Читать книгу Fluch der verlorenen Seelen - Darina D.S. - Страница 3

2. Die Akademie

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Ein Ort, so fremd und doch vertraut.

Rastlose Suche nach Zugehörigkeit

zerschmettert durch einen Moment der Hoffnung.

Die schrecklichen Gedanken an den Traum verblassen.

Zuhause, der Ort, an dem die Seele ruht.

Für Amalia fühlte sich die Autofahrt wie eine Ewigkeit an. Die bedrückende Stille machte sie nervös und brachte sie ins Grübeln. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf:

Wie haben diese Leute sie gefunden? Was erwarteten die Menschen dort von ihr? Was hatte es mit diesem Schwert auf sich und den Kreaturen, die sie sah? Wo befand sich diese ominöse Akademie?

All das hätte sie gerne gefragt, doch sie traute sich nicht. Immerhin konnte sie mutmaßen, wo sie sich befand. Zumindest hatte sie den Eindruck, dass das Meer in der Nähe war. Der unverkennbare salzige Geruch der Meeresluft stieg immer wieder auf. Doch auch die Berge konnten nicht weit entfernt sein, denn der Weg war oftmals holprig und steil.

»Wir sind da. Du kannst die Augenbinde jetzt abnehmen«, hörte sie den Professor sagen. Amalia nahm die Binde hastig ab, um endlich zu sehen, was sie erwartete. Mit zusammengekniffenen Augen stieg sie aus dem Auto und streckte sich; die Abendsonne blendete.

Vor ihr lag ein eindrucksvolles Gebäude, dessen Anblick ihr fast den Atem raubte. Nie zuvor hatte sie so ein schönes Kloster gesehen. Die bloße Erscheinung des Bauwerks löste in ihr ein Gefühl von Demut aus. Ihren Kunst- und Geschichtskenntnissen nach zu urteilen, stammte dieses edle Werk aus der Gotik, vermutlich zwischen 12. und 14. Jahrhundert – so zumindest der Backsteinbauweise zufolge. Zudem war die Fassade von verschiedenen gotischen Elementen wie Spitzbogenfenstern aus Buntglas mit Fensterrosen und Verzierungen in Form gefalteter Blätter geschmückt. Schlanke flankierende Türmchen betonten die hochstrebende Bauweise. Diese waren eindrucksvoll mit Krabben und Wasserspeiern verziert. Neben dem massiven dunkelbraunen Holztor befanden sich jeweils zwei Lanzenfenster mit weiß-blauen Buntgläsern. Über dem Tor prangte eine silberne Inschrift: ›Nightingale Akademie‹. Östlich der Mauern entdeckte Amalia etwas entfernt einen Kirchturm.

»Es ist faszinierend, nicht wahr?« Der Professor betrachtete ebenfalls die unvergleichlich schöne Fassade. »Dieses bezaubernde Kloster liegt an einem abgelegenen Ort inmitten dieser Berge, romantischen Wälder und Moore«, erklärte er und wirkte aufrichtig stolz auf das Gebäude. Hier lag die Grafschaft Blacksoul, nahe an den Städten Blackburn und Lancaster im Forest of Bowland. Doch die kleine beschauliche Grafschaft und das Kloster waren auf keiner Karte zu finden. Auch nach Aufzeichnungen suchte man vergeblich.

»Amalia, wir müssen jetzt rein«, forderte sie der Professor auf und ging zu den beiden anderen, die bereits am Tor standen. Amalias Blick verharrte auf dem Schriftzug, als sie die Stufen zum Eingang hinaufstieg.

»Wow«, murmelte sie, während sie sich im Eingangsbereich umschaute. Die hohen Wände mit einem abschließenden Kreuzrippengewölbe und die großen Fenster ließen den gesamten Saal leicht und schwerelos wirken. Das Licht der Abendsonne flutete den Raum und tauchte ihn in ein wunderschönes Karminrot.

»Freya, kannst du Amalia ein bisschen rumführen? Und danach bring sie bitte in mein Büro«, sagte Professor Adams zu einer der Personen mit den mönchsähnlichen Kutten und begab sich hastig zu den großen Treppen am Ende des Saals.

Mit einer eleganten Bewegung streifte sich Freya die Kapuze ab. Ihre langen dunkelbraunen Haare glitten über ihre Brust. Amalia konnte nicht bestreiten, dass sie eine sehr schöne Frau war. Volle Lippen, giftgrüne Augen und hohe Wangenknochen; ein Gesicht, das so unschuldig und verführerisch zugleich wirkte. Sie war etwas größer als Amalia und erschien reifer als sie.

»Hey, vielleicht wachsen deine noch«, scherzte Freya und deutete dabei auf Amalias Brüste. Sie interpretierte deren Mustern als neidischen Vergleich, doch dem war nicht so. Amalia fand sie schlichtweg attraktiv.

»Hi, ich bin Freya White und das hier neben mir ist Julien Jackdaw«, erklärte sie und zog dabei dessen Kapuze hinunter. Er warf ihr einen missmutigen Seitenblick zu.

»Willkommen«, grüßte er freundlich und Amalia spürte, wie ihr die Verlegenheitsröte ins Gesicht stieg.

»Kein Grund gleich rot zu werden. Ich weiß, Julien ist hier unser Schnuckel«, sagte Freya und lehnte den Ellenbogen auf seine Schulter. Amalia war nicht in der Lage, den Blick vom Schönling mit den hellblonden, kurzen Haaren und dunkelblauen Augen abzuwenden. Julien schaute Amalia direkt an und lächelte. Dabei wurde ihr Gesicht noch roter, so rot wie ein gekochter Hummer.

»Ich schicke dir nachher ein Bild von ihm, aber jetzt müssen wir los«, rief Freya und schnappte Amalias Oberarm. Julien sah ihnen nach und hoffte, dass sie ihr nicht das Bild von der letzten Partynacht schicken würde.

Die zwei Mädchen liefen einen langen Flur entlang. Amalia betrachtete im Vorbeigehen die Personen auf den Ölgemälden. Manche posierten auf Pferden, andere thronten auf übertrieben großen, protzigen, goldenen Sesseln und wiederum andere saßen in einer Tafelrunde mit Speis und Trank zusammen.

»So, dann zäumen wir das Pferd mal von hinten auf. Hier am Ende des Ganges befindet sich eine Tür, durch die man zu den Stallungen kommt«, erklärte Freya.

»Stallungen?«, fragte Amalia.

