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4. Rote Augen

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Seine blutroten Augen ertrinken in einem Ozean ungeweinter Tränen.

Die Seele verbannt und zerrissen, gepeinigt von unzähligen

geträumten Träumen.

Seine Pfoten rastlos und müde

von der Suche nach ungeahnten Weiten.

Das Herz, erdrückt und zersprungen

unter der Last ungeliebter Liebe.

So tritt er allein der Hölle entgegen.

Der nächste Morgen war grauenhaft. Amalias Kopf dröhnte und hämmerte, als würde darin ein Presslufthammer seinen Spaß haben. Ihre Lider waren schwer, die Muskeln träge. Benommen und desorientiert suchte sie den Wecker, der nicht aufhörte zu piepsen. Panisch stellte sie fest, dass es bald Zeit für das Training mit Freya war. Erschöpft rieb sie sich den Schlaf aus den Augen.

Plötzlich sah sie Freya neben sich im Bett liegen. Amalia war sich nicht sicher, ob sie noch lebte. Der Kopf ihrer neugewonnenen Freundin war so tief im Kissen vergraben, dass sie hätte ersticken müssen. Vorsichtig pikste Amalia sie mit ihrem Fingernagel, doch sie rührte sich nicht. Nicht einmal ein Zucken. Amalia wurde nervös.

»Freya! Wieso bist du hier? Ist alles okay?« Sie versuchte, ihre Freundin wachzurütteln.

»Schhh … Kopfweh«, antwortete Freya und hielt sich die Hand vor die Augen, um sie vor dem grellen Tageslicht zu schützen. Blinzelnd sah sie sich um. »Warum wach ich eigentlich immer in anderen Betten auf, wenn ich was getrunken habe?«, flüsterte Freya und setzte sich mit verzerrtem Gesicht auf die Bettkante.

Amalia runzelte die Stirn, wusste aber nicht, was sie darauf antworten sollte, zumal sie sich nicht mehr daran erinnern konnte.

»Ich schleiche jetzt in mein Zimmer, dusche kurz und hole dich dann fürs Training.« Freya stand wie in Zeitlupe auf.

Amalia schaute sie bestürzt an, ihr war schlecht und ihre Muskeln führten ein Eigenleben. »Können wir das heute nicht ausnahmsweise ausfallen lassen?«, fragte sie flehend und faltete die Hände wie zum Gebet. Dabei bemerkte sie, wie der Sekt versuchte, wieder hochzukommen.

»Nein«, antwortete Freya knapp, während sie das Zimmer hinkend, wie ein Pirat mit einem Holzbein, verließ.

Amalia raffte sich schwerfällig auf, jede Bewegung kostete sie unglaublich viel Überwindung. Ganz langsam zog sie die Klamotten vom vorigen Tag aus und schlurfte halb tot in die Dusche. Schnell, so kam es ihr zumindest vor, wusch sie sich die Haare und entfernte das restliche Make-up aus dem Gesicht. Sie sah einem Panda zum Verwechseln ähnlich und schrubbte wild, doch die wasserfeste Wimperntusche stellte sich als hartnäckiger Gegner heraus.

Nach dem glorreichen Kampf in der Dusche wankte sie erschöpft zum Kleiderschrank und fischte das erstbeste Oberteil heraus, das sie finden konnte. Ein grünes T-Shirt mit einem Faultier. Wie passend, dachte sie sich und zog ihre schwarzen Leggins an.

Lustlos öffnete sie die Tür, um zu Freya zu gehen, doch die war schneller und passte sie ab. Amalia brauchte einen Moment, um die Situation zu begreifen.

»Warum warst du so schnell und was macht Levi auf deiner Schulter?«, fragte sie überrascht. Der Kater schnurrte und schmiegte sich an Freyas Hals.

»Du warst zu langsam und der benötigt mal wieder Training. Ist ganz schön fett geworden vom vielen Rumlümmeln und außerdem habe ich doch gesagt, dass ich dich abhole.« Freya rieb Levis Kopf und bat Amalia ihr zu folgen.

