Читать книгу Bilder vom Tod - Danuta Reah - Страница 9
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Roy Farnham war müde. Er hatte Kopfschmerzen, und sein Mund fühlte sich trocken an. Der Anruf war kurz nach sechs Uhr durchgestellt worden und hatte ihn aus tiefem Schlaf gerissen. Am Abend zuvor war er lang wach gewesen und erst nach ein Uhr ins Bett gegangen, und dann hatte die Beerdigung, auf der er gewesen war, sich in seinen Gedanken eingenistet, der dunkle Friedhof und die trübseligen Büsche, die wenigen Trauergäste bei der Bestattungszeremonie. Was für ein vergeudetes Leben.
Seine Gedanken waren zu der Frau gewandert, mit der er gesprochen hatte, Maggie Chapmans Freundin – wie hieß sie noch mal? Eliza. Sie hatte umwerfend ausgesehen in ihrem langen schwarzen Mantel, dem hellen Haar, das unter ihrem Hut hervorgelugt hatte. Vielleicht sollte er mal in dieser Galerie vorbeischauen, diese Ausstellung besuchen ...
Er hatte geschlafen, war wach geworden, war wieder eingeschlafen. Und jetzt, da ihn die Schwere des richtigen Tiefschlafs davontrug, klingelte das Telefon, dieses verdammte Telefon, und er war wieder im Dienst und würde drangehen müssen.
Er rollte sich im Bett herum und nahm den Hörer. »Farnham.« Während er telefonierte, tastete seine Hand über den Nachttisch, auf den er in der Nacht die Packung Aspirin gelegt hatte. Er drückte ein paar Tabletten aus der Folie und setzte sich auf, als der bittere Geschmack der Salizylsäure seinen Mund füllte. Er warf einen Blick auf seinen Radiowecker – 6:15 Uhr. »Okay«, sagte er. »Okay, ich komme.« Er gab seine Anweisung mehr oder weniger automatisch und legte sich dann noch einen Moment zurück, um seine Gedanken zu ordnen. Eine Leiche im Kanal – ein verdächtiger Todesfall. Scheiße. Bitte kein Mord, nicht an seinem ersten Arbeitstag. Ein junges Mädchen, hatte es geheißen. Mit ein bisschen Glück könnte es auch ein Unfall sein. Oder ein Selbstmord.
Es war kalt im Zimmer, als er die Steppdecke zurückschlug. Die Heizung schaltete sich erst um sieben Uhr ein. Er stellte den Schalter vor, aber als er geduscht und sich angezogen hatte, war es in der Wohnung immer noch nicht richtig warm. Draußen fiel feiner Regen, als er das Haus verließ, und das Lenkrad unter seinen Händen war kalt.
Noch kälter war es am Kanal. Eine Wasserleiche weckte immer den Verdacht, dass es sich um keinen natürlichen Tod handelte, und durch den frühmorgendlichen Anruf war die Verantwortung für diese Entscheidung auf Farnhams Schultern gelegt worden. Seine Hoffnungen auf einen einfachen Unfall oder einen Selbstmord schwanden, als er am Kanalufer stand und sich zunehmend resigniert anhörte, was die Pathologin ihm zu sagen hatte. Er wollte in keinem weiteren Mordfall ermitteln. Aber die Leiche, die man aus dem Wasser gezogen hatte, ließ wenig Zweifel zu. »Wer auch immer sie hier reingeworfen hat, wollte sichergehen, dass sie nicht wieder hochkam«, erklärte die Pathologin. Sie zog das verfilzte Haar zur Seite, das sich um den Hals gewickelt hatte, und zeigte Farnham den Strick, der um die Kehle der Frau lag. Er war an einer Tasche festgemacht. »Da drinnen ist ein Ziegelstein oder etwas in der Art. Der hat sie direkt nach unten gezogen. Das arme Mädchen.«
Farnham, der am Kanalufer hockte, spürte durch seine Jacke den durch den Torbogen der Brücke wehenden eisigen Wind. »Selbstmord?«, fragte er.
»Hm.« Die Pathologin betrachtete abschätzend den Strick. Sie klang nicht sehr überzeugt. »Schon möglich. Aber sehen Sie sich ihre Hände an.« Sie wies Farnham auf die Verletzungen an den Fingern hin. Sie waren voll blauer Flecken und verformt, und auf den Handgelenken zeigten sich Schrammen. »Das sind prämortale Verletzungen«, sagte sie.
Farnham erhob sich, aber seine Knie wollten ihm nicht gehorchen. Herrgott noch mal, er war noch keine vierzig. Er sollte ins Fitnessstudio gehen, weniger Bier trinken, anfangen … Nach diesem Fall würde er es sich überlegen. Sein Blick fiel auf das dunkle Wasser des Kanals. Der Wind kräuselte die Oberfläche, und kleine Wellen schlugen klatschend gegen das Mauerwerk. »Ich werde ein Team dort runterschicken«, sagte er. Man würde den Kanal unter der Brücke, dort, wo man die Leiche gefunden hatte, absuchen müssen. Ein Team würde das Kanalufer überprüfen und am Kanal entlang jeden befragen müssen – von Haus zu Haus oder von Boot zu Boot. Gott helfe seinem Budget.
Er richtete seinen Blick wieder auf die tote Frau. Sie sah jung aus, sehr jung. Die Pathologin erhob sich und stand neben ihm. »Ich muss Ihnen noch was sagen«, sagte sie. »Irgendwo gibt es ein Baby. Das Mädchen hat vor nicht allzu langer Zeit entbunden.«
Farnham schloss die Augen. Mehr brauchte er nicht zu wissen. »In Ordnung«, sagte er. »Wir kümmern uns darum.« Das wellige Wasser erinnerte ihn ans Meer. Eine tote Frau im Wasser. Ein Baby. Was würden sie finden, wenn sie den Treidelpfad und den Kanal absuchten? Er kniff die Haut an seiner Nasenwurzel zusammen und rieb sich über die Augen. »In Ordnung«, sagte er wieder. »Dann fangen wir an.«
Eliza hatte den Hörer aufgelegt. Sie hatte mit Maggies Vermieter gesprochen. Maggie hatte Eliza zu ihrer Testamentsvollstreckerin benannt, und plötzlich oblag alles ihrer Verantwortung. Sie hatte kurz nach Maggies Tod Kontakt zu ihm aufgenommen, um ihn darüber zu informieren, was sie mit der Wohnung vorhatte. »Die Miete ist bis Ende des Monats bezahlt«, hatte sie bei ihrem ersten Gespräch zu ihm gesagt, als Maggie gerade zwei Tage tot war. »Bis dahin ist die Wohnung geräumt.« Nach Flynns Ausstellung, wenn sie den Kopf wieder frei hatte.
Er hatte an diesem Morgen angerufen, weil er sich wegen der Sicherheit Sorgen machte. Die darüber liegende Wohnung war nicht bewohnt, und so stand das ganze Haus leer. »Das spricht sich herum«, meinte er. Man hatte jemand herumlungern sehen. Eliza kritzelte Blumen auf den Block neben dem Telefon, während sie ihm zuhörte.
»Ich werde vorbeischauen, sobald es geht«, versprach sie. Die Wohnung bereitete ihr Verdruss, aber er hatte Recht. Eine leere Wohnung war nicht gut. Es gab zwar nur wenig, falls überhaupt etwas von Wert darin, aber sie wollte nicht, dass Maggies Wohnung verwüstet wurde und ihre Bücher, Tagebücher, Fotos – sämtliche Erinnerungsstücke an Ellie – beschädigt oder zerstört wurden.
Nachdem sie aufgelegt hatte, dachte Eliza über die Aufgabe nach, die sie sich gestellt hatte. Vermutlich würde es gar nicht so viel Zeit in Anspruch nehmen. Die Aussicht jedoch, sich durch die Überbleibsel von Maggies Leben zu wühlen, fand sie deprimierend. Sobald sie ein paar Stunden Zeit hatte, würde sie es in Angriff nehmen. Sie versuchte, nicht mehr daran zu denken. Sie stellte sich mit ihrem Frühstück ans Fenster, um auf den Kanal hinauszuschauen, aß ihren Toast und trank Kaffee. Heute kam Daniel. Sie spürte einen leichten Stich im Magen, den sie sich kaum zu erklären vermochte. War es Aufregung? Angst? Wut? Aber so ging es ihr immer, wenn sie etwas Neues vor sich hatte, etwas, das eine Herausforderung für sie darstellte. Mehr war es nicht. Aber sie kleidete sich sorgfältig an und drehte ihr Haar oben auf dem Kopf zusammen, wie er es immer gern gesehen hatte.
In der Galerie herrschte bereits Betriebsamkeit, als sie aus ihrer Wohnung nach unten kam. Mel packte Schachteln aus, und auf dem Boden um sie herum lagen Styroporflocken und Luftpolsterfolie.
»Hi, Eliza«, begrüßte Mel sie. Ihr Haar, tags zuvor noch schwarz, war nun hellblond und sorgfältig zerzaust. »Das hier ist das Zeug von Daniel Flynn.« Sie musterte Eliza abschätzig von Kopf bis Fuß. »Sie sehen hübsch aus. Jonathan, Eliza hat sich für Daniel Flynn in Schale geworfen. Sieht sie nicht hübsch aus?«
Eliza spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht schoss. Jonathan sah auf. »Hm«, machte er. Mel lächelte.