»Ja, wir haben hier auf der Anlage Pferde, außerdem einen Fitness- und Trainingsraum, Unterrichtsräume, eine große Bibliothek, oh, und einen kleinen See. Aber alles zu seiner Zeit. Du sollst ja nicht von den ganzen Eindrücken erschlagen werden.« Freya zwinkerte ihr zu und sie setzten ihren Weg durch die Gänge fort. Wunderschöne gelbgoldene Kerzenleuchter zierten die Wände. Schließlich blieb Freya abrupt vor einer hellbraunen Flügeltür mit zwei goldenen Knäufen, um die sich vergoldeter Efeu rankte, stehen. Mit einem kräftigen Stoß öffnete sie die Tür. »Und das ist die Bibliothek«, sagte sie mit einer einladenden Bewegung. »Wenn du Ablenkung und Ruhe brauchst, hier findest du sie.«

Amalia vermochte ihren Augen nicht zu trauen. Unzählige Bücher, nichts als Bücher. Das war zunächst alles, was sie sah. Von den farbenfroh gestalteten Exemplaren der Gegenwart bis hin zu in Leder gebundenen Schriften vergangener Epochen, stapelten sich hier die Erinnerungen sämtlicher Autoren der Geschichte. Die Bibliothek verlief auf zwei Ebenen, wobei der obere Teil über eine elegant geschwungene Wendeltreppe begehbar war. Ein Geländer mit Efeuranken aus patiniertem Messing schmückte die Holztreppe und die vielen elektrischen Kerzen des gewaltigen Kronleuchters erhellten den Raum. Auch dieser war aus Messing mit denselben Blätterornamenten, die im ganzen Gebäude zu finden waren. Ein Geruch von Leder, Staub, Holz und gealtertem Papier lag in der Luft.

Die beruhigende Atmosphäre wurde durch Freyas Aufforderung jäh unterbrochen:

»Los, weiter geht’s.«

Amalia spürte Freyas Hand zwischen ihren Schulterblättern, die sie sanft nach draußen schob. Mit hastigen Schritten rauschte die Brünette den Gang entlang und zeigte Amalia im Vorbeigehen den Fitness- und Trainingsraum.

»Morgen Nachmittag komm ich bei dir vorbei, dann essen wir gemeinsam und ich zeige dir noch etwas mehr von der Akademie«, sagte sie lächelnd.

»Danke, das ist wirklich nett von dir, aber ich habe ein Problem«, erwiderte Amalia und blieb stehen.

Freya streichelte ihren Rücken: »Was ist los?«

»Ich habe keine Kleidung, außer der aus der Psychiatrie«, erklärte Amalia betrübt.

»Okay, pass auf, wir machen das so: Ich komm schon vormittags zu dir ins Zimmer. Dann bring ich dir ein paar Klamotten von mir mit. Ich müsste sogar noch welche haben, die mir zu klein sind und dir von der Oberweite her passen könnten«, rief Freya euphorisch.

Amalia begann zu kichern. »Vielen Dank. Du rettest mir das Leben«, sagte sie und strahlte dabei über das ganze Gesicht. Sie kannte Freya erst seit einigen Minuten, aber ihre erfrischend natürliche Art zog Amalia regelrecht in ihren Bann. »Freya, da ist noch etwas … ähm … Intuitiv wusste ich, dass diese Wesen … ähm … ›Groohls‹ sagte Julien, glaube ich, keine Einbildung waren. Natürlich zweifelte ich dennoch an meinem Verstand … aber bitte sag mir: Was sind das für Kreaturen?«

»Geister. Aber genug geplaudert, ich muss dich jetzt schnell beim Professor abliefern, er möchte ein paar Dinge mit dir besprechen«, speiste Freya sie ab. Und schon schleifte sie Amalia, die nicht einmal die Chance hatte, näher auf ihre neugewonnene Erkenntnis einzugehen, wieder hinter sich her bis zu Professor Adams’ Büro im ersten Stockwerk. Ungeduldig klopfte Freya mehrfach an dessen Tür und trat ein, ohne auf ein Hereinbitten zu warten. »Hallo, ich möchte nicht stören, aber die Tour ist beendet.« Freya drehte sich zu Amalia um und wisperte ihr beim Vorbeigehen zu: »Bis morgen.«

»Danke, Freya. Bitte nimm Platz, Amalia. Ich hoffe, das war jetzt nicht alles zu viel für den ersten Tag?«, fragte der stellvertretende Leiter, während er auf den Stuhl auf der anderen Seite seines Tisches zeigte.

»Überhaupt nicht«, verneinte Amalia mit einem Kopfschütteln und setzte sich. Ihr Blick schweifte über das Mobiliar. Dieses Büro ähnelte in keiner Weise dem von Doktor Jones, der seine Urkunden wie Trophäen zur Schau gestellt hatte. Nein, die Einrichtung hier war schlicht und dennoch wirkte der Raum wegen der verschiedenen Pflanzen einladend. Zartrosa Orchideen verzierten den Fenstersims hinter dem Professor, rechts neben dem mahagonifarbenen Schreibtisch stand ein großer Benjamin, der bis zur Decke reichte, und links in dem dunklen Bücherregal, zwischen den alten in Leder gebundenen Enzyklopädien, befanden sich Kakteen in allen möglichen Formen. Von klein und dick bis lang und schmal war alles dabei.

»Gut, du bekommst jetzt noch die Zimmerschlüssel und den Unterrichtsplan von mir. Jedes Zimmer hat ein Bad mit einer Toilette, einer Dusche und einem Waschbecken. Du kannst deine Räumlichkeit so dekorieren, wie du möchtest«, erklärte der Professor und kramte unterdessen den Schlüssel aus seiner Schublade.

»Wo sind die Zimmer und warum muss ich in den Unterricht?«, fragte Amalia unsicher und zupfte ihr Haar.

