex und Wein zu verfliegen.

Es war einen Monat nach ihrer ersten Begegnung. Ihre Beziehung hatte sich mit jener rasanten Geschwindigkeit entwickelt, die sie noch immer im Unklaren darüber ließ, welcher Art diese war und ob sie Bestand hatte. Ihrer Erfahrung nach folgte auf den Taumel in die Intimität meist ein gleichermaßen – wenn auch weniger erfreulicher – Taumel in Gleichgültigkeit und Distanz. Die Tatsache, dass Daniel nach Madrid kam, verdankte er ursprünglich einem zufälligen Abstecher auf der planlosen Reise durch Europa. Aber er hatte seinen Aufenthalt in Madrid verlängert und für den Sommer ein Haus gemietet. Ivan Bakst, der Mann, mit dem er unterwegs gewesen war, war weitergereist, aber Daniel war geblieben. Er hatte begonnen, sehr viel Zeit im Prado zuzubringen, und sein Status als aufstrebender junger Künstler machte ihn zum gern gesehenen Besucher, gewährte ihm Zugang, wenn das Museum geschlossen war, und erlaubte ihm den Zutritt zu den ansonsten für die Öffentlichkeit gesperrten Bereichen wie den Werkstätten, wo Eliza arbeitete.

Sie nahm ihr Vergrößerungsglas in die Hand. Das Porträt auf der Staffelei vor ihr wurde schräg angeleuchtet und offenbarte so die Pinselstriche, die ein Künstler vor fast fünfhundert Jahren auf die Leinwand gemalt hatte. Porträt von Sophia. Sie bewegte das Glas über die Oberfläche und studierte die Farbe. Links unten war das Bild beschädigt. Sie konnte die vielschichtige rote Farbstruktur der Manschette der Frau erkennen. Sie machte sich eine Notiz.

Daniel hielt sich bestimmt oben in der Flämischen Abteilung auf und studierte den Brueghel. Langsam teilte er ihre Obsession. Er sei auf der Suche, hatte er ihr erklärt. Er wusste, was er sich als nächste Arbeit vornehmen würde, aber in der Frage, in welcher Form er seine Ideen umsetzen wollte, war er sich noch unschlüssig. Er war ein eklektischer Künstler, der mit allen Materialien umzugehen verstand, die ihm in die Hände fielen, und der offenbar die meisten traditionellen und auch nicht traditionellen Materialien zu handhaben wusste. Elizas Interesse an der Renaissance vermochte er nur schwer nachzuvollziehen. »Das ist doch von gestern, das ist vorbei«, sagte er einmal, als sie sich darüber unterhielten. Aber er verbrachte mehr und mehr Zeit vor dem Triumph des Todes und hörte sich immer öfter ihre Ideen darüber an.

Am späteren Vormittag trafen sie sich in einem der Straßencafés, die es in dieser Stadt im Überfluss gab. Sie saßen in der Sonne, als der Kellner zu ihnen kam, um ihnen Kaffee nachzuschenken und die Bestellung für churros entgegenzunehmen, die süßen Teigstangen, auf die Eliza nicht mehr verzichten wollte.

Daniel erzählte ihr, dass seine Ausstellung vor seinem geistigen Auge langsam Gestalt annehme. Er wolle den Triumph des Todes zu deren Zentrum machen. »Ich möchte dieses Bild in ein zeitgenössisches Umfeld bringen«, sagte er. »Eine Stadtlandschaft, Industrieruinen. Ich möchte den Leuten einen modernen Triumph des Todes zeigen.« Er besaß eine kleine Reproduktion des Brueghel und versuchte, von Eliza den historischen Hintergrund und das Wesen der Bildkomposition zu erfahren. Der Kellner stellte einen Teller vor sie, und er bediente sich.

»Das Bild steckt voller Symbolik«, erklärte Eliza. Sie tunkte ihr Churros in ihren Kaffee und ließ sich die frische Süße auf der Zunge zergehen, während sie überlegte. »Es besteht aus einer Reihe von Szenen, die vom zeitgenössischen Publikum erkannt worden wären. Dafür braucht man moderne Äquivalente. Sieh dir zum Beispiel das hier an –« Sie wies auf die gestürzte Frau, die unter den Rädern des Todeskarrens zermalmt werden würde. »Sie hält eine Spindel, und die Schere in ihrer anderen Hand will gerade den Faden durchschneiden. Das ist Schicksal. Wenn dein Lebensfaden durchtrennt wird, stirbst du. Ich weiß nicht, was dieses Bild einem modernen Publikum zu sagen vermag. Oder hier, die Liebenden.« Sie sangen einander vor, in sich versunken und einander nah, zum Scheitern verurteilt, während der Tod zu ihrem Duett den Kontrapunkt setzte.

Bilder vom Tod

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