»Um welche Zeit wollte Flynn vorbeikommen?« Eliza begann, die Post durchzusehen.
»Irgendwann im Lauf des Vormittags«, erwiderte Mel mit einem Schulterzucken. »Er hat sich nicht genauer festgelegt.«
Jonathan blickte auf von der Arbeit, mit der er sich gerade beschäftigt hatte. »Hatten Sie denn schon Gelegenheit, mit ihm selbst zu sprechen, Eliza?«
»Eigentlich nicht. Ich habe ihm ein paar E-Mails geschickt und ihm erzählt, was ich vorhabe. Er hat aber nicht darauf reagiert, also ging ich davon aus, dass er einverstanden ist. Auch telefonisch habe ich ihn nicht erreichen können. Aber für Freitag ist alles bereit.« Eliza bemühte sich um einen beiläufigen Ton.
Jonathan blätterte den Terminkalender durch und öffnete seine Post. »Oh, nicht schon wieder. Schreiben Sie diesem Kerl doch einen Brief, Mel. Das ist jetzt das dritte Mal, dass er mir Fotos von seinen Sachen schickt. Wenn ich Möchtegern-Präraphaeliten suchen würde, dann würde ich in die Glückwunschkartenabteilung von Smith’s gehen. Dort würde ich wenigstens jemanden finden, der mit Farbe umzugehen weiß.«
»Ich erledige das«, sagte Mel, »während ich auf Eliza warte.«
»Danke.« Er blätterte seinen Terminkalender durch. »Morgen kommen wieder Schulkinder zu uns. Ich kümmere mich darum. Aber wisst ihr, eigentlich glaubte ich, Künstler zu sein und kein Kinderbetreuer.«
Eliza ging nicht darauf ein, da sie ihre eigene Post durchsah. Das war Jonathans übliches Lamento. Ständig stöhnte er über die Besuche von Schülern – aber fast immer kümmerte er sich selbst darum. Jonathan mochte Kinder. Er war ein guter Lehrer – das wusste sie aus ihren eigenen Studententagen. Aber mit Kindern verstand er sich überraschend gut – er war ernsthaft und nüchtern, aber in der Lage, ihr Interesse zu wecken und ihre Begeisterung zu entfachen. Das war eine Seite Jonathans, die sie nie vermutet hätte.
In der Post war nichts Besonderes – ein paar Werbezettel und ein paar Bittgesuche, die in den Papierkorb wanderten, eine Einladung zu einer Vernissage, die vielleicht einen Besuch wert war, und ein paar Kunstkataloge, die sie beiseite legte, um sie später durchzublättern.
»… als wäre das hier eine Wohlfahrtseinrichtung für obdachlose Kinder.«
»Wie bitte?« Eliza hatte ihm keine Beachtung geschenkt.
»Ich sagte, diese Galerie kommt mir vor wie eine Wohlfahrtseinrichtung für obdachlose Kinder.«
Das war ein Seitenhieb auf Cara. Jonathan mochte Cara nicht, und zwar fast von dem Augenblick an, als sie eingezogen war. Jonathan hätte es lieber gesehen, wenn die Wohnungen zur marktüblichen Miete vermietet worden wären, und nicht zu den »bezahlbaren Mieten« – die nach Elizas Einschätzung ohnehin hoch genug waren –, wie es der Trust festgelegt hatte. Er fand, die Wohnungen sollten von »jungen Akademikern« und nicht von sozial Bedürftigen bewohnt werden. »So ist das eben, wenn man Steuergelder nutzt«, erwiderte Eliza. Ihr fiel der vergangene Abend wieder ein, die ausgeschaltete Alarmanlage. »Übrigens, Cara …« Sie unterbrach sich. »Ist egal. Kommen Sie«, fügte sie, an Mel gewandt hinzu, »lassen Sie uns das nach oben bringen, ehe Daniel Flynn kommt.«
Mel zog einen Brief aus dem Drucker und legte ihn in Jonathans Eingangskörbchen. »Okay.« Seufzend erhob sie sich, und sie und Eliza trugen die Kisten mit Flynns Zeichnungen und Skizzen zum Lift.
Als sie die Kisten in die oberen Räume der Galerie befördert hatten, sortierten sie die Arbeiten nach dem Plan, den Eliza am Vorabend entworfen hatte. Bis jetzt lief alles glatt, und sie hatten ausreichend Zeit, um alles rechtzeitig zur Eröffnung zu erledigen. Eliza nahm sich vor, die Einladungsliste für die Vernissage noch einmal durchzugehen und sich zu vergewissern, dass sie niemanden vergessen hatte.
Mels Stimme unterbrach ihre Gedanken. »O Gott, sehen Sie sich das an!« Sie hielt eine Fotomontage hoch, auf der vor der unfruchtbaren glühenden brueghelschen Landschaft ein Mann, der unverkennbar die Uniform eines Offiziers des Dritten Reiches trug, eine Schlinge um den Hals einer jungen Frau legte. Die Hände der Frau waren gefesselt. Eliza spürte geradezu die Sorgfalt, mit der der Mann das Seil befestigte, die Konzentration auf seinem Gesicht, die weißgesichtige Angst der Frau. »Ist das echt?« Ihre Augen leuchteten.
Eliza nickte. Sie kannte das Foto – tatsächlich war sie es sogar gewesen, die Daniel darauf aufmerksam gemacht hatte. Es entstammte einer Fotoserie, die Ende des Kriegs aufgenommen worden war, als Hitlers Armee sich auf dem Rückzug befand. »Der Triumph des Todes«, sagte sie. » Flynn hat Recht. Brueghels Bilder genügen unserer Zeit nicht mehr.«
»Es ist krass«, sagte Mel.
Eliza wollte sich auf keine Auseinandersetzung einlassen, deshalb schwieg sie. Sie stellte sich einen Moment ans Fenster und schaute auf den Kanal. Weiter oben am Treidelpfad herrschte Betrieb. Schon vorher waren ihr die hin und her laufenden Menschen aufgefallen, aber jetzt erkannte sie, dass darunter Polizeibeamte waren. Offenbar hatte es in der Nacht dort unten Ärger gegeben. Sie zuckte mit den Schultern.
Dann schloss sie die Türen, um die Betriebsamkeit aus dem unteren Stockwerk auszusperren, und die Stille der Galerie hüllte sie ein. Sie musste arbeiten.
Madrid
Die Stille des Museums umfing Eliza, als sie durch die hohen, lichten Korridore schritt. Das waren die Momente, die sie im Prado schätzte, der frühe Morgen, ehe es in den Ausstellungsräumen zu geschäftig wurde, wenn sie die Räumlichkeiten und die Gemälde ganz für sich allein hatte.
Ihr Interesse an den frühen Meistern hatte sie in die Räume geführt, wo die flämischen Maler des sechzehnten Jahrhunderts hingen. Dank der von ihnen entwickelten Techniken hatten sie Gemälde von einer Klarheit und Tiefe und mit derart satten Farben geschaffen, die nicht mehr übertroffen werden konnten. Die Attraktion für die Besucher war das Gemälde Der Garten der Lüste, Hieronymus Boschs rätselhafte Darstellung von Himmel und Hölle. Die Farben waren nach all den Jahrhunderten noch immer lebendig und leuchtend. Eliza hatte viel Zeit vor diesem Bild verbracht, um es zu studieren.
Aber nach und nach hatte ein kleineres Gemälde, das an der anderen Seite hing, sie stärker in seinen Bann gezogen. Aus der Ferne wirkte es dunkel, aber bei näherer Betrachtung wurden Einzelheiten deutlich: eine verschwommene Küste, ein träger Fluss, Feuer, die einen düsteren Schein auf eine Landschaft warfen, über die eine Armee des Todes marschierte. Brueghels Meisterwerk: Der Triumph des Todes.
Das Gemälde übte eine große Faszination auf sie aus. Sie war hingerissen von den sorgfältigen Verfahren, dank derer die Farbe so frisch geblieben war, von der Leuchtkraft des Wassers und dem gleißenden Schein, der die Landschaft erfüllte. Vermutlich hatte Brueghel Tempera-Weiß in die feuchte oder trockene Grundierung eingearbeitet, um diese Farbintensität zu erzielen, angefangen mit den Glanzlichtern auf dem Fleisch … Dieses Gemälde lud das Auge ein, mit der Armee des Todes durch eine verwüstete Landschaft zu ziehen und die Lebenden, Männer, Frauen und Kinder, mit erbarmungsloser Entschlossenheit und entsetzlicher Grausamkeit zur Strecke zu bringen und hinzumetzeln.