»Wirklich, das Wichtigste hat sie dir nicht gezeigt? Die Unterbringungen der Mädchen sind auf diesem Stockwerk, die der Jungen auf dem zweiten. Im dritten befinden sich die Lehrräume. Du gehst nach rechts aus meinem Büro raus und dann läufst du den Gang bis zum Ende – auf das Fenster zu. Dein Zimmer ist das letzte auf der rechten Seite«, informierte sie der Professor und überreichte Amalia Schlüssel und Plan. »Ich weiß, dass du mit sechzehn Jahren nicht mehr schulpflichtig bist, aber hier an der Akademie werden Fächer unterrichtet, die es an keiner anderen Schule gibt. Mehr dazu erkläre ich dir morgen. Jetzt schlaf dich erst mal aus und komm morgen, wenn du fit bist, in mein Büro. Ach, und noch etwas: Der Westflügel ist gesperrt. Er wird schon seit Jahren nicht mehr benutzt.«

»Danke. Aber eine Frage habe ich noch.« Amalia spielte nervös mit dem Schlüssel. »Was hat es mit diesen Groohls auf sich?«

»Amalia, vorerst reicht es, wenn du weißt, dass du hier vor diesen Kreaturen sicher bist. Alles andere zu einem späteren Zeitpunkt. Komm jetzt erst mal an und leb dich ein.«

»Okay … Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend«, sagte Amalia, während sie das Büro mit gemischten Gefühlen verließ. Sie schlenderte den Gang entlang zu ihrem Zimmer und schaute sich neugierig um.

Genauso wie die Fassade bestand der Flur aus Backsteinziegeln. An den Wänden zwischen den Zimmertüren fanden sich vereinzelt alte Fackelhalter aus Messing.

Nach außen hin merkte man Amalia die Aufregung nicht an, die sie innerlich jedoch zerfraß. Mit zitternden Händen sperrte sie die Tür zu ihrem Zimmer auf. Das Erste, was sie wahrnahm, war der Geruch von Staub. Hier hatte sich anscheinend schon länger niemand mehr aufgehalten. Beim ersten Schritt in den kompakten Raum fingen die Dielen an zu knarzen. Interessiert begutachtete sie die wenigen Möbel. Zu ihrer Rechten befand sich ein rustikaler Kleiderschrank aus dunklem Holz. Unter dem breiten Fenster gegenüber der Tür stand ein alter Schreibtisch aus dem gleichen Holz wie der Schrank mit dem dazu passenden Stuhl. Links von ihr sah sie eine weiße Tür in einer eindeutig nachträglich hochgezogenen Wand. Amalia vermutete dahinter das Badezimmer. Um dies zu überprüfen, öffnete sie die Tür einen Spalt und steckte ihren Kopf hinein. Ohne den Lichtschalter betätigen zu müssen, erkannte sie Dusche, Toilette und Waschbecken. Amalia zog den Kopf wieder heraus und fuhr mit ihrer Erkundung fort. Zwischen dem dazugebauten Raum und der Fensterwand ergab sich eine Nische, in der ein Einzelbett stand. An der rechten Wand, zwischen Schreibtisch und Kleiderschrank, hing ein Bücherregal mit drei Ebenen. Obwohl das Zimmer durch die spärliche Einrichtung unpersönlich wirkte, konnte Amalia nicht leugnen, dass sie sich ein wenig geborgen fühlte. Dies war ein Ort, der nur ihr gehörte. Sie riskierte einen kurzen Blick auf den Unterrichtsplan und sah merkwürdige Abkürzungen wie WK und SK. Amalia legte den Plan auf den Schreibtisch und warf sich erleichtert aufs Bett. Dabei atmete sie tief aus, um die Last der vergangenen Tage abzuschütteln. Deprimiert bemerkte sie, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Dann übermannte sie plötzlich die Müdigkeit. Zum ersten Mal seit langer Zeit schaffte sie es, in tiefen Schlaf zu fallen.

Amalia fühlte die warmen Sonnenstrahlen auf ihrem Gesicht, ein angenehmes Kribbeln durchdrang ihren Körper. Sie blinzelte und reckte die Arme in die Höhe. Verschlafen blickte sie sich um und erkannte, dass sie den Vorhang nicht zugezogen hatte. Das breite Fenster erstreckte sich vom Schreibtisch bis fast über das gesamte Bett.

Gähnend richtete sie sich auf und streckte die Beine aus, dann stand sie langsam auf und wankte schlaftrunken ins Bad. Sie drehte den Wasserhahn auf und spritzte sich die kalten Tropfen ins Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen griff sie zu dem Handtuch neben dem Waschbecken und trocknete sich ab. Schwer ausatmend warf sie einen Blick in den Spiegel.

Es wirkte alles so surreal und für einen kurzen Moment keimte Misstrauen ihrem Verstand gegenüber auf. Angst beschlich sie, dass sie gleich aufwachen würde und alles nur ein Traum gewesen wäre. Sie schüttelte den Kopf – nein, so weit reichte ihre Fantasie nicht, um sich ein solches Konstrukt auszudenken. Sie zupfte sich die Haare zurecht und trat aus dem Bad. Hastig nahm sie den Unterrichtsplan vom Schreibtisch und schlüpfte in ihre Turnschuhe. Ihren Blick in den Plan versenkt, marschierte sie zum Büro des Professors; sie wollte mit ihm sprechen, bevor Freya zu ihr kommen würde.

Kurz blieb sie vor seiner Tür stehen, dann klopfte sie leise an. Als sie seine freundliche Stimme dazu aufforderte, trat sie ein. Der Professor begrüßte sie mit einem netten Lächeln und offerierte ihr den Platz gegenüber. Amalia nickte und setzte sich; zitternd hielt sie das Blatt in den Händen und starrte nervös auf das Stück Papier, nicht wissend, was sie in diesem Gespräch erwartete.

»Amalia, ich kontaktiere umgehend deine Pflegefamilie, denn wie ich sehe, trägst du immer noch die Kleidung der Psychiatrie. Sie sollen alles herrichten und ich lasse es von unserem Hausmeister abholen. Und natürlich kläre ich auch mit ihnen, wer sich um dein Taschengeld kümmert.«

»Vielen Dank. Mein Taschengeld?«

»Ja, Amalia, jeder an der Akademie erhält Taschengeld, entweder von seinen Eltern, aus Erbschaften oder eben von uns«, erklärte Professor Adams.

Amalias Augen leuchteten, die Anspannung wich allmählich einem wohligen Gefühl. »Ich habe eine Frage: Was bedeuten die Abkürzungen WK und SK?«

Der Professor schmunzelte. »Das sind eben diese Fächer, die du sonst an keiner anderen Schule finden wirst. Dieser Ort ist für Menschen mit besonderen Fähigkeiten und diese gilt es zu fördern. Dies geschieht unter anderem in den Unterrichtsfächern Waffenkunde und Seelenkunde.«

»Was meinen Sie mit diesen besonderen Fähigkeiten genau?«, hakte Amalia nach.