Glücklicherweise ließ es Freya lockerer angehen als sonst. So joggten die beiden lediglich eine halbe Stunde um das Kloster. Doch selbst das war Amalia zu viel. Immer wieder würgte sie und der Geschmack vom süßlichen Sekt, gemischt mit Pfefferminzzahnpasta, machte ihr zu schaffen. Ihr war kotzübel und so sah sie auch aus. Das war ebenfalls für die anderen Schüler, denen sie auf dem Weg begegneten, zu erkennen. Auch Collin und Mister Black, die sich ausgerechnet jetzt Frühstück aus der Kantine holten, bemerkten Amalias zombieartigen Zustand. Keiner der beiden konnte sich ein amüsiertes Grinsen verkneifen.

Erst um die Mittagszeit normalisierte sich ihr Magen halbwegs. Angespannt schwankte Amalia in den Speisesaal, um die anderen zum Essen zu treffen, obwohl ihr danach überhaupt nicht zu Mute war. Sie straffte die Schultern und betete, dass die Jungs sich gehässige Kommentare sparten. Zu sehr schämte sie sich für ihr höchstwahrscheinlich peinliches Verhalten. Doch zu ihrer großen Verwunderung verloren die beiden kein Wort über den gestrigen Abend und benahmen sich, als wäre nichts gewesen. Yato blickte nur ab und an ängstlich zu Freya und rieb seinen Hals. Was Amalia allerdings beunruhigte, war Juliens Bitte um ein Treffen in der Eingangshalle nach der letzten Unterrichtsstunde. Er verkündete, dass sie von dort aus zur Waffenkammer gehen würden. Amalia hatte diese bis dahin noch nicht gesehen und sie ahnte Schreckliches.

Der Gedanke an ein weiteres Waffentraining mit den dreien machte sie so nervös, dass sie dem restlichen Unterricht nicht mehr folgen konnte. Vielleicht lag es zusätzlich am Gefühl, sich ständig übergeben zu müssen – vor allem nach dem Hackbraten, der ihre plötzliche Heißhungerattacke befriedigen hätte sollen. Im Nachhinein wahrscheinlich nicht ihre beste Idee. So saß sie völlig unkonzentriert im Klassenraum, schaute sich andauernd fast schon paranoid um und wurde zu allem Überfluss von einem nicht enden wollenden Schluckauf geplagt. Als endlich die erlösende Klingel ertönte, sprang sie auf und stieß dabei ein Gemisch aus Hackbraten und Sekt auf. Apathisch und sich den Bauch haltend schlurfte sie die Treppen hinunter. Sie erspähte die anderen in der Eingangshalle und hoffte, dass ihr niemand ansah, wie schlecht es ihr ging.

»Amalia ist alles in Ordnung? Du siehst so grün aus im Gesicht«, fragte Yato und ihre Hoffnung zerplatzte wie eine Kaugummiblase. Sie nickte nur teilnahmslos und wünschte sich eine dunkle Ecke, in die sie kriechen konnte. Amalia schielte zu Freya, die mittlerweile wieder wie das blühende Leben aussah. Was zur Hölle …? Das konnte doch nicht wahr sein! Sie sah aus wie ausgekotzt und Freya stand vor ihr wie eine Rose in voller Blüte. Amalia verdrängte ihr Selbstmitleid und wackelte den anderen hinterher. Nur keine hektischen Bewegungen, so lautete ihr Motto. Kalter Schweiß rann ihren Rücken hinab, als sie in Zeitlupe an der Bibliothek vorbeitrottete und kurz danach bei den anderen vor einer grünen Holztür stehen blieb. Amalia runzelte die Stirn. Irgendwie war ihr diese Tür bis dahin nicht aufgefallen, obwohl das dunkle Grün doch sehr ins Auge fiel. Julien kramte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und schloss auf.

Amalia glaubte, in einer Folterkammer gelandet zu sein. Prüfend ließ sie den Blick durch den Raum schweifen. An den Backsteinwänden hingen Streitäxte, Morgensterne, Eisenketten und Schilde. Mehrere große mit Schlössern versehene Holztruhen standen auf dem Boden. Direkt vor ihr ragten zwei schwarze, ebenfalls mit Schlössern gesicherte Schränke, doppelt so hoch wie sie selbst, auf. Der Raum hatte keine Fenster, lediglich eine weitere Tür, und seine Atmosphäre wirkte durch den goldenen Lichtschein der filigranen Wandlampen noch unheimlicher. Amalia schluckte merklich; sie hätte es nicht für möglich gehalten, dass der Raum ihr Unwohlsein noch steigern konnte. Eigentlich dachte sie, dass es nichts Schlimmeres als das Gemisch aus Sekt und Hackbraten gäbe, doch auch Frau lernt nie aus.