»Un cuadro interesante, nicht wahr?«
Sie blickte sich um. Zwei Männer standen hinter ihr und studierten den Brueghel. Beide waren groß, leger gekleidet, der eine mit mediterran dunklem Haar, der andere mit der helleren Färbung des Nordens. Sie hatten beide etwas an sich, das sie als »Künstler« auswies. Der Dunkelhaarige kam ihr bekannt vor. Er war derjenige, der sie angesprochen hatte, und ihr wurde klar, dass er sie gemeint hatte. Noch während sie sich eine Antwort in ihrem immer noch holprigen Spanisch zurechtlegte, wurde ihr bewusst, dass er mit englischem Akzent gesprochen hatte. »Ja«, sagte sie. »Aber ich finde, dass das hier der falsche Platz für das Bild ist.« Wo hatte sie ihn schon mal gesehen? War er vergangenen Abend auch im Café gewesen?
»Wo sollte er denn sonst hingehören, wenn nicht unter die Boschs?«, hatte der andere Mann daraufhin gefragt. Ihre Künstleraugen analysierten sein Gesicht – gebräunt, als würde er den größten Teil seiner Zeit im Freien verbringen, slawische Wangenknochen. Seine dunklen Brillengläser spiegelten ihren Blick.
»Ich meine den Ort«, sagte sie und deutete dabei auf den hohen, gut beleuchteten Ausstellungsraum. »Es sollte woanders hängen, ich weiß auch nicht, in einem dunklen Winkel einer alten Kirche vielleicht, wo man ganz unvermittelt drauf stößt. Oder …« Seit Wochen hatte sie über dieses Gemälde nachgedacht. »Ich weiß, es ist von seiner Idee her mittelalterlich, aber da ist etwas … ich würde es in eine zeitgenössische Umgebung stellen. Eine Stadtlandschaft, Industrieruinen, um den Leuten einen modernen Triumph des Todes zu zeigen.«
Der dunkelhaarige Mann sah sich im Raum um. »Das ist das Problem mit einem Ort wie diesem«, sagte er. »Es wird aus seinem Zusammenhang gerissen. Hier festgehalten, ist es Geschichte, Aberglaube.« Er trat näher heran. »Es ist ein Gewaltvideo des sechzehnten Jahrhunderts«, sagte er. »Dem Kerl hat jemand die Augen herausgeschnitten. Wenn es ein Kerl ist.«
Der Genuss, mit dem Brueghel Folter und Tod abgebildet hatte, war ein Element von Gewaltvideos. »Sie standen auf Tod, auf die Apokalypse«, erwiderte sie. »Wohl so wie wir jetzt. Endzeit und all das.« Im Vordergrund lag eine Leiche im Sarg, ihr Kopf ruhte auf einem Strohbündel. Es erinnerte sie an einen Text, den sie kürzlich gelesen hatte. »Bringe kein Backenrot an, denn Tote haben keine Farbe; … Zeichne die Umrisse mit Sinopia mit etwas Schwarz gemischt, einer Farbe, die man Blutfarbe nennen könnte. Ebenso male die Haare (aber dass sie nicht lebendig aussehen, sondern tot!) … So male also jedes Mal deine Fleischfarbe, wenn es deine Aufgabe ist, den Körper eines Christen, überhaupt einer vernünftigen Kreatur zu malen.«
»Cennino Cennini«, sagte der andere Mann. Der Künstler des fünfzehnten Jahrhunderts, dessen Handbuch der künstlerischen Maltechniken die Welt der Renaissancekunst für die nachfolgenden Jahrhunderte beeinflusste. »Wie man einen toten Menschen malt.« Eliza war überrascht, dass er das Zitat erkannt hatte. Er nahm seine Sonnenbrille ab, um einen genaueren Blick auf das Bild und auf sie zu werfen. Er kniff die Augen zusammen, als wäre das Licht in der Galerie zu hell für ihn. »Cennini. ›Tote haben keine Farbe …‹ Da irrt er, wissen Sie. Der Tote verwest. In heutiger Zeit, in der so genannten zivilisierten Welt, sehen wir das nicht. Sie haben Farbe, aber wir sehen sie nie. Alles wird versteckt, verbrannt, vergraben …«
Eliza dachte an Ellie in ihrem trostlosen Grab.
Er setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Jemand sollte eine Ausstellung machen, stimmt’s, Daniel?« Er machte einen amüsierten Eindruck.
Natürlich! Jetzt fiel ihr ein, warum ihr der Dunkelhaarige bekannt vorkam. »Sie sind Daniel Flynn, nicht wahr?«, sagte sie. Er hatte vor zwei Jahren in London eine Ausstellung gehabt, die unter den Kritikern großes Aufsehen erregte und zu einem interessanten Skandal geführt hatte, als ein Künstlerkollege Flynn des Plagiats bezichtigte. Er war attraktiv, verkörperte den Bohemien und reizte zum Widerspruch. Seit damals tauchte sein Name überall auf, und sein Foto war in allen Zeitschriften und Sonntagsblättern. Eigentlich hätte sie ihn auf Anhieb erkennen müssen. »Ich wusste gar nicht, dass Sie in Madrid sind.«
»Ich bin seit ein paar Tagen hier. Ich reise und überlege, was ich als Nächstes machen werde. Das ist Ivan. Ivan Bakst.« Dieser Name sagte Eliza nichts. Sie gaben sich die Hand.
»Eliza«, stellte sie sich vor. »Eliza Eliot. Ich habe einen Zeitvertrag hier.«
Die beiden Männer waren sich in Frankreich begegnet, erzählte Flynn ihr. »Wir kannten einander von London her«, berichtete er. »Das ist Jahre her, damals war ich auf der Kunstakademie.« Bakst hatte die europäischen Wasserstraßen abgefahren. Er ließ sein Boot in der Nähe von Lyon zurück, und dann waren die beiden gemeinsam nach Spanien weitergereist.
»Bleiben Sie hier?«, hatte Eliza sich erkundigt. Sie machten ganz den Eindruck, als wären sie ein interessanter Gewinn für die kleine im Ausland lebende Künstlerschar, die sich in diesem Sommer in Spanien zusammengefunden hatte.
»Wir fahren weiter nach Marokko«, sagte Flynn. »Tanger. Und dann nach Süden, nach Tansania oder vielleicht an die Elfenbeinküste.«
»Ich war noch nie in Afrika.« Eliza und Flynn entfernten sich von dem Gemälde. Aber Bakst blieb und studierte es.
»Wenn man in Spanien ist, ist man schon fast dort«, meinte Flynn. »Das vergisst man leicht. Die Mauren hatten nahezu das ganze Land besetzt. Ich weiß nicht, vielleicht bleibe ich auch eine Weile.«
»Man könnte ein ganzes Jahr damit zubringen, die Galerien hier alle abzuklappern«, erwiderte Eliza. Was aber nicht hieß, dass sie, wie geplant, viele Galerien aufgesucht hatte, denn das Gesellschaftsleben von Madrid war einfach zu verlockend.
»Warum sollte man sich diese Mühe machen? Da könnte man auch Lenins Leiche besichtigen«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Genau das tun diese Galerien der Kunst an. Sterben ist nicht erlaubt, es durchläuft keinen natürlichen Prozess. Ein Ort wie dieser ist ein Mausoleum. Oder eine Trophäenhalle. Tote Kunst.«
Ivan Bakst war hinter ihnen aufgetaucht, während Daniel sprach. Er lächelte Eliza überlegen an, als würden sie beide einen Scherz teilen. »Du kommst auch ohne die Galerien bestens zurecht, Daniel«, meinte er.
Flynn lachte. »Dann sollte ich die Angebote also zurückweisen? Weißt du, das Geld lässt mich weiterarbeiten.« Er sah Eliza wieder an. »Wir sind gerade erst angekommen. Führen Sie uns doch herum. Trinken Sie was mit mir. Heute Abend.«
Sie sah ihn an. Sein Gesicht war schmal. Kontrastierend zu seinem dunklen Haar, wies er die fast durchsichtige Hellhäutigkeit auf, die sie mit Iren der Westküste oder Spaniern assoziierte. Seine Augen waren blau.
»Gut«, willigte sie ein.
Die Wohnungen waren wie eine Betonklippe, die über ihr in den Himmel ragte. Es war dunkel, aber sie blickte angestrengt nach oben, weil sie wusste, dass es kommen würde, und zwar schon bald, und dass sie nicht fähig wäre, es zu stoppen. Sie versuchte, sich wegzuducken, aus dem Blickfeld heraus, aber es kam, raste auf sie herunter und … Der plötzlich eintretende Alarm riss sie aus dem Traum, und sie warf instinktiv ihren Arm nach oben, um sich zu schützen. Dann war sie wach, atmete stoßweise, ihr Herz hämmerte. Sie lag da und starrte die Decke an. Wieder dieser Traum. Scheiße! Detective Constable Tina Barraclough drehte sich zur Seite und nahm den Hörer ab. »Ja?« Ihre Stimme klang heiser.