Der ältere Mann strich sich übers Kinn. »Amalia, ich möchte, dass du jetzt erst mal ankommst und dich einlebst. Nächste Woche beginnt der Unterricht für dich und davor hast du noch ein Gespräch mit dem Leiter der Akademie. Er wird mit dir alles Wichtige besprechen.«

»Nein, ich möchte jetzt schon in den Unterricht und mir die neuen Fächer wenigstens ansehen, so kann ich mich viel besser einleben und bin nicht allein mit meinen Gedanken.« Sie schnaufte frustriert. »Nach allem, was in letzter Zeit passiert ist, brauche ich ein wenig Ablenkung.«

»Von mir aus. Auch wenn das dem Akademieleiter nicht gefallen wird, gestatte ich dir, ab morgen den Unterricht zu besuchen, aber nur als stille Zuhörerin. Dir fehlt wichtiges Vorwissen, um dem Unterrichtsstoff folgen zu können. Ich möchte, dass du dich wohlfühlst, sollte dich das aber überfordern, kannst du jederzeit zu mir kommen. Ich gebe den Lehrern Bescheid und Freya, sie wird dich zu den Räumen bringen.«

»Ich danke Ihnen!« Amalia lächelte.

»Ich bitte dich wirklich, von Fragen bezüglich der Groohls und Akademie abzusehen. Der Leiter will dich selbst darüber aufklären, das hat er ausdrücklich verlangt.«

Amalia nickte und die beiden unterhielten sich noch eine Weile, bis sie sich verabschiedete und in ihr Zimmer zurückkehrte. Dort wurde sie bereits von Freya erwartet. Ungläubig starrte Amalia die Brünette, die im Schneidersitz auf ihrem Bett saß, an.

»Hey! Na, warst du noch mal bei Professor Adams?«

»Heeey! Ja und was machst du in meinem Zimmer? Und woher wusstest du, welches es ist?« Amalia legte den Kopf schief und kräuselte die Stirn.

»Na, auf dich warten. Ist ja nicht abgeschlossen. Vom Professor, ich war gestern Abend noch bei ihm und jetzt erzähl.« Freya klopfte neben sich aufs Bett und deutete Amalia mit einer einladenden Kopfbewegung an, neben sich Platz zu nehmen.

»Ja, ich darf ab morgen schon in den Unterricht.« Sie setzte sich breitgrinsend auf die Matratze.

»Echt?« Freya blinzelte sie verwundert an. »Ist das nicht etwas zu früh? Ich meine, du hattest noch nicht mal ein Gespräch mit dem Akademieleiter und manche Fächer sind etwas anders.«

»Ich weiß, aber ich möchte das so.« Amalia schielte unauffällig auf die schwarzen ledernen Handschuhe, die Freya trug. Dann lehnte sie sich zur Seite und versuchte, an der Brünetten vorbeizuschauen. »Was ist da hinter dir?«

»Oh, das sind die Klamotten von mir, vielleicht passt dir das eine oder andere Teil. Such dir was aus.« Freya streckte ihr einen Stapel Kleidungsstücke entgegen und Amalia nahm ihn grinsend an sich.

»Vielen Dank!«

»Wie wär’s, wenn du dich jetzt umziehst und wir dann essen gehen?«

Amalia nickte und rauschte mitsamt dem Kleiderstapel ins Bad. Nach nicht einmal fünf Minuten präsentierte sie Freya die Klamotten fast wie auf dem Laufsteg.

»Super, das Karohemd steht dir, Blau ist deine Farbe«, sagte Freya, stand auf, ergriff Amalias Oberarm und sauste mit ihr aus dem Zimmer.

Eilig liefen die beiden Mädchen die Treppen nach unten. Unerwartet blieb Freya vor einer breiten Flügeltür im Ostflügel stehen und stieß sie mit einem Ruck auf. Sie hielten einen Moment inne, damit Amalia die Möglichkeit hatte, sich kurz umzusehen. Der Speisesaal mit seiner hohen, stuckverzierten, gewölbten Decke war riesig. Vier Kronleuchter, die genauso aussahen wie der in der Bibliothek, hingen von nachträglich angebrachten Holzbalken herab. Der dunkelbraune Parkettboden glänzte und war so makellos poliert, dass sich die Kronleuchter darin spiegelten. Die langen Tischreihen im Saal lenkten Amalias Aufmerksamkeit auf die gegenüberliegende lang gezogene Glasfront, die ihr einen Ausblick auf die malerische Landschaft, die das Kloster umgab, gewährte. Als sie schließlich den betörenden Duft von Pancakes und Ahornsirup wahrnahm, lief ihr das Wasser im Mund zusammen.

Freya griff Amalias Arm und führte sie zur Essensausgabe. Alle Speisen wurden hier frisch zubereitet und Amalia war von der großen Auswahl schlichtweg überfordert. Von gebratenen Eiern über Obstsalat bis hin zu Würstchen mit Bohnen war alles dabei. Letztlich entschied sie sich für Pancakes, Sirup und allerlei Früchte.

Da sich die meisten Schüler vormittags entweder im Unterricht oder Training befanden, konnten die Mädchen ihren Tisch fast frei wählen.

Nachdem sie in Ruhe gegessen hatten, offenbarte Freya, dass sie ihr noch einen weiteren wichtigen Raum zeigen müsse, daher gingen sie zur Krankenstation, die auf der Nordseite lag. Professor Adams hatte Freya am Vorabend für die seltsame Auswahl der Räumlichkeiten, die sie Amalia gezeigt hatte, gerügt, also besann sie sich nun auf Wesentliches.

»Wenn irgendwas ist, wende dich an Doktor Frances oder Schwester Trudi. Sollten sie nicht in der Station sein, kannst du sie rufen. Moment ich zeige es dir.« Freya klopfte kurz an die Tür, dann öffnete sie diese. Amalia streckte den Kopf in das Zimmer. Mehrere Betten, abgetrennt mit Vorhängen, standen in einer Reihe nebeneinander. Dahinter befanden sich Regale und Arbeitsplatten – alles in einem hellgrauen Ton gehalten – mit den unterschiedlichsten medizinischen Geräten darauf.

»Hier an der Seite hängt ein Telefon, das verbindet dich direkt mit einem der beiden.« Freya tippte auf das Wandtelefon neben der Tür. Amalia blickte sich noch einmal im Raum um, daraufhin liefen die Mädels gemeinsam wieder zu ihrem Zimmer. Sie unterhielten sich dort noch eine Weile, bis die Brünette zum Training musste. Dann fiel Amalia erschöpft ins Bett – die letzten Tage waren doch kräftezehrender gewesen, als sie zunächst angenommen hatte.