Die schlechten Lichtverhältnisse strengten Amalias Augen an und allmählich begannen sie zu tränen. Nur mühsam konnte sie verfolgen, wie Julien zu den großen Schränken lief und diese aufschloss.

»Nehmt eure Waffen, wir gehen ins Besprechungszimmer«, bestimmte er.

Ohne Widerrede traten Freya und Yato an die Schränke heran. Yato holte ein Gewehr heraus, Freya eine speerähnliche lange Waffe und Julien nahm sein Schwert, das Amalia noch von ihrer ersten Begegnung in der Psychiatrie kannte.

»Es wird Zeit, dass Amalia alles über die Akademie, den Orden und deren Zweck erfährt«, entschied Julien und ging zu der blauen Tür, um sie aufzuschließen, den Schlüssel ließ er stecken.

»Das ist zu früh. Warum soll sie das alles jetzt schon erfahren?«, wandte Freya ein.

Amalia hingegen sah dies ganz anders, sie wollte durchaus alles wissen.

»Wir haben einen neuen Auftrag und Collin möchte, dass wir Amalia mitnehmen«, antwortete Julien kühl.

Amalia fiel die Kinnlade hinunter. Auftrag? Was? Panisch suchte sie Blickkontakt mit Julien, aber der hatte sich bereits umgewandt und trat in den Raum. Freya wollte etwas sagen, doch Yato reagierte schneller, legte ihr die Hand auf die Schulter und verneinte kopfschüttelnd. Freya wusste es: Wenn Collin etwas befahl, war das Gesetz. Stillschweigend folgten sie Julien, jedoch brodelte es in jedem Einzelnen.

Amalia erkannte die Uneinigkeit in dieser Angelegenheit in ihren Gesichtern. Sie wollte nicht der Grund für Streitigkeiten zwischen ihnen sein; das war sie oft genug in ihrer Pflegefamilie gewesen.

Die drei legten ihre Waffen auf einen lang gestreckten, ovalen, hellbraunen Tisch in der Mitte des Raumes, um den sechs Holzstühle herumstanden. Ansonsten befand sich hier nichts weiter als eine Kreidetafel.

»Setzen wir uns«, sagte Julien, nahm als erster Platz und die anderen taten es ihm gleich.

Amalia konnte ihren Blick nicht von den Waffen abwenden. Natürlich hatte sie schon welche in Filmen oder Büchern gesehen, aber diese waren anders. Bei Juliens geschwungenem Schwert stach nicht nur die zweifarbige Klinge sofort ins Auge, sondern auch die zwei silbernen Bärentatzen, die das Ricasso umschlossen. Die Parierstange bildete einen nahtlosen Übergang zwischen den Tatzen und dem darüberliegenden Griff mit einem Geflecht aus schwarzem Leder, das ihn umgab. Fasziniert bewunderte sie den runden Knauf, der das Ende formte. In ihm schien sich ein eisblauer Nebel langsam zu bewegen.

Amalias Augen wanderten zu den anderen Waffen, die ebenfalls solch eigenartige Kugeln hatten.

»Das ist meine. Sie nennt sich Glefe.« Freya deutete mit dem Zeigefinger auf die lanzenähnliche Waffe. »Kyuu fertigt sie individuell für uns an«, erklärte sie lächelnd. Vermutlich war Freya aufgefallen, wie Amalia die Glefe fixiert hatte. Amalia hatte noch nie solch eine seltsame, altertümlich wirkende Waffe gesehen. Vor allem deren Länge entlockte ihr ein erstauntes Murmeln. Sie überragte sogar Julien, der mit seinen etwa einsfünfundachtzig der Größte in ihrer Gruppe war. Dennoch wirkte sie filigran mit der gebogenen, schwarzen Klinge, deren silberner Umrandung und dem dünnen Stab aus dunklem Ebenholz. Um den Übergang zwischen Stab und Schneide, wo auch eine glasähnliche Kugel fixiert war, hatte Freya ein nachtblaues Tuch gebunden.