»Tina? Wo, zum Teufel, bist du? Du solltest hier sein. Und zwar jetzt.«
Dave West, ihr Partner. Sie warf einen Blick aufs Radio und stöhnte. Schon nach sieben. Sie hatte vergessen, den Wecker zu stellen – nein, jetzt fiel es ihr wieder ein, sie war nach drei Uhr heimgekommen und hatte die Weckfunktion ausgeschaltet. Sie hatte nicht aus dem Schlaf gerissen werden wollen. Und sie würde wieder zu spät kommen. »Scheiße. Wo …?«
»Hör zu, unten am Kanal ist etwas passiert. Man rechnet dort mit uns, wir sollen die Häuser abklappern. Ich bin für dich in die Presche gesprungen – ich sagte, du würdest auf direktem Weg hinfahren – also wärst du jetzt besser dort.«
»Okay, okay. Ich werde …« Während sie sprach, rollte sie sich aus dem Bett auf den Fußboden, wo sie eine Minute liegen blieb, sich den Kopf hielt und versuchte, den Tag um sich zusammenzusammeln. Die Reste des Traums zerbrachen in ihrem Kopf. Etwas Fallendes … Das Telefon redete noch immer mit ihr. Dave, der sie mit den Einzelheiten des Vorfalls vertraut machte. »Ja, ja.« Sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Sie war die letzte Nacht unterwegs gewesen.
Nachdem sie sich von ihrer Decke befreit hatte, erhob sie sich und versprach David, ihn in einer halben Stunde am Kanalbecken zu treffen. Sie spürte einen Würgereiz, und ihr war schlecht. Um Mitternacht hatte sie die Idee, ein bisschen Speed zu nehmen, um die Partystimmung anzuheizen, recht gut gefunden. Jetzt war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Zehn Minuten auf dem Hometrainer würden sie wieder in Schwung bringen, aber dazu war keine Zeit. Sie ging ins Badezimmer, drehte die Dusche auf und setzte sich, den Kopf haltend, auf den Badewannenrand. Ihr Magen machte sich auf entsetzliche Weise bemerkbar. Kalter Schweiß brach auf ihrem ganzen Körper aus, und sie fühlte sich benebelt und schwindelig. Sie wusste wirklich nicht, wie sie diesen Tag überstehen sollte.
Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, sich krank zu melden. Aber das wäre Dave gegenüber nicht fair. Er hatte ihr Rückendeckung gegeben, ein Freundschaftsdienst, den sie in letzter Zeit schon zu oft in Anspruch genommen hatte. Beide waren sie in eine nicht sehr erfolgreiche Ermittlung eingespannt gewesen, bei der es um neue Drogentote ging. Auf der Straße war eine Ladung reines Heroin aufgetaucht, das drei unbedarfte Abhängige wirkungsvoll aus dem Verkehr gezogen hatte. Herausgekommen waren Haftstrafen für ein paar kleinere Dealer, eine leichte Verschiebung der Hierarchie auf den Straßen und dann die Rückkehr zur Tagesordnung. Woher das Heroin kam, hatte man nicht zu ermitteln vermocht. Es war ein unkomplizierter Fall gewesen, aber es war ihnen nicht gelungen, bis an die Spitze vorzudringen. Tina hätte inzwischen ihre Beförderung bekommen sollen, aber ihr Ruf als gute und zuverlässige Beamtin hatte in letzter Zeit Schaden genommen. Sie musste zusehen, dass ihre Akte wieder in Ordnung kam.
Mühsam versuchte sie, die Einzelheiten des neuen Falls zu rekapitulieren, mit denen Dave sie hatte vertraut machen wollen. Eine Leiche im Kanal. Ein Mordfall. Er hatte ihr gesagt, wer die Ermittlungen leitete, aber es fiel ihr nicht mehr ein. Scheiße, das war wichtig, sie musste es wissen. Sie könnte anrufen … nein, sie erinnerte sich. DCI Farnham. Roy Farnham. Das war der Name, den Dave genannt hatte. Farnham war aus Humberside nach Sheffield gekommen, und ihm eilte der Ruf als Überflieger voraus, der sich nicht gern mit Dummköpfen umgab.
In einem Mordfall zu ermitteln, war eine gute Möglichkeit, sich zu profilieren. Weshalb also spürte sie den Sog der Depression, wenn sie daran dachte, was diese Ermittlung enthüllen würde. Und am Ende dann das Gefühl, dass man wenig, wenn überhaupt etwas Gutes getan hatte. Sie musste an ein Hochhaus in einer Sommernacht denken, die Autos, die Lichter, die schreienden Stimmen und das Aufblitzen über ihr, das zu einer Gestalt wurde, die aus Schwindel erregender Höhe herunterstürzte … Sie schüttelte die Erinnerung ab. Das war drei Jahre her. Jetzt ging es um einen Mordfall, und sie gehörte zum Team, und sie musste ihre Arbeit gut machen, damit ihre ins Stocken geratene Karriere sich wieder vorwärts bewegte.
Ein paar unter der Dusche verbrachte Minuten belebten sie ein wenig, aber als sie in den Spiegel sah, ähnelte sie immer noch Draculas Tochter. Verdammter Mist! Warum hatte sie sich zu dem Speed überreden lassen? Ohne das wäre alles okay gewesen. Heute brauchte sie ein paar künstliche Hilfsmittel. Sie holte ein schmales Papiertütchen aus ihrer Tasche und öffnete es vorsichtig. Besser als gedacht. Es waren immer noch ein paar Linien übrig. Sie klopfte ein wenig von dem Stoff heraus, zerkleinerte ihn und atmete das Pulver ein. Als sich in ihrer Nase erst ein Taubheitsgefühl ausbreitete, das von einem stechenden Schmerz abgelöst wurde, tränten ihr die Augen. Dann spürte sie, wie der Zauber seine Wirkung entfaltete. Ihr Kopf wurde klar, und das Gefühl von Kälte und Übelkeit wich von ihr. Ihre Energie kehrte zurück – sie musste nur aufpassen, dass sie nicht total aufgekratzt war, wenn sie zum Kanal kam. Sonst würden die anderen etwas merken.
Sie stopfte ihre Sachen in die Tasche und ging hinunter in die Küche. Dort traf sie auf Pauline, eine der Frauen, mit denen sie das Haus teilte. Sie aß Müsli und las Zeitung. »Da steht der Kaffee«, sagte sie, ohne aufzublicken.
Tina schenkte sich eine Tasse ein. »O mein Gott, letzte Nacht, ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe, es war dumm und verrückt, aber, hey, da unten am Kanal ist was im Gange, könnte ein guter Fall für mich sein, und deshalb brauche ich, brauche ich dringend …«
Pauline sah sie an. »Ich bin schon ein bisschen länger hier unten«, sagte sie.
»Ja, ja, ist ja gut.« Pauline hatte Recht. Sie musste sich in Acht nehmen. Sie ließ den Kaffee stehen, zwang sich dazu, eine Scheibe Brot mit Marmelade zu essen, und ging zu ihrem Wagen. Plötzlich summte die Energie in ihren Adern. Der Regen brannte auf ihren Wangen, und sie wurde von einer großen Woge Optimismus erfasst, als hätte sie nach all der Zeit ihr wahres Ich wieder gefunden, dieses entspannte zuversichtliche Ich, das in ihr lebte und sooft – in letzter Zeit – unerreichbar war.
Es dauerte eine halbe Stunde, ehe sie sich durch den Stadtverkehr gekämpft hatte und an der Stelle eintraf, wo die Cadman Street Bridge den Kanal querte. Sie nahm Daves vorwurfsvollen Blick wahr, als sie ankam und sich die Anweisungen für den Tag geben ließ.
Eliza und Mel verbrachten den ersten Teil des Vormittags mit dem Verschieben der Stellwände, damit sie rechtwinklig ausgerichtet waren. »Ich möchte eine Verbindung zum Kanal herstellen«, erklärte Eliza Mel. »Sehen Sie sich das Wasser auf dem Brueghel an. Und die Brücke. Es ist genau … Ich möchte nicht, dass die Leute es sich anschauen und denken: ›Oh, alter Meister.‹ Ich möchte, dass sie es sich ansehen und dann aus dem Fenster schauen und denken: ›Das ist hier. Das ist jetzt.‹« Sie richtete die Vergrößerung des hängenden Mannes an der Stellwand vor ihr aus und trat einen Schritt zurück.
»Sagt Daniel Flynn das?«, wollte Mel wissen. Sie wischte sich den Staub von ihrer Hose.
»Nein, das sind meine Ideen«, erwiderte Eliza.
Mel zog eine Schnute und setzte sich auf ihre Fersen. »Können wir eine Pause machen? Ich bin müde. Soll ich uns Kaffee kochen?«
Eliza übersetzte das als Mels Wunsch nach einer Gelegenheit, sich der Plackerei, den Ausstellungsraum herzurichten, zu entziehen. Aber welche Motive Mel auch immer bewegten, Kaffee war eine gute Idee. »Sie werden ins Café gehen müssen«, sagte sie. »Wir haben hier keinen Kaffee mehr.« Sie griff nach ihrem Geldbeutel. »Ich möchte einen Cappuccino.« Mel blickte interessiert aus dem Fenster, und Eliza erinnerte sich wieder an die Betriebsamkeit, die ihr zuvor aufgefallen war. »Vielleicht finden Sie ja heraus, was da los ist«, fügte sie hinzu.
Mel strahlte sie an. »Ja«, sagte sie und holte ihren Mantel.