Ein eisiger Luftzug riss Amalia aus ihrem Traum, in dem sie durch die Gänge der Akademie gegeistert war. Um sie herum herrschte Dunkelheit, bis sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Erschrocken realisierte sie, dass sie sich nicht in ihrem Zimmer befand. Vor sich erkannte sie die große Flügeltür, die zur Bibliothek führte. Ein kalter Schauer lief ihr den Rücken hinab und ließ sie frösteln.

Wie war sie hierhergekommen? Schlafwandelte sie? Träumte sie immer noch? Warum leuchteten die Wandlampen nicht? Trotz der Angst, die Amalia beschlichen hatte, spürte sie das Verlangen, die Bibliothek zu betreten. Ehe sie sich versah, stand sie inmitten der Bücher, die sie am Tag ihrer Ankunft bewundert hatte. Wie eine Motte zog es sie zu dem einzigen Licht, das hier brannte. Vollkommene Stille beherrschte den Raum – lediglich ihre eigenen Schritte und ihr hämmerndes Herz waren für sie zu hören. In einem Regal stand auf Augenhöhe eine einzelne leuchtende Tischlampe in Öllampenoptik.

Unbehagen breitete sich in ihr aus. Langsam ließ sie ihren Blick über die Bücher, die das Licht erfasste, streifen. Ein matter dunkelgrüner Buchrücken, auf dem in goldenen Buchstaben ›Alices Abenteuer im Wunderland‹ geschrieben stand, sprang ihr ins Auge. Vorsichtig strich sie über die eingeprägten Lettern des ihr wohlbekannten Buches und nahm es aus dem Regal. Wie in Trance griff sie nach der Lampe, setzte sich an einen Tisch in ihrer Nähe und stellte das Licht dort ab. Zögerlich drehte sie das alte Buch in der Hand. Auf der einen Seite sah sie ein Mädchen – das vermutlich Alice darstellte – mit einem Schwein, das sie in ihren Armen wiegte. Auf der anderen Seite grinste sie die Grinsekatze an. Beide Abbildungen waren ebenfalls in Gold geprägt. Der grüne Stoff des Einbandes hinterließ ein seltsames Prickeln auf ihrer Haut. Es war fast so, als ob das Buch ein eigenes Leben gehabt hätte. Amalia schlug es an einer beliebigen Stelle auf. Die alte schwarze Schrift war für sie erstaunlich leicht zu lesen.

»Aber ich möchte nicht unter Verrückte kommen, bemerkte Alice. Oh, das kannst du wohl kaum verhindern, sagte die Katze. Wir sind hier nämlich alle verrückt. Ich bin verrückt. Du bist verrückt. Woher willst du wissen, dass ich verrückt bin, sagte Alice. Wenn du es nicht wärest, stellte die Grinsekatze fest, dann wärest du nicht hier«, murmelte Amalia vor sich hin. Sie musste unweigerlich schmunzeln, da sie sich selbst in diesem Gespräch wiederfand. Als sie weiterlesen wollte, erregte ein Tropfen roter Flüssigkeit, der auf der Seite landete, ihre Aufmerksamkeit. Verwundert berührte sie den kleinen Fleck, der langsam ins Papier einzog. Es sah aus wie Blut. Ein weiterer Tropfen fiel auf ihren Handrücken. Erschrocken starrte sie nach oben, sah aber nichts. Als sie den Kopf wieder senkte, nahm sie einen metallischen Geruch wahr. Irgendetwas stimmte hier nicht. Amalia fühlte, wie ihre Finger, die das Buch hielten, feucht wurden. Sie hob den Roman mit beiden Händen vor ihr Gesicht und beobachtete, wie Blut aus den Seiten floss und an den Wunden ihrer Handgelenke entlanglief. Ihre Pupillen weiteten sich und füllten ihre Augen zur Gänze aus. Im Licht der Lampe erkannte sie, wie regelrechte Blutmassen plötzlich aus den Büchern in den Regalen herausbrachen. Amalia legte den Roman auf dem Tisch ab, doch ihre Finger hielten den Einband krampfhaft fest. Leises Wimmern ließ sie zusammenzucken. Es war ihr nicht möglich, zu orten, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Das Blut aus den Büchern floss über den Boden; wie ein Teppich breitete es sich um ihre Füße aus. Amalia saß wie versteinert da und war nicht in der Lage, mit der Wimper zu zucken. Indessen spürte sie, wie das Blut langsam bis zu ihren Knöcheln stieg. Bald schon würde es ihr bis zum Hals stehen.

Überraschend fühlte sie den Druck zweier Hände, die sich auf die ihren legten, während sie das Buch immer noch festhielten. Mit einem dumpfen Knall schlug der Roman zu und das Blut war verschwunden. Amalia registrierte, wie eine fremde Haarsträhne über ihr Gesicht bis zu ihrer Brust glitt.

»Vorsicht! Bücher sind in der Lage große Macht auf Menschen auszuüben«, wisperte eine unbekannte, sanfte Frauenstimme in ihr Ohr. Ruckartig sprang Amalia auf, dabei kippte der Stuhl krachend zu Boden. Als sie sich umdrehte, fiel sie über das umgekippte Möbelstück und landete hart auf dem Parkett. Eine schlanke Frau mit schwarzem hüftlangem Haar, deren Gesicht sie nicht richtig erkennen konnte, starrte sie aus leuchtend gelben Augen mit ovalen Pupillen – wie die einer Katze bei Dämmerung – an. Amalia hatte nie etwas Vergleichbares gesehen. Plötzlich erkannte Amalia eine langschnauzige Bestie im Schatten der Frau und mit einem Mal wurde alles schwarz …

Lautes Klopfen riss Amalia aus dem Schlaf. Die Sonne blendete und augenblicklich stiegen ihr Tränen in die Augen, die sie zu unterdrücken versuchte. Verwirrt blickte sie sich um. Wie war sie in ihr Zimmer gekommen? Erneut hämmerte es an der Tür.

»Ich komm gleich!«, schrie sie genervt und raffte sich auf.

Doch Freya schien ungeduldig zu sein, denn noch bevor Amalia aus dem Bett schlüpfen konnte, stand sie bereits neben ihr.

»Guten Morgen. Der nächtliche Ausflug hat deinen Haaren überhaupt nicht gutgetan. Du siehst aus wie eine Vogelscheuche«, sagte sie fast mitleidig.