»Sie besitzt noch ein kleines Extra.« Freya nahm die Waffe und drückte mit dem Daumen auf einen unscheinbaren Knopf. Plötzlich fuhr auf der Unterseite eine kurze, zweischneidige Klinge heraus. Amalias Augen weiteten sich überrascht.

Yatos Gewehr und der Revolver, den er soeben aus seinem Gürtelholster zog und dazulegte, hatten ein rotbraunes Griffstück, einen goldenen Abzug und goldene Zierelemente auf den dunklen Läufen. Bei beiden Schusswaffen befand sich die Kugel im Griff.

»Amalia«, begann Julien zu erläutern, »wie du bereits weißt, gibt es Menschen wie dich und mich, die in der Lage sind, Geisterwesen wahrzunehmen. Bei den Nightingales und den Jackdaws gab es immer wieder Einzelne, bei denen diese Fähigkeit besonders ausgeprägt war. In ein paar Überlieferungen wird davon gesprochen, dass es Nightingales gab, die ohne ihre Augen sehen konnten. Was dies genau bedeutet, kann ich dir auch nicht sagen. Bei den Jackdaws hingegen besitzen manche die Gabe, die Fähigkeiten der anderen zu erkennen, so wie Collin.« Amalia forderte ihn durch ein Nicken auf, weiter zu erzählen. »Die Nightingale-Familie wollte einen Ort schaffen, an dem ihre Kinder und Kindeskinder sowie alle anderen mit ebensolchen oder ähnlichen Gaben ein sicheres Zuhause fanden und dabei lernten, mit ihren Fähigkeiten umzugehen. So gründeten sie im fünfzehnten Jahrhundert diese Akademie. Sie übernahmen das heruntergewirtschaftete und fast völlig zerstörte Kloster, bauten es neu auf und schützten die Mauern mit einem Siegel, das mit Fuchsfeuer eingebrannt wurde, vor den Groohls.« Mit einem kurzen Blick zu Amalia überprüfte Julien, ob sie ihm noch folgen konnte. »Als immer mehr Groohls auftauchten, deren Kräfte sich beunruhigend schnell entwickelten, wurde ein interner Orden namens Doom Slayer gegründet. Dort fanden sich die mit den stärksten Fähigkeiten zusammen und waren dadurch in der Lage, sich den Geisterwesen zu stellen. Gemeinsam jagten und vernichteten sie die verdammten Seelen und jene, von denen sie Besitz ergriffen hatten.«

Amalia lief ein unangenehmer Schauer den Rücken hinab. Welche Eigenschaften hatten diese Kreaturen noch und war jede von ihnen anders? Fragen über Fragen stapelten sich in ihrem Kopf.

»Da die Groohls und verfluchte Seelen nie völlig ausgelöscht werden können, wird der Orden mit seinen Aufgaben und Traditionen bis heute aufrechterhalten. Wir drei bilden eines der fünf Teams der Doom Slayers. Der Kodex des Ordens ist es, die Menschen vor den verdammten und verfluchten Seelen zu schützen und das Gleichgewicht der beiden Welten zu bewahren.« Julien schielte stolz zu Yato und Freya, die gelangweilt Löcher in die Luft starrten. Sie kannten diese Geschichte auswendig.

»Hat das einen besonderen Grund, dass ich das jetzt alles von dir erfahre? Ich lerne ja schon im Unterricht einiges über die Seelen«, fragte Amalia.

»Collin möchte, dass du Teil unseres Teams wirst und dem Orden beitrittst«, antwortete Julien.

»Warte, das ist zum jetzigen Zeitpunkt zu früh für sie. Bei Amalia fehlt es noch an den Grundlagen in Kampf- und Waffentechniken«, gab Freya zu bedenken.

»Ja, sie hat recht. Und … äh … muss ich dafür nicht eine Art Aufnahmeprüfung oder ein gruseliges Ritual machen?« Amalia klang verunsichert.