Während Eliza auf Mel wartete, ging sie nach unten, um zu sehen, ob irgendwelche Nachrichten für sie eingetroffen waren und ob Jonathan sie brauchte. Seine Tür stand einen Spalt offen, und sie konnte ihn vor seinem Computer sitzen sehen. Sie klopfte und stieß die Tür auf. »Hi.«
Er fuhr hoch und wirbelte in seinem Stuhl herum. »Machen Sie das nie mehr, Eliza. Ziehen Sie Schuhe an, die ein Geräusch machen.«
»Tut mir Leid«, sagte sie.
»Ich habe nicht dafür studiert, dass ich meine Tage mit Berichtschreiben verbringe«, sagte er. »Was war das nun mit Cara, Eliza?«
Dann war ihm ihre ausweichende Reaktion also nicht entgangen. »Das hat Zeit. Sonst was Neues?«
Er zuckte gereizt mit den Schultern. »Nein. Sie könnten diesen Bericht für mich schreiben … Nein. Lassen Sie es mich wissen, wenn Flynn da ist.«
Der Vormittag war fast vorbei, und allmählich glaubte sie, Mel hätte die Botschaft falsch verstanden. Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war fast eine halbe Stunde vergangen.
In Jonathans Fenster spiegelte sich die Sonne. Der Raum war hell und luftig. Eliza überlegte, dass er sich gut als Seminarraum eignen würde, wenn sie es schafften, den pädagogischen Ansatz der Galerie auszuweiten. An den Wänden hingen Plakate von Ausstellungen, die Jonathan besonders bewundert hatte, einschließlich seines eigenen großen Erfolgs vor nunmehr über zehn Jahren, einer fotografischen Entdeckungsreise durch Englands Industrielandschaften, abstrakte Gebilde vor der Wildnis, die den urbanen Verfall überwucherte. Jonathans fotografische Begabung und die Intensität seiner Ideen hatten viel kritische Zustimmung erfahren. Aber seitdem hatte er nichts mehr von vergleichbarer Qualität zuwege gebracht.
»Was Cara angeht …«, begann sie. Jonathan musste wissen, dass Cara das Alarmsystem der Galerie außer Kraft gesetzt hatte.
Er blickte von seiner Arbeit auf, Verärgerung im Gesicht. »Was ist mit Cara?«, sagte er.
»Sie hat sich gestern Abend Zutritt zur Galerie verschafft.«
Er sah sie schweigend an. Er wirkte eher nicht überrascht, sondern gereizt und ein wenig ängstlich.
Eliza erzählte, was passiert war, ihre Begegnung mit Cara und Caras Behauptung, dass sie durch die Beobachtung von Jonathan gelernt hatte, wie die Alarmanlage funktionierte. Sein Gesicht spannte sich an, als er ihr zuhörte.
»Unsinn«, explodierte er. »So ein Mist.«
Eliza zuckte mit den Schultern. »Aber so hat sie es mir erzählt.« Das schien ihn noch mehr als alles andere aufzuregen. Jonathan schätzte es nicht, in seiner Fehlbarkeit durchschaut zu werden. Aber wenn sie darüber nachdachte, war es wirklich seltsam. Wann hätte Cara Jonathan dabei beobachten sollen, wie er die Alarmanlage einschaltete? »Wie auch immer, ich dachte, Sie sollten es wissen«, sagte sie.
»Sie hätten mir das eher erzählen sollen.« Sein Gesicht spiegelte seine Wut wider. Es sah nicht gut aus für Cara. »Ich werde das an den Trust weiterleiten. So etwas war nie vorgesehen.«
»Möchten Sie, dass ich das übernehme?« Eliza baute darauf, die Nachricht ein wenig abzuschwächen und den Trust dazu zu bewegen, Cara auf die Wichtigkeit der Sicherheitssysteme hinzuweisen, ohne dass sie größere Schwierigkeiten bekam.
»Nein.« Jonathan war stur.
Na gut. Er hatte ja Recht. Eliza sah zur Tür. Mel ließ sich wirklich Zeit mit dem Kaffee. Eliza lief wieder die Treppe hinauf und betrat die oberen Galerieräume, wo sie erfreut feststellte, dass die Stellwände die Atmosphäre im Raum und die Wirkung des Lichts nicht einschränkten. Um einen anderen Blickwinkel einzunehmen, ging sie ans gegenüberliegende Ende des Raums. Gut. Und hier brauchte sie nur ihren Kopf zu drehen, und schon blickte sie auf das dunkle Wasser des Kanals.
Dann spürte sie, dass jemand hinter ihr stand und dass Hände leicht ihre Schultern berührten. »Un cuadro interesante, nicht wahr?«
Sie wirbelte mit wild klopfendem Herzen herum, und da stand Daniel und lächelte sie ein wenig misstrauisch, ein wenig vorsichtig an, als wäre er sich seiner Wahrnehmung nicht sicher. »Daniel!«, rief sie, »du hast mich zu Tode erschreckt!«
»Entschuldige«, sagte er. »Aber unten war keiner.«
Es war so lange her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, dass sie sich nach und nach immer mehr an sein Pressefoto erinnerte, das ihn in heißem und schattigem Halbdunkel zeigte. Aber ohne die Kunst des Fotografen war er ganz gewöhnlich, der Daniel, den sie in Madrid kennen gelernt hatte, mit seinem dunklen Haar, den blauen Augen und einem freundlichen Lächeln, dessen Wachsamkeit ein wenig nachließ, als sie es erwiderte.
»Es ist lange her«, sagte sie. »Wie geht es dir? Was hast du gemacht?«
»Es geht mir gut«, antwortete er, noch immer vorsichtig. »Ich habe gearbeitet. Ich habe Madrid ein paar Wochen nach dir verlassen – es hatte dann einen Teil seines Charmes verloren.«
»Und wohin bist du gegangen?« Sie glaubte die Antwort zu kennen. Afrika. Tansania.
»Nach Whitby«, sagte er. »Ich habe dort eine Wohnung an der Küste.«
Whitby. Sie hätte am liebsten gelacht. »Du hättest herkommen können«, sagte sie. »Wir hätten – ich weiß nicht, irgendwas.« Er war so nah gewesen, aber er hatte sich nicht die Mühe gemacht, mit ihr in Kontakt zu treten.
»Ich habe gearbeitet«, rechtfertigte er sich. Er trat an die Fenster, um hinauszusehen. »Dieser Kanal« sagte er. »Er ist wie die brueghelsche Landschaft – man findet sogar die gebogenen Brücken und die abgestorbenen Bäume wieder.«
»Im Sommer leben sie«, entgegnete Eliza.
»Künstlerische Freiheit.« Er sah sie an. »Ich habe nie vergessen, was du damals gesagt hast, als wir uns gemeinsam den Brueghel ansahen.« Sein Blick wanderte hinaus auf den Kanal, und er schwieg einen Moment, als er mit leicht gerunzelter Stirn aus dem Fenster sah. »Was du gemacht hast, gefällt mir. Ich wusste, dass du diese Bilder verstehst.«
Die leichte Anspannung, die sie den ganzen Vormittag über nicht losgelassen hatte, ließ nach. Dies war der eine Faktor gewesen, der sich ihrer Kontrolle entzog. Es wäre möglich gewesen, dass Daniel ihre Ideen nicht gefielen. »Gut. Dann sage ich wohl lieber Jonathan Bescheid, dass du da bist.«
Er schüttelte den Kopf. »Das hat Zeit.« Er lehnte sich an den Fensterrahmen und blickte hinaus auf den Kanal. »Und wie gefällt dir dein Job als Kuratorin?«
»Ich liebe diese Arbeit.« Das war die Wahrheit. Eliza genoss es, die Werke anderer zu interpretieren und auf eine Weise zu präsentieren, die die Menschen dazu brachte, genau hinzusehen und darüber nachzudenken, was sie sahen. Über Kunstwerke in ihren Zusammenhängen nachzudenken, und sie nicht als eine Reihe isolierter Stücke zu betrachten, die wie Relikte ausgestellt wurden.
»Und was macht die Malerei?«, wollte er wissen. »Deine eigenen Sachen?«
Er meinte das Madrid-Gemälde oben auf der Staffelei. Vor Monaten, als es sich in ihrem Kopf zu formen begann, hatte sie sich mit Daniel darüber unterhalten. Sie hatte einen modernen Triumph vor Augen gehabt. Nicht einen des Todes, sondern einen des Lebens, etwas, das all das beinhalten würde, was Madrid für sie inzwischen bedeutete. Sie war weit oben im Norden Englands aufgewachsen, wo die Schatten und das Licht sich vermischten, wie Nacht und Tag in endlos schleichender Zeit aufeinander folgten. Madrid war der Süden – ein Ort harter Schatten und satter Farben. Und genau dies würde das Bild feiern.
Aber sobald Sheffield sie umschlossen hatte – der dunkle Winter, das einsame Leben, das sie sich hier gewählt zu haben schien, als wollte sie sich diesem Ort nicht länger als nötig hingeben und keine Bande knüpfen, die sie hier festhalten könnten –, hatte auch das Bild sich verändert. Die Schatten des Nordens hatten sich um die Ränder gelegt, die Farben begannen zu verblassen, und sie wurde sich bewusst, dass das Gemälde unter ihren Händen wuchs und sich in etwas ganz anderes verwandelte als das, was sie anfangs geplant hatte.