Freya hatte leicht reden, sie sah schon am frühen Morgen wie ein Topmodel aus. Sie trug enge Jeans, ein schwarzes Top mit V-Ausschnitt, eine Lederjacke und dazu passende dunkle, filigrane Handschuhe. Amalia hatte diese bereits an ihr gesehen. Vermutlich der letzte neumodische Schrei. Freyas Haare waren zu einem Fischgrätenzopf geflochten. Während Amalia noch damit beschäftigt war, Freya zu bewundern, drangen deren Worte in ihren Geist.

»Bitte was? Was meinst du?«, fragte sie und zog eine Augenbraue nach oben. Woher wusste Freya von der Bibliothek?

»Ja, deine Haare sehen aus, als hätten Vögel ihr Nest darin gebaut.« Freya nahm dabei eine von Amalias zerzausten Strähnen in die Hand.

»Nein, das meinte ich nicht. Woher weißt du davon? Ich meine, von dem nächtlichen Ausflug?«, fragte Amalia und dachte: Es ist wohl doch kein Traum gewesen. Wie in Trance strich sie, dabei ihre Haare glatt.

»Tja, wir wissen alle, dass du mitten in der Nacht in der Bibliothek warst und ein Kinderbuch gelesen hast.«

Amalia war fassungslos, ihr Mund stand weiter offen als die Pforten der Hölle bei Luzifers Empfang.

»Du musst mich nicht gleich anschauen wie ein U-Boot. Julien ist eben manchmal eine Tratschtante.« Freyas hämisches Grinsen ließ darauf schließen, dass er nicht freiwillig getratscht hatte.

»Julien? Was hat er damit zu tun?«, murmelte Amalia.

»Nachdem unsere liebe Kyuu dich anscheinend so erschreckt hat, dass du ohnmächtig auf den Boden geklatscht bist, war er so nett, dich ins Bett zu tragen.« Freya kicherte.

Um schnell aus dieser peinlichen Situation zu entkommen, sprang Amalia auf. »Ich geh jetzt duschen«, rief sie und entschwand in das kleine Badezimmer.

Amalia schlug die Tür hinter sich zu und Freya musste schmunzeln; die Neue weckte immer mehr ihre Neugierde. Allein die Geschehnisse vom letzten Tag waren Grund genug, genauer hinter ihre Fassade zu sehen. Vom Interesse des Akademieleiters an ihr mal abgesehen. Zwar war es nichts Besonderes, dass junge Menschen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten an die Akademie geholt wurden – dafür war sie schließlich da –, aber diese Dringlichkeit, jemanden herzuholen, hatte es so noch nie gegeben. Freya war erpicht darauf, mehr darüber zu erfahren. Tief in ihren Gedanken versunken, lief sie wie ein Tiger im Käfig auf und ab und ließ die Ereignisse der vorherigen Nacht Revue passieren:

Wie so oft in letzter Zeit war sie auch in dieser Nacht von Albträumen geplagt aufgewacht. Während sie noch halb schlafend aus dem Fenster blickte, schreckten sie seltsame Laute, zuerst ein Rumpeln und dann ein Poltern, auf. So etwas kam immer mal wieder vor, dennoch packte sie die Neugierde und sie wollte den Geräuschen auf den Grund gehen. Als Freya auf den Flur trat, vernahm sie schwerfällige Schritte und Stöhnen von den Treppen her. Vorsichtig beugte sie sich über das Geländer. Dort erkannte sie Julien, wie er mit jemandem auf den Armen mühselig die Stufen hochstieg. Erst als er näherkam, entdeckte sie, dass es Amalia war. Bevor Julien Freya sehen konnte, versteckte sie sich in einer Nische auf dem Gang. Gespannt und besorgt zugleich beobachtete sie, wie er Amalia in ihr Zimmer trug. Kaum hatte er den Raum verlassen, sprang Freya ihm in den Weg und trällerte:

»Julien, was ist passiert?«

»Wo zum Teufel kommst du her?«, fragte er erstaunt und erzählte ihr danach, dass Kyuu ihn geholt hatte, als Amalia das Bewusstsein in der Bibliothek verloren hatte, und gentlemanlike, wie er eben war, hatte er sie den ganzen Weg bis in ihr Zimmer getragen.

Gedankenverloren bemerkte Freya nicht, wie Amalia aus dem Bad kam.

»Die Dusche war richtig erfrischend«, strahlte Amalia. Sie trug wieder Freyas Kleidung, nur diesmal Leggins, ein dunkles Top und das blaue Karohemd. »Würdest du mir die Haare richten? Ich finde deine Frisur so schön.«

»Klar! Komm, setz dich auf den Stuhl, damit ich dir was zaubern kann. Hast du eine Bürste?«

Amalia schüttelte verneinend den Kopf und nahm Platz.

»Kein Problem, das habe ich mir schon fast gedacht.« Freya zog eine kleine Haarbürste aus ihrer Jackentasche. Behutsam bürstete die Brünette Amalias haselnussbraune Haare und schielte dabei auf die rosafarbenen Narben auf Amalias Handgelenken.

»Warum sprichst du mich nicht darauf an? Du weißt doch sicher, weshalb ich in der Psychiatrie war.« Amalia hatte Freyas Blick in der Reflexion der Fensterscheibe gesehen.

»Natürlich weiß ich, was passiert ist, aber Vergangenheit ist Vergangenheit und jeder macht mal Fehler«, antwortete das hübsche Mädchen, ohne weiter darauf einzugehen.

»Wieso denkst du, dass es ein Fehler war?«

»Jeder Mensch hat sein Päckchen zu tragen. Manche haben schwerere, andere eben leichtere. Aber in meinen Augen verletzt man mit einem Selbstmord nicht nur sich, sondern auch alle um einen her…«

»Tzzz …«, unterbrach Amalia sie. »Ich habe niemanden mehr, der um mich trauern würde. Meine Eltern starben, als ich noch klein war. Mein älterer Bruder war schwer krank und verstarb ein Jahr vor ihrem Tod. So hatten es mir zumindest der Kinderpsychologe und meine Pflegeeltern gesagt. Ich kann mich an diese Zeit nicht mehr erinnern … Und fangen wir erst gar nicht von meiner Pflegefamilie an, die hatten es nur auf das Geld abgesehen.« Sie seufzte schwer und fuhr fort: »Ich wusste, dass es noch etwas anderes gibt, deshalb hatte ich keine Angst zu sterben, und vielleicht hätte ich sogar meine Familie wiedergesehen.« Bei dem letzten Satz zitterte Amalias Stimme.