»Aber natürlich«, warf Yato ein, »heute um Mitternacht entführen wir dich. Unsere Gesichter sind verhüllt mit Schweinsmasken. Wir schleifen dich in die Kirche des Klosters und Opfern auf dem Altar eine Ziege. Anschließend reißen wir dir die Kleider vom Leib und du musst in ihrem Blut baden.« Der Cowboy blickte sie mit ernster Miene an und Amalia starrte verängstigt zurück.

»Franz!«, schrie Freya und schlug Yato die flache Hand auf den Hinterkopf, sodass ihm der Hut ins Gesicht fiel.

»Nein, Quatsch! Erst wenn du eine Mission mit uns erfolgreich abgeschlossen hast, wir Collin davon berichtet haben und er es genehmigt, ist ein solcher Beitritt möglich.« Julien stützte sich mit beiden Händen auf dem Tisch ab und lehnte sich zu Amalia vor.

»Trotzdem geht das zu schnell, Julien. Ich hatte ein halbes Jahr Training und Unterricht, bevor bei mir vom Orden überhaupt die Rede war«, meinte Freya.

»Ja, bei mir war es, glaube ich, sogar noch etwas länger und das, obwohl ich bereits Erfahrung im Umgang mit Schusswaffen hatte«, stimmte Yato Freya zu.

»Ich weiß und es ist auch nicht üblich, dass es so schnell geht, aber Collin und Professor Adams überprüfen jeden potenziellen Schüler, den wir an der Akademie aufnehmen vorab, oder, wenn sie durch Hörensagen von selbst kommen, eben danach. Und anhand ihrer Fähigkeiten wird geschaut, ob sie sich als Doom Slayer eignen oder nur Schüler bleiben, die in einem sicheren Umfeld unterrichtet werden. Collin meint, dass Amalias Kräfte für den Orden von Nutzen sind«, erläuterte Julien.

»Moment! Collin weiß doch überhaupt nichts über meine Kräfte. Er war noch bei keinem Training dabei.« Amalia schüttelte den Kopf.

»Es hat gereicht, dass er dir im Büro die Hand geschüttelt hat. Er spürt deine Kräfte«, antwortete Julien prompt.

»Okay. Aber warum führen die Jackdaws die Akademie, wenn sie von den Nightingales gegründet wurde? Ich verstehe das nicht.« Amalia rutschte auf ihrem Stuhl nervös hin und her. Die Situation überforderte sie; zu viele Informationen brachen in der letzten Zeit wie ein Tsunami über sie herein. Freya berührte ihren Arm und sah ihr tief in die Augen. Aus irgendeinem Grund beruhigte das Amalia.

»Die Familien haben schon immer zusammengearbeitet und die Akademie auch gemeinsam geführt. Von Beginn an durften nur volljährige Mitglieder der Familien die Einrichtung leiten und damit war sichergestellt, dass die Akademie nie in falsche Hände geriet und der Name niemals für Schandtaten missbraucht werden konnte. Als jedoch die letzten Nachfahren der Nightingale-Blutlinie ums Leben kamen, übernahm mein Cousin Collin die Leitung. Jetzt bereitet er auch mich darauf vor, irgendwann die Führung zu übernehmen. Das Wissen und die Werte der Akademie werden von Generation zu Generation weitergegeben«, erklärte Julien ruhig.

»Ah, das meinte dein Cousin mit ›dich anzulernen‹. Aber was mir nicht in den Kopf will: Wie zum Teufel seid ihr in der Lage, Geister mit normalen Waffen zu vernichten? Das geht nicht! Also, nein. Ich … ich … meine, nicht jeder sieht diese Kreaturen und dann mit normalen Waffen töten? Nein …«, sprudelte es aus Amalia heraus.

»Unsere Waffen sind nicht normal und Geister sind an sich immateriell. Auch wenn uralte Groohls die Fähigkeit, von Menschen Besitz zu ergreifen, erwarben, so bleiben sie doch Geisterwesen. Mit normalen Waffen könnten wir ihnen tatsächlich nichts anhaben«, sagte Julien.