Aber sie spürte, dass sie darüber nicht mit Daniel reden wollte. In Madrid war alles gesagt worden. Aber hier war nicht Madrid, und Daniel war jetzt ein anderer.
Sie zuckte mit den Schultern. »Man wird so leicht abgelenkt«, meinte sie vieldeutig.
Er richtete sich ruckartig auf. »Aber du malst noch?«
»O ja.«
»Zeig mir, was du gemacht hast«, forderte er sie auf. »Zeig mir, woran du im Augenblick arbeitest.«
Einen Moment lang glaubte sie, er meinte jetzt, aber er ließ seinen Blick wieder durch den Ausstellungsraum schweifen. »Ich muss einige Zeit hier verbringen«, erklärte er.
»Dann lass ich dich wohl besser erst mal allein?«, schlug sie vor.
»Nein. Führ mich herum. Erzähl mir von deinen Ideen für die anderen Bilder. Dann bringen wir die üblichen Begrüßungsrituale hinter uns, okay?«
Elizas gedrückte Stimmung hob sich ein wenig. Sie holte ihre Notizen hervor, und sie schlenderten gemeinsam durch die Ausstellung, besprachen Probleme, entwickelten Ideen und waren sich in ein, zwei Punkten uneins. Irgendwann sah Eliza Mel mit fragendem Gesicht in der Tür stehen. Aber Eliza winkte ab und wunderte sich, was Mel wohl solange aufgehalten haben mochte, und Mel verschwand.
Es war schon fast Mittag, bis sie alles geklärt hatten. Die Zeit war damit vergangen, dass sie die Bilder durchsahen und verschiedene Hängungen an den Wänden und Stellwänden ausprobierten. Dabei waren sie in einen inspirierten Gedankenaustausch verfallen, der Kennzeichen ihrer Beziehung war. Sie unterhielten sich über das, was sie vermissten, über die Menschen, mit denen sie sich angefreundet hatten. »Weißt du noch …?, sagten sie beide und erinnerten sich lachend an Orte, die sie aufgesucht, Dinge, die sie gesehen, Dinge, die sie getan hatten. »Madrid wird hier in Sheffield wieder lebendig«, sagte er. Sie sah ihn an. »Ivan«, fügte er hinzu. »Wir sind in Kontakt geblieben. Er kommt in ein paar Tagen durch South Yorkshire. Zur Eröffnung wird er hier sein.« Er lächelte sie an.
Ivan Bakst. Sie konnte Daniels Begeisterung nicht teilen.
Plötzlich blieb er abrupt stehen und wandte sich von ihr ab, um durchs Fenster auf den Kanal hinauszuschauen. Die Sonne war verschwunden, und das Licht war trüber geworden. »Ich denke, das ist es«, sagte er. Sie spürte, dass er ganz woanders war. Die Worte schienen zwischen ihnen in der Luft zu sterben.
Es war sehr still in der oberen Galerie. Sie hatte damit gerechnet, dass Jonathan heraufkam, um Daniel zu sehen – Mel hatte ihm sicherlich mitgeteilt, dass Flynn da war –, und sie hatte auch fast erwartet, dass Cara auftauchte und begierig auf Gesellschaft und Konversation aus ihrer Wohnung in die Galerie kam, aber es war nichts von ihr zu sehen und zu hören. Eliza fiel das nächtliche Schreien wieder ein. Plötzlich fühlte sie sich müde und musste ein Gähnen unterdrücken. Daniel bemerkte es und sagte: »Du hast den ganzen Morgen ohne Pause gearbeitet. Du hättest was sagen sollen.«
Eliza schüttelte den Kopf. »War eine schlimme Nacht«, erwiderte sie.
Sie standen am Eingang zur Galerie, am Empfangstresen. Jonathans Büro lag rechts von ihnen. »Oh.« Er sah auf seine Uhr. »Ich bin schon spät dran. Ich gehe jetzt – ich werde Massey später anrufen. Sag ihm, dass alles bestens ist, mach einfach so weiter, wie wir es vereinbart haben, ja?«
Eliza war überrascht. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Oh. Ja, ist gut.« Sie war davon ausgegangen, dass er noch ein weiteres Treffen vorschlug, dass sie was trinken gingen, irgendwas. Sie wollte sich mit ihm über Madrid unterhalten, ihre Beziehung zu einer Art Ende bringen, dem Ende, das es nie richtig gegeben hatte. »Wann …?«
»Ich fahre heute an die Ostküste«, fiel er ihr ins Wort. »Aber zur Vernissage bin ich zurück, keine Sorge.«
Heute. »Gut, schön.« Sie sah ihm nach, als er die Galerie verließ. Draußen hielt er noch einmal kurz inne, als wollte er sich orientieren, dann wandte er sich ab von der Stadt und lief auf die Straße zu, die den Kanal über die Bacon Lane Bridge querte. Von dort führte ein Weg hinunter zum Treidelpfad, fiel ihr ein. Verwirrt schüttelte sie den Kopf. Sie sollte lieber bei Jonathan vorbeischauen.
Er war nicht in seinem Büro. Sie entdeckte ihn im allgemeinen Büro, wo er sich mit Mel unterhielt, die eilfertig aufschaute, als Eliza eintrat. »Wo ist er?«
»Er ist weg. Er war in Eile. Jonathan …« Sie hörte, wie matt ihre Stimme klang.
Jonathan zuckte mit den Schultern. »Dafür ist er bekannt. Jede Menge Begeisterung, jede Menge Wie wunderbar ihr alle seid, dann verliert er das Interesse und haut ab.« Die Feindseligkeit seiner Stimme überraschte sie. »Ist er zufrieden mit Ihrer Arbeit?«
»Ja. Er findet das Konzept wunderbar.« Gedrückt sah sie beide an. »Nun, habe ich mir keinen Kaffee verdient?«
Mels Blick fiel auf den Galerieeingang, durch den Daniel verschwunden war. Jonathan zuckte mit den Schultern. »Machen Sie sich deswegen keine Gedanken. Hören Sie, ich habe eine Sitzung in der Stadt. Erzählen Sie mir später davon.« Er wirkte müde und gereizt, wie Eliza bemerkte, als er ging. Die vielen Sitzungen, Berichte und noch mehr Sitzungen schienen ihm immer mehr zur Last zu werden.
»Was ist Ihnen denn zugestoßen?«, fragte sie Mel, nachdem Jonathan gegangen war. Das Kanalbecken war nur zehn Minuten von der Galerie entfernt, aber es hatte fast eine Stunde gedauert, bis Mel mit dem Kaffee zurückgekommen war.
»Ich musste den Umweg über die Straße nehmen«, erklärte Mel. »Der Treidelpfad war gesperrt.«
»Gesperrt?« Eliza schaltete den Wasserkocher ein. »Wollen Sie auch einen?« Sie würde sich mit Instant begnügen müssen.
»Ja. Überall ist Polizei und so.« Mel fing an, in ihrer Tasche zu kramen, und zog eine Zeitschrift heraus. Für sie war Kaffeetrinken gleichbedeutend mit Arbeitspause. »Ich war schon auf dem Weg, aber ehe ich zur Cadman Street Bridge kam, war ein Band über den Pfad gespannt, und es standen ein paar Polizisten daneben.«
»Was ist passiert?« Eliza hatte das geschäftige Treiben völlig vergessen, das sie am früheren Vormittag vom Fenster aus bemerkt hatte.
»Nun, ich bin stehen geblieben und habe mich mit ihnen unterhalten«, fuhr Mel fort. Sie war unverbesserlich und immer für einen Flirt zu haben, und so dürften diejenigen, die den Pfad bewachten, mehr als erfreut gewesen sein, sich ihr gefällig zu zeigen, dessen war Eliza sich sicher.
»Und was haben Sie aus ihnen herausbekommen?«, fragte sie.
Mel lächelte zufrieden. »Na ja, nicht viel«, gab sie zu. »Einer von ihnen meinte, er käme später vielleicht hier vorbei. Aber sie sagten« – sie senkte ihre Stimme und bekam glänzende Augen –, »dass sie eine Leiche im Kanal gefunden haben.« Sie schauderte in künstlicher Erregung.
»Ertrunken?«, fragte Eliza. Sie dachte an das ruhige, dunkle Wasser. Mochte es ruhig sein, war es doch kalt und gefährlich. Es waren auch früher schon Menschen dort ertrunken, und es würde wieder passieren, aber wie Mel war auch sie mehr fasziniert als entsetzt von der Vorstellung, dass es auf dem Treidelpfad zu einer Katastrophe und einem Todesfall gekommen war, so nah an dem Ort, wo sie lebten und arbeiteten.
»Das wusste er nicht«, sagte Mel. Und damit war das Thema für sie beendet. »Können wir jetzt Mittagspause machen? Ich habe ein Sandwich.«
Eliza warf einen Blick auf ihre Uhr. Nach eins. »In Ordnung«, sagte sie. Sie hatte von gestern noch einen Salat von Marks and Spencer im Kühlschrank. Eine halbe Stunde Pause müsste möglich sein.