»Ja, du bist eine der Wenigen, die über den Tod hinaussehen können, aber weißt du auch, was dich auf der anderen Seite erwartet hätte? Was wäre, wenn du vom Regen in die Traufe gekommen wärst? Hast du dir darüber mal Gedanken gemacht? Dein Leben ist ein Geschenk, nimm es dir nicht selber weg. Und vergiss nicht, Amalia, dein Platz ist jetzt hier. Gib nicht wieder so schnell auf.« Freya ließ Amalias Haare los und streichelte über ihre Schultern. Sie spürte ein leichtes Zittern. »So, genug geplaudert. Ich mach deinen französischen Zopf fertig und dann müssen wir los. Fürs Frühstück wird es leider nicht mehr reichen. Aber um zwölf Uhr gehen wir zum Mittagessen«, sagte Freya mit sanfter Stimme und ehe Amalia sich versah, wurde sie schon wieder am Arm gepackt und aus dem Zimmer gezogen.

Amalia war in Gedanken immer noch bei ihrem Gespräch mit Freya und neue Rätsel taten sich vor ihr auf. Sie hatte jetzt ihren Platz hier. Doch war dem wirklich so? Sie kannte die Menschen an der Akademie nicht und wusste ebenso wenig, was der eigentliche Zweck dieser Einrichtung war. Fragen über Fragen breiteten sich in ihrem Kopf aus.

»Hallo? Erde an Amalia. Wir sind da!«, rief Freya und unterbrach ihre Grübelei.

»Ähm … Welches Fach habe ich jetzt?«, fragte Amalia. »Ich habe weder Bücher noch was zum Schreiben.«

»Du hast jetzt Geschichte und Mythologie und im Anschluss Englisch und Latein. Danach hole ich dich wieder ab. Alles, was du brauchst, liegt auf deinem Pult im Klassenzimmer. Viel Spaß. Ich muss weiter«, antwortete Freya, drehte sich um und verschwand um die Ecke.

Nervös öffnete Amalia die Tür zum Klassenraum.

»Ah, Sie müssen Miss Ried sein. Ich bin Mister Black. Ich unterrichte Geschichte, Seelenkunde, Latein und Englisch. Bitte nehmen Sie in der zweiten Reihe am dritten Pult Platz.« Der Lehrer deutete mit der Hand auf den Platz, Amalia nickte und ging zügig zum freien Tisch. Das Klassenzimmer war voll mit unbekannten Gesichtern, die sie alle heimlich beäugten. Sie begutachtete die Lektüre und den Block, die vor ihr auf dem Tisch lagen.

»Klasse, schlagt eure Bücher auf Seite 138 auf. Wir behandeln heute die Hexenprozesse von Salem«, sagte Mister Black und strich seine pechschwarzen Haare zurück.

Vor Amalia lagen drei dicke Wälzer und sie wusste nicht, welchen davon sie jetzt brauchte.

»Es ist das rot eingebundene Buch«, flüsterte das Mädchen mit den aschblonden Haaren und hellgrünen Augen links neben ihr. Bevor sie die Lektüre aufschlug, musterte sie den jungen Lehrer, der erneut seine Brille zurechtrückte und mit feuriger Begeisterung über besagte Prozesse referierte.

Die Zeit verging wie im Flug. Amalia bemerkte erst, dass es schon zwölf war, als die Pausenglocke läutete. Sie wusste ja bereits, wie ungeduldig Freya war, deshalb raffte sie hastig alle Sachen zusammen und rannte voll beladen hinaus. Wie befürchtet, stand die Brünette mit verschränkten Armen und einer schwarzen Umhängetasche vor der Tür.

»Ich habe mir schon gedacht, dass du eine Tasche brauchen wirst«, sagte sie und warf den Stoffbeutel auf den Bücherstapel.

»Danke!« Amalia legte alles auf dem Boden ab und packte es in die Tasche.

»Wie war der Unterricht?«, fragte Freya und griff dabei wie üblich nach Amalias Arm.

»Wir haben in Geschichte die Hexenprozesse von Salem behandelt, in Englisch Phonetik und Phonologie, in Latein verstehe ich leider gar nichts … Ich habe keine Vorkenntnisse«, antwortete sie und bemühte sich, Freyas schnellen Schritt zu halten. Auf eine gewisse Art hatte sie etwas mit dem weißen Kaninchen aus Alice im Wunderland gemeinsam, das ebenfalls immer in Eile war. Bei diesem Gedanken musste sich Amalia beherrschen, um nicht laut loszulachen.

»Das freut mich.« Freya drehte den Kopf nach hinten, lächelte und stieß die Kantinentür auf. Augenblicklich nahm Amalia die verschiedensten Gerüche wahr: frisch angebratenes Fleisch, Thymian, Tomatensoße und den süßen Duft von geschmolzener Schokolade.

»Oh, da hat jemand Hunger!« Freya hatte bemerkt, wie Amalias Magen knurrte.

Peinlich berührt rieb Amalia ihren Bauch. Auf ein Neues ergriff Freya ihren Arm und lief mit ihr schnellen Schrittes auf die Essensausgabe zu. Nachdem die beiden Mädchen ihre Auswahl getroffen hatten, marschierten sie zu einer etwas abseits liegenden Tischreihe. Sofort erspähte Amalia den blonden Schönling Julien und wurde rot wie die Tomatensoße auf ihren Nudeln. Am selben Tisch saß ein weiterer Junge; er hatte dunkle mandelförmige Augen und dunkelbraunes Haar. Er trug ein rot-weiß kariertes Hemd und lederne Armmanschetten. Eine Tischreihe weiter saßen vier Mädchen, die förmlich nach Ärger rochen. Eine von ihnen warf ihre platinblonden Haare zurück und blinzelte Julien dabei mit ihren strahlend blauen Augen verliebt an. Freya stellte ihr Tablett auf dem Tisch ab und schlang ihre Arme um den braunhaarigen Typ.

»Amalia, das ist mein Franzel. Und Julien kennst du bereits. Ich meine, nach eurem intimen Moment sogar noch besser.« Sie stützte sich mit ihrem Arm auf Juliens Schulter ab und warf einen Blick nach hinten, als wollte sie kontrollieren, ob das platinblonde Mädchen ihre Worte ebenfalls vernommen hatte.

Hatte sie, denn ihre Miene verfinsterte sich. Wenn Blicke töten könnten, wäre Amalia auf der Stelle tot umgefallen. Hastig setzte sie sich Julien gegenüber und versuchte, das hellhaarige Übel zu ignorieren, indem sie konzentriert auf ihre Nudeln starrte.