»Kannst du dich noch an den Groohl aus der Psychiatrie erinnern, der in den blauen Flammen verendete?«, wollte Freya wissen. Amalia nickte kaum merkbar. »Dadurch vernichten wir sie. Es nennt sich Fuchsfeuer. Kyuu schmiedet unsere Waffen aus einem speziellen Material namens Zerelantisches Eisen in diesen blauen Flammen. Nur dieses seltene Metall kann bei verfluchten Geisterwesen bleibende Schäden anrichten und – siehst du die durchsichtigen Kugeln mit dem blauen Schimmer darin?« Freya tippte auf das runde Glas mit dem eisblauen Nebel in ihrer Glefe. Erneut nickte Amalia zustimmend. »Das sind Seelen von Tieren, denn nur ein Geist kann einen anderen Geist zerstören. Daher brauchen wir die Tierseelen, um die Kraft des Fuchsfeuers entfachen zu können. Die Kombination Feuer und Eisen ist zwar schädlich für Geisterwesen, also wir können sie damit verletzen, aber ohne die Seelen sind wir nicht in der Lage, die Geister zu vernichten, da wir nur Menschen sind.« Freya atmete tief ein und legte Amalia die Hand auf die Schulter und drückte sie liebevoll. »Ich weiß, das ist jetzt alles viel auf einmal. Mit der Zeit wirst du es verstehen.«

»Aber wozu die Kutten und Kreuze?« Amalia legte die Stirn in Falten.

»Um in der Öffentlichkeit als Exorzisten aufzutreten. Deshalb tragen wir auch alle ein Kreuz.« Yato grinste.

»Das ist nicht der einzige Grund. In früheren Zeiten mussten die Familien beziehungsweise der Orden unter dem Deckmantel der Kirche arbeiten. Das Kloster als Sitz der Einrichtung war deshalb auch keine zufällige Wahl. Später schlossen die Familien ein Bündnis mit der katholischen Kirche und von da an traten die Ordensmitglieder in der Öffentlichkeit als offizielle Exorzisten auf«, erläuterte Julien genauer.

»Also, habe ich das richtig verstanden, die Ordensmitglieder arbeiten für die katholische Kirche und die wissen von den Geisterwesen?«, hakte Amalia verunsichert nach.

»Nicht so ganz. Wir arbeiten nicht für sie, sondern mit ihnen zusammen, aber das regelt alles Professor Adams. Da sind wir nicht eingebunden. Deshalb musst du dir darüber auch keine Gedanken machen«, beruhigte Julien.

Freya verzog unzufrieden die Lippen und Amalia war völlig perplex. Bis vor Kurzem hatte sie noch geglaubt, verrückt zu sein, und jetzt sollte sie einem geheimen Orden angehören, der Geisterwesen bekämpfte? Sie sprang frustriert auf und lief in dem kleinen Raum auf und ab.

»Amalia, mach dir keine Sorgen, das wird schon schiefgehen«, sagte Yato und kicherte.

»Aber hoffentlich nicht so wie beim Schießtraining«, scherzte Freya und zeigte mit einem hämischen Grinsen auf seinen Hut.

Julien musterte die beiden kopfschüttelnd. »Wir haben jetzt leider keine Zeit herumzualbern. Der Auftrag beginnt morgen Nachmittag und wir sollten noch eine Waffe für Amalia finden.«

Augenblicklich kehrte Stille ein und alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf Julien. Ganz klar erkannte Amalia, dass er der Anführer der Truppe war, auch wenn er sich nicht selbst als solcher bezeichnete.

»Überlass das mit der Waffe mir, wir müssen erst noch einen Waffentyp für sie finden«, schlug Freya vor.

Julien schien ihr zu vertrauen; ohne nachzufragen, stimmte er zu.

»Dann lasst uns die Uniformen holen.« Yato steckte den Revolver – nicht, ohne ihn kurz um seinen Finger kreisen zu lassen – in das Holster zurück. Typisch Cowboy. Das Gewehr nahm er behutsam vom Tisch und drückte es Julien in die Hand. Der verstaute alle Waffen wieder im Schrank. Es schien, als müsste Julien über alles den letzten kontrollierenden Blick haben.

Währenddessen wühlte Freya in einer der braunen Kisten, die auf dem Boden standen.