Mel machte es sich mit ihrer Zeitschrift bequem, während Eliza sich um den Kaffee kümmerte. »Wo wohnt er?«, erkundigte sie sich.
»Wer?« Eliza goss Wasser in die Tassen. Der saure Geruch des Kaffees verursachte ihr ein wenig Übelkeit.
»Daniel Flynn«, sagte Mel ungeduldig. »Auf dem Foto sieht er wirklich sexy aus.« Sie warf Eliza einen grüblerischen Blick zu.
Eliza konzentrierte sich auf ihren Kaffee. »Der ist okay«, sagte sie mit neutraler Stimme. Sie hörte Mel zu, als diese über Daniel redete, erzählte, was sie über ihn gelesen und gehört hatte, über seine Beziehung zu dieser oder jener berühmten Schönheit, Dinge, die Eliza eigentlich lieber nicht gehört hätte, aber das wusste Mel natürlich nicht, und Eliza hatte auch nicht die Absicht, ihr das mitzuteilen. Sie schaltete den Ton von Mels Stimme ab, reagierte mit einem gelegentlichen »Hm« und ließ ihre Gedanken schweifen.
Und landete wieder bei Daniel. Eine Weile war es ihr gelungen, ihn aus ihren Gedanken zu verdrängen, aber die nächsten paar Tage würden schwer werden. Sie würde sich auf die Arbeit konzentrieren müssen. Sie dachte an die Bilder und die Fotomontagen, von denen sie den ganzen Vormittag umgeben gewesen war. Die Idee, mit dem Brueghel als Fokus den Betrachter durch die Grau- und Schwarz- und Blautöne von einigen Bildern in das weiß glühende Zentrum zu führen, wo seltsam geflügelte Wesen über einen Fluss aus Feuer flogen und schreiende Kinder der Napalmhölle entflohen, hatte Daniel gefallen. Plötzlich brannte sie darauf, sich wieder an die Arbeit zu machen.
»Nun«, sagte sie und aß ihren Salat auf, »dann machen wir weiter.«
Mel, die mitten im Satz unterbrochen worden war, war ungehalten. »Jonathan wollte, dass ich …«, begann sie.
»Und ich möchte, dass Sie mir helfen, den Raum herzurichten«, sagte Eliza. Sie hatte genug von Mel, und ausnahmsweise hielt diese den Mund.
Sie arbeiteten bis in den späten Nachmittag, dann sagte Mel: »Eliza …?«
Eliza rückte eine Stellwand gerade. »Ja?«
»Jonathan sagte, ich könne heute früher Schluss machen. Ich gehe ins Konzert. Er meinte, er sei damit einverstanden, wenn Sie es auch sind.« Ihre Stimme war ungewöhnlich zaghaft.
Eliza nickte. Sie hatte ihre schlechte Laune abgearbeitet und keinen Grund, Mel zurückzuhalten. Sie hatten gute Fortschritte gemacht. »Schön. Ich denke, wir haben getan, was wir konnten. Ich mache noch ein bisschen weiter. Dann bis morgen. Und achten Sie darauf, dass die Tür verschlossen ist.«
Eliza lauschte auf Mels Schritte, die auf der Treppe schwächer wurden. Sie war froh, allein zu sein. Sie konnte umherlaufen, das Konzept auf sich wirken lassen, nach dem sie die Bilder gehängt hatten, sich die Stellen merken, wo noch eine Veränderung nötig wäre, und anfangen, ein Gefühl für die Ausstellung als Ganzes zu entwickeln. Flynn würde am Freitag zur Vernissage kommen, am Samstag würden sie die Ausstellung eröffnen. Für die Vernissage musste sie die Vereinbarungen noch einmal durchgehen und Rücksprache mit den Lieferanten des Büfetts nehmen, überprüfen, ob in letzter Minute noch irgendwelche Einladungen verschickt werden mussten.
Sie hielt eine weitere Vergrößerung von Brueghels Originalgemälde hoch, die den Tod auf einem roten Pferd zeigte. Es war der Mitte des Gemäldes entnommen, wo sämtliche Lokaltermine des Todes in die orangefarbene Glut der Feuer getaucht waren, welche die tote Landschaft überzogen, als etwas sie zusammenzucken ließ – Zu viel Zeit mit alten Meistern –, und sie bemerkte die beiden Menschen, ein Mann und eine Frau, die in der Tür standen und sie beobachteten. Offenbar hatte Mel die Tür nicht abgeschlossen. Sie seufzte. »Die Galerie ist geschlossen«, sagte sie. »Wir öffnen um zehn Uhr.«
Die Frau betrachtete das Bild, das Eliza in Händen hielt. »Der Tod auf einem roten Pferd«, sagte sie. »Ich dachte, es sei ein fahles Pferd.« Sie ging herum, bis sie das Bild besser sehen konnte. »›Und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod‹«, zitierte sie.
Eliza erkannte die Worte. »Die Offenbarung«, sagte sie. Das trüb gewordene Licht fiel auf die Frau. Sie schien einem Porträt von Goya entstiegen zu sein, mit vollen Lippen und dunklen Augen, das ovale Gesicht von schwarzem Haar gerahmt. Sie sah blass und müde aus – ein Goya mit Kater, diagnostizierte Eliza mit dem Sachverstand der Erfahrung. »Ich glaube nicht, dass Brueghel den Tod als solchen gemalt hat. Ich denke, es sind alles Tode, wenn sie wissen, was ich meine.«
Die Frau nickte, den Blick noch immer auf das Gemälde gerichtet. »Es ist … beeindruckend«, sagte sie. Sie schlug einen anderen Ton an. »Sie sind Miss Eliot, Eliza Eliot?« Eliza nickte. Die Frau holte etwas aus ihrer Tasche und hielt es hoch, damit Eliza es sehen konnte. »Detective Constable Barraclough, South Yorkshire Police«, stellte sie sich vor. Für eine Polizistin sah sie viel zu exotisch aus. »Und das ist DC West.« Der zweite Beamte nickte Eliza zu.
»Wir ermitteln in einem Vorfall, der sich gestern Nacht auf der Kanalböschung zugetragen hat«, erklärte DC Barraclough. »Sie wohnen in der Wohnung oben, nicht wahr?« Eliza fiel Mels Geschichte von dem abgesperrten Treidelpfad wieder ein und der Leiche im Wasser. »Wir versuchen, uns ein Bild davon zu machen, was passiert ist. Ist Ihnen gestern Nacht irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Ungewöhnlich?« Eliza schüttelte den Kopf. »Was meinen Sie mit ungewöhnlich?« Ein Vorfall. Sie spürte eine Unruhe in sich, die heftiger wurde. Was genau war gestern Nacht auf dem Treidelpfad passiert?
»Irgendwas, das sich nach Auseinandersetzung, nach Kampf anhörte? Oder vielleicht auch nach umherziehenden Kindern?«
Eliza schüttelte wieder den Kopf. An etwas Derartiges konnte sie sich nicht erinnern. Sie erinnerte sich an den Lärm des Sturms.
»Laufen denn nachts viele Leute über den Treidelpfad?«, fragte DC Barraclough.
»Manchmal kommen Boote vorbei, gelegentlich auch Kinder. Für gewöhnlich ist es ziemlich ruhig.«
»Aber Sie haben letzte Nacht nichts gehört?«
»Es war sehr stürmisch, das hat mich wach gehalten. Aber …« Eliza zuckte mit den Schultern. Der Klang des schlechten Wetters war es nicht, wonach die Frau suchte. »Haben Sie schon in der anderen Wohnung nachgefragt?«, sagte sie.
DC Barraclough machte ein überraschtes Gesicht und überprüfte ihre Notizen. »Die andere Wohnung?«, meinte sie verwundert.
»Es gibt zwei Wohnungen«, erklärte Eliza. So viel zur Tüchtigkeit.
»Wer wohnt da?« Diesmal fragte der Mann. DC Barraclough blätterte stirnrunzelnd ihr Notizbuch durch.
»Cara …« Eliza stellte fest, dass sie Caras Familiennamen nicht kannte. »Eine junge Frau und ihr Baby«, fügte sie hinzu. »Sie heißt Cara. Ich kenne sie nicht …«
Sie spürte das kurze Zögern, dann sagte DC Barraclough: »Und es gibt ein Baby?«
»Ja.« Eliza bemerkte, dass die beiden Polizeibeamten einen Blick tauschten. »Stimmt etwas nicht?«
»Haben Sie sie heute schon gesehen?«, fragte die Frau. »Diese Cara?«
Eliza schüttelte den Kopf und fühlte sich plötzlich unwohl. Ihr fiel ein, dass sie sich schon gewundert hatte, warum Cara heute nicht in die Galerie gekommen war, wie sie das sonst tat. Und ihr fiel Mel wieder ein, die mit vor Aufregung leuchtenden Augen von der Polizei auf dem Treidelpfad und der Leiche im Kanal berichtet hatte.
DC Barraclough gab ihr keine Antwort. Sie sprach in ihr Funkgerät.
Die Second Site Gallery lag nicht weit entfernt von der Polizeistation. Roy Farnham traf bereits fünfzehn Minuten nachdem er den Anruf erhalten hatte, dort ein. Er parkte auf dem Parkplatz vor dem alten Lagerhaus und nahm unbewusst die Schönheit des alten Gemäuers, die eleganten Bögen über den Fenstern und Türen wahr.