»Freya, du Hexe, kannst du mich nicht einmal normal vorstellen? Hey, Amalia, mein Name ist nicht Franzel, sondern Yato«, korrigierte der Junge und lächelte sie an.

»Nenn mich nicht immer Hexe!« Freya gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf.

»Du bist aber meine kleine Hexe«, witzelte er.

Amalia hörte bei ihm einen leichten Akzent, konnte diesen aber nicht zuordnen.

»Eigentlich ist sein Name Franz-Yato«, schmunzelte Freya, während sie sich neben Amalia niederließ. Amalia lachte. Jetzt war sie sich sicher, dass sein Akzent deutsch war.

»Hey! Na, geht es dir besser?«, fragte Julien und sah ihr grinsend in die Augen.

»Danke, ja! Ihr müsst wissen, dass ich manchmal schlafwandle, deshalb weiß ich auch nicht, was genau passiert ist«, antwortete Amalia etwas verlegen. Gelogen hatte sie nicht, nur eben nicht die ganze Wahrheit erzählt. Doch Freyas misstrauischer Blick entging ihr nicht.

»Julien, ich will gleich nach Levi schauen, ihm ging es heute Morgen nicht so gut. Wahrscheinlich hat er ’ne verrottete Maus gefressen. Kannst du Amalia in den nächsten Unterricht bringen?«, fragte sie ihn und schlang weiter ihr Essen hinunter.

»Selbstverständlich. Du weißt, wenn du mich um etwas bittest, kann ich nicht nein sagen.« Julien lächelte.

»Haha, du meinst wohl eher, du traust dich nicht, nein zu sagen. AUA!! Freya, hast du mich getreten?«, schrie Yato.

»Welches Fach hat sie nach der Pause?«, fragte Julien, ohne auf das Geplänkel der beiden einzugehen.

»Waffenkunde bei Misses Walker. Bis nachher.« Freya stand auf und winkte ihnen zum Abschied.

»Wer ist Levi?«, wollte Amalia wissen.

»Die Akademiekatze. Der kleine schwarze, flauschige Fellball ist so was wie unser Maskottchen. Freya kümmert sich um ihn«, erklärte Yato, während er sich die Haare hinters Ohr strich. »Woher kommst du eigentlich?«, fragte er und begutachtete Amalia.

Sie fühlte sich etwas unwohl. Die gesamte Situation, hier allein mit zwei fremden Jungs zu essen, behagte ihr nicht.

»Ähm … a… aus London«, stotterte sie und Yato grinste.

»War das jetzt eine Frage oder eine Antwort?«

»A… Antwort. Und du?« Sie fühlte, wie ihre Wangen erröteten.

»Aus Augsburg, einer Stadt in Deutschland.« Yato amüsierte sich und klopfte Julien auf die Schulter: »Und er hier ist Ureinwohner, er kommt aus Lancaster.«

Julien strich sich durch die Haare und verdrehte die Augen. Als sich Amalias Blick mit seinem traf, schaute sie schnell wieder auf ihren fast leeren Teller. Er sollte nicht sehen, dass sie ihn musterte.

»Bist du fertig, Amalia? Wir müssen gleich los«, sagte Julien und stand gemächlich auf. Sie nickte zustimmend. Alle drei begaben sich zur großen Eingangshalle.

»Wir müssen in den dritten Stock. Was machst du jetzt, Yato?«, fragte Julien, während sie alle vor der Treppe standen. Der Halbasiate erinnerte sie an eine gleichnamige Mangafigur.

»Nahkampftraining mit Chris. Amalia, hat mich gefreut. Wir sehen uns später«, merkte Yato mit einem Augenzwinkern an. Julien nickte.

»Hat mich auch gefreut, bis dann«, sagte Amalia zu dem charmanten jungen Mann. Stillschweigend folgte sie Julien die Treppen nach oben. Kurz vor dem Klassenzimmer blieb er abrupt stehen und drehte sich zu ihr um.

»Ist wirklich alles in Ordnung?«

Amalia bemerkte seinen besorgten Gesichtsausdruck.

»Ja …« Sie schielte zu Boden. »Es ist einfach nur sehr viel für mich. Aber jeder hat doch mit seinen inneren Dämonen zu kämpfen, oder?« Amalia schaute Julien an und zwang sich zu einem Lächeln; als seine Hand ihren Haaransatz berührte, zuckte sie zusammen. Sie spürte ein Kribbeln auf ihrer Haut, das sich bis in ihren Magen ausweitete. Sein sanftes Auf- und Abstreichen über ihre Haare bereitete ihr sowohl Wohlbefinden als auch Unbehagen und sie wunderte sich über eine solche Geste von einem Jungen, den sie kaum kannte. Doch gleichzeitig verstand sie ihre eigene Reaktion nicht, denn bei jedem anderen wäre sie schon längst zurückgewichen – aber bei ihm nicht.

Hastig zog Julien seine Hand zurück, als hätte er ihre Unsicherheit gespürt, und wies mit ihr auf die Tür vor ihnen.

»Du musst zum Unterricht. Wir sehen uns.« Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand die Treppe hinunter.

Amalia brachte keinen Ton über die Lippen. Schweigend sah sie ihm hinterher und lauschte noch seinen Schritten, als er längst aus ihrem Sichtfeld verschwunden war. Nervös umfasste sie die Türklinke und trat in das Zimmer. Eine kleine, zierliche Frau, deren Haar so schwarz wie das Federkleid eines Raben war, und deren Haut dunkler Schokolade glich, winkte Amalia zu sich.

»Du musst Amalia Ried sein. Ich bin Misses Walker und unterrichte Waffenkunde. Professor Adams hat mir schon gesagt, dass du dir gerne die Fächer vorab anschauen möchtest. Also bitte setz dich.« Die Lehrerin deutete auf den freien Sitzplatz in der ersten Reihe am Fenster. Amalia nahm Platz und folgte gebannt dem Unterricht, auch wenn ihr der Sinn dieses Faches nicht wirklich einleuchtete. Misses Walker erklärte den Unterschied zwischen verschiedenen Schwerttypen und welche Technik sich für welche Waffe am besten eignete. Amalias imaginäre Fragezeichen über ihrem Kopf vermehrten sich unaufhörlich. Vielleicht hätte sie mit dem Unterricht doch noch warten sollen?


Fluch der verlorenen Seelen

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