»Bingo, der Umhang müsste dir passen.« Sie streckte Amalia ein zusammengefaltetes schwarzes Stoffstück entgegen. »Ich hol dich morgen um zwölf Uhr ab. Sei fertig!«, mahnte sie.

Amalia traute sich kein Wort mehr zu sagen. Alle Antworten hatten sie nur mehr verwirrt und so nickte sie nur resignierend.

*

Aufgeschreckt vom Wecker sprang Amalia wie von der Tarantel gestochen aus dem Bett. Desorientiert und benommen blickte sie sich um; sie hatte schlecht geschlafen. Die Bilder aus der Bibliothek mit all dem Blut hatten sich wie ein Parasit in ihren Verstand eingenistet und tauchten immer wieder auf. Amalia ging das alles auf die Nerven; sie war keine Heldin und wollte auch keine sein. Ganz im Gegenteil: Sie war der Inbegriff von nicht perfekt, denn Fehler über Fehler stapelten sich ihrer Ansicht nach in ihrer Persönlichkeit. Auch war sie keine Prinzessin, die gerettet werden wollte. Sie war schlicht und ergreifend Amalia, das Mädchen, in dessen Kopf eine eigene Welt existierte.

Seufzend betrachtete sie ihre vernarbten Handgelenke und atmete bedrückt aus. Amalia fühlte sich überfordert – alles was geschehen war und all die Informationen, die auf sie einprasselten – es war zu viel. Stöhnend schüttelte sie den Kopf. Sie musste sich jetzt beeilen. Freya war immer pünktlich wie ein Uhrwerk. Hastig stieg sie unter die Dusche, putzte sich die Zähne und trocknete sich die Haare, die sie anschließend zu einem Pferdeschwanz band.

Amalia hob den zerknüllten schwarzen Umhang auf, den sie am Vorabend achtlos in die Ecke gepfeffert hatte. Er bestand aus einem festen, leicht glänzenden Stoff und hatte das blaue Wappen mit den weißen Initialen ›DS‹.

Zumindest wusste Amalia schon, dass sie Doom Slayer bedeuteten. Ein silbernes Kreuz diente als Verschluss am Kragen. Nachdem sie das Kleidungsstück inspiziert hatte, stand sie mit hängenden Schultern vor ihrem Kleiderschrank. Sie war sich nicht sicher, was sie zu ihrem ersten Auftrag anziehen sollte. Gab es einen Dresscode, der bestimmte, was unter dem Umhang getragen werden musste? Schlagartig wurde ihr klar, dass sie nicht einmal im Bilde war, worum es bei der Mission überhaupt ging. Schwarz, diese Farbe passte doch zu jedem Anlass. Stöhnend zog sie ihre schwarzen Hosen und ein dunkles T-Shirt, bedruckt mit einem weißen Hasen und dem Schriftzug Don’t worry – be happy an. Elegant schwang sie sich den Umhang über die Schultern und warf einen Blick in den Badezimmerspiegel. Das Cape schmiegte sich perfekt an ihre Konturen und obwohl das Material dick war, wirkte es federleicht. Amalia grinste, ihr gefiel der Umhang und wie er ihr stand.

Als es an der Tür klopfte, schlüpfte sie noch rasch in ihre schwarzen Lackstiefel; sie wusste, wer da war.

»Guten Morgen.« Amalia lächelte.

»Guten Morgen«, grüßte ihre Freundin zurück und stürmte ins Zimmer. Vielleicht war das T-Shirt doch nicht die richtige Wahl, huschte Amalia als Erstes durch den Kopf, als sie Freyas Outfit sah. Mit offenem Mund musterte sie die schwarze Stretchhose in Lederoptik, besetzt mit spitzen silbernen Nieten an Knien und Unterschenkeln, und der schwarzen Dolchscheide, vermutlich aus Wildleder, am Oberschenkel.

Freyas Füße steckten in hohen schwarzen Springerstiefeln mit niedrigen Absätzen und als sie den Umhang kokett etwas lüftete, entdeckte Amalia die atemberaubende Steampunk-Korsage mit den raffinierten Details wie dem integrierten Gürtel und der kleinen Tasche um die Hüfte. Ihre Haare lagen wie immer perfekt; diesmal zu einem französischen Zopf geflochten. Amalia war sich nicht sicher, ob dieses Outfit nicht besser für eine Domina geeignet gewesen wäre. In der Tat fehlte nur noch die Peitsche.

»Du magst Steampunk?« Etwas anderes brachte sie in diesem Moment einfach nicht hervor und Freya lachte.

»Ja, das passt zum Umhang, aber vor allem sehe ich darin heiß aus.«

Amalia kicherte. Weil dieses Outfit auch so gut zur Kirche passte; sie könnte doch glatt mit einer Nonne verwechselt werden.

»Hier, der ist für dich«, sagte Freya und streckte Amalia einen großen Dolch entgegen. Der Griff schien der Gleiche zu sein, wie von dem, der in ihrer Dolchscheide steckte.

Der Knauf war rot und ähnelte einer Rose, das Griffstück hatte schwarze und silberfarbene geriffelte Verzierungen. In das Kreuzstück und die Parierstange waren verschiedene kleine Muster sowie ein L und W in den Farben des Griffes eingraviert. »E…er ist wunderschön«, stammelte Amalia, während sie den Dolch an sich nahm, prüfend in den Händen drehte und die feinen Gravuren in Form von zwei Hirschen in der Klinge bewunderte.

»Er ist ein Familienerbstück und gehörte meinem Bruder. Er ist nur geliehen, pass gut auf ihn auf.«

»Das werde ich!«, antwortete Amalia gerührt. Als sie die Hand auf Freyas Schulter legen wollte, packte diese sie am Arm und zog sie aus dem Zimmer.

»Keine Zeit, wir müssen los.«

Von Mal zu Mal erinnerte sie Amalia immer mehr an das weiße Kaninchen. Es fehlte nur noch eine Uhr, die Freya ständig mit sich herumtragen müsste. Doch solange sie ihr Verhalten nicht dem des verrückten Hutmachers anglich, war alles in Ordnung, überlegte Amalia und ließ sich bis zu dem Parkplatz vor der Akademie hinterherschleifen.

»Ist das nicht das Auto, mit dem ihr mich aus der Psychiatrie geholt habt?« Amalia blieb abrupt stehen, sie war sich sicher, den großen schwarzen Geländewagen wiederzuerkennen.

»Ja, wir nehmen es immer für Aufträge, aber wir haben noch weitere.« Freya wippte ungeduldig mit dem Fuß auf und ab. »Die Jungs müssten gleich hier sein.« Geduld zählte eindeutig nicht zu ihren Stärken. Mit zusammengekniffenen Augen blickte sich Freya prüfend um.

»Na endlich!«, rief sie, als sie die beiden erspähte.

Julien war ähnlich gekleidet wie am Tag von Amalias Entlassung aus der Psychiatrie. Unweigerlich hatte Amalia das Bild wieder vor Augen, wie er den Groohl mit seinem mächtigen Schwert aufgeschlitzt hatte und dieser in den Flammen qualvoll verging. Sie musterte lächelnd und sehr offensichtlich jeden Zentimeter an ihm. Unter seinem hüftlangen, mönchsähnlichen Outfit trug er schwarze Jeans und halbhohe Springerstiefel. Er wirkte so ritterlich und elegant.

Yato begrüßte die Ladys in cowboytypischer Manier mit einem Tippen an die Krempe seines schwarzen Hutes, den ein großes silbernes Kreuz zierte. Er trug dunkle Hosen, schwarze Cowboystiefel und ein dunkles Hemd, darüber einen offenen, bodenlangen Mantel. Mit einem selbstgefälligen Grinsen stach er in dieser Montur deutlich neben Julien hervor.

»Wo sind eure Waffen?«, fragte Amalia erstaunt und schaute suchend zwischen den dreien hin und her.

»Schon längst im Kofferraum«, antwortete Yato mit einer abwinkenden Handbewegung.

»Los, lasst uns fahren.« Julien öffnete die Fahrertür.

»Amalia, willst du vorne sitzen? Dann kann ich mit Freya kuscheln.« Yato sah sie mit einem bettelnden Gesichtsausdruck an.

»Niemals! Denkst du, ich will noch mal deine Kotze in meinen Haaren