Eine der Beamtinnen erwartete ihn. Sie war ihm zuvor schon aufgefallen, die DC, die so aussah, als käme sie gerade aus einem fremden Bett. Tina Barraclough. Was hatte er über die Barraclough gehört? Ein Nervenzusammenbruch nach einem Fall vor ein paar Jahren, der schief gelaufen war? Hatte was mit einem Selbstmord zu tun, ein junger Mann, der aus einem Hochhaus gesprungen war … Er brachte es nicht mehr ganz zusammen. Ihm fiel auf, dass sie ziemlich krank und mitgenommen aussah, als sie zu ihm kam und in aller Eile von der jungen Frau erzählte, die man nur als »Cara« kannte und die mit einem Baby in einer Wohnung über der Galerie wohnte und heute noch nicht gesehen worden war.
»Können wir da rein?«, fragte er.
Barraclough antwortete mit einem Kopfschütteln. »Dave West ist oben gewesen.« Sie deutete auf die Treppe, die außen am Gebäude hinaufführte. »Die untere Tür war offen, aber die ins Gebäude führt, ist verschlossen.«
Farnham hörte noch die Stimme der Pathologin vom frühen Morgen. Irgendwo ist da ein Baby. Dieses Mädchen hat vor nicht allzu langer Zeit ein Baby bekommen. »Wir müssen rein.« Während er sprach, bemerkte er, dass jemand aus der Galerie kam, eine Frau. Als sie den Kopf hob, erkannte er sie. Es war Eliza Eliot, die Frau, die ihm bei der Chapman-Beerdigung begegnet war – für einen Moment hatte er vergessen, dass sie in der Galerie arbeitete. Er hatte gehofft, ihr bei einem eventuellen Wiedersehen unter weniger formellen Umständen zu begegnen. Eine Beerdigung und ein Mordfall. Herrgott, Farnham, du weißt wirklich, wie man einer Frau was Schönes zeigt. »Miss Eliot«, sagte er. Er sah das Wiedererkennen in ihren Augen. »Sie haben meinen Beamten erzählt, dass Sie die Frau, die oben wohnt, den ganzen Tag nicht gesehen haben. Ist das ungewöhnlich?«
»Ja.« Sie rieb sich die Arme, weil sie fror. »Ja, das ist es. Sie kommt für gewöhnlich immer kurz in die Galerie. Sie ist ein wenig einsam, glaube ich …«
»Gibt es noch einen anderen Weg zu den Wohnungen?«
»Ich hole meinen Schlüssel …«, begann sie, korrigierte sich aber, »es gibt auch eine Treppe in der Galerie. Dieser Weg ist schneller.« Er folgte ihr in die Galerie, vorbei an dem leeren Empfangstresen und durch ein Drehkreuz. Die Galerie war verwaist, die Räume im Untergeschoss lagen im Dunkeln. Schemenhaft erkannte er die Bilder an der Wand, Objekte, die auf dem weitläufigen Boden standen und merkwürdige Schatten in dem verblassenden Licht warfen. Eliza Eliot führte sie in den hinteren Teil der Galerie und durch eine Tür, die sie zu einem Treppenhaus öffnete. Sie lief voraus und öffnete eine schwere Tür am Treppenende.
Farnham befand sich in einem langen, geraden Korridor. Es gab zwei Eingänge zu diesem Korridor, offene Vorräume, die in die jeweiligen Wohnungen führten. Die Tür, die zur Außentreppe führte, lag am anderen Ende.
»Das ist Caras«, sagte Eliza Eliot und deutete auf die erste Tür.
Barraclough sah Farnham an und klopfte dann an die Tür. Alles war ruhig. Sie klopfte wieder. »Sie haben Sie in der Nacht gehört?«, erkundigte Farnham sich bei Eliza.
Eliza nickte. »Sie kümmerte sich um das Baby. Es schrie.«
Barraclough lauschte angespannt. »Da ist keiner«, sagte sie, sich an den anderen Beamten wendend.
Farnham nickte West zu, der daraufhin einen Schritt zurücktrat und über dem Schloss gegen die Tür trat. Sie gab ein wenig nach. Er trat wieder dagegen, und sie flog auf. Der kleine Flur war dunkel. Farnham hörte das Klicken eines Lichtschalters, aber nichts passierte, dann sagte Barracloughs Stimme: »Das Licht funktioniert nicht«, dann lauter: »Cara? Polizei. Ist alles in Ordnung mit Ihnen?« Er hielt die Taschenlampe an die Decke. Eine nackte Birne hing in der Fassung. Er ging vor und stieß die Tür auf, die in den Wohnraum führte. Vom Flackern einer Kerze abgesehen, war es dunkel im Raum. Schwere Vorhänge waren vor die Fenster gezogen. Es war eisig kalt. Er drückte auf den Lichtschalter, aber wieder passierte nichts.
West stand drüben am Fenster und zog an den Vorhängen. Sie fielen herunter und landeten mit einem dumpfen Schlag auf dem Fußboden und verbreiten den Geruch von Staub. Es waren nichts weiter als alte Decken, die man über die Vorhangstange gehängt hatte. In dem trüben Licht glaubte man, in einem Kinderzimmer zu sein, der Kinderdruck auf der Bettdecke, der Teddybär und die Puppe auf dem Boden neben dem Bett, das nicht gemacht war, ein Schaukelpferd, das man an die Wand geschoben hatte. Die Reste eines geschnittenen Brotlaibs auf der Arbeitsfläche, ein Becher, ein offener Milchkarton, eine Babyflasche, ungespült. Auf der einen Seite des Raums stand ein Geschirrschrank, dessen Türen offen waren, daneben eine Kommode, die Schubladen herausgezogen, der Inhalt über den Boden verstreut.
Er hörte Barracloughs Aufschrei. Sie stand über ein Kinderbett gebeugt, das man dicht vors Fenster geschoben hatte. Farnham sank das Herz, als er das reglose, in einen Schal gewickelte Bündel sah. Er sprach bereits in sein Funkgerät, als Barraclough mit ihren Händen über das Kind strich. Er sah Eliza Eliot, die Hände auf den Mund gepresst, an der Tür stehen, die Augen geweitet vor Entsetzen. Nach einem forschen Nicken in Wests Richtung begleitete dieser sie hinaus, zurück zur Wohnungstür, zum Vorplatz.
Dann stand Eliza vor der Wohnung, und der junge Mann sah sie an. Er hielt ein Foto in der Hand. Eliza bemerkte, dass er es vorsichtig anfasste und mit einem Taschentuch vor seinen Fingerabdrücken schützte. »Ist sie das? Die Frau, die hier wohnt? Cara?«
Eliza betrachtete das Foto. Cara lächelte sie verdutzt an und hielt ein neugeborenes Baby unbeholfen in den Armen. »Ja«, sagte sie. »Hören Sie, was ist …?«
Roy Farnham kam aus der Wohnung und sprach noch immer in sein Funkgerät. Seine Stimme klang schroff und effizient, und irgendwie war dies viel beruhigender als Schreien und Rufe. Er sah sie an. »Wir müssen mit Ihnen reden«, sagte er. »Warten Sie bitte unten?«
Sie schüttelte den Kopf. Man hatte sie bestimmt und unerbittlich dazu gedrängt, hinunter in die Galerie zu gehen, zurück ins Büro, wo sie sich schwerfällig setzte. In der Ferne hörte man bereits den Klang einer Sirene, der näher und näher kam. Sie zitterte. Wortlos sah sie den jungen Beamten an. Sie konnte nicht verstehen, was er sagte. »Ich weiß es nicht«, sagte sie immer wieder. »Ich weiß es nicht …« Sie versuchte, auf das zu lauschen, was sich zwei Stockwerke über ihr abspielte, hörte Schritte, die über die Außentreppe rannten, dann wieder Stille.
Cara. Caras Baby. In einer plötzlichen Vision sah sie Ellie als winziges Bündel in Maggies Armen, sah Cara, die das Baby auf Elizas plumpe Aufforderung hin auf den Sessel in ihrer Wohnung legte. »Ich muss …«, sagte sie und stand auf. Sie ging zum Galerieeingang, ohne sich um die Anstrengungen des jungen Mannes zu kümmern, der sie zurückzuhalten versuchte.
Zwei Sanitäter kamen die Treppe heruntergerannt, einer von ihnen trug das winzige Bündel, das Briony Rose sein musste. Der Ambulanzwagen fuhr los, ohne die Sirenen ausgeschaltet zu haben. Wie eine Schlafwandlerin ging Eliza die Treppe hoch in den Ausstellungsraum und stellte sich vor die Reproduktion des Brueghels, das Herzstück der Ausstellung. »Miss Eliot?« Sie hörte hinter sich die Stimme des Beamten.
Ein Fluss floss durch die Szene, ein aufgedunsener Leichnam trieb auf der öligen Oberfläche, ein weiterer sank unter eine Bogenbrücke ins Wasser. Ein brennender Turm beherrschte die Landschaft, und die Armeen des Todes preschten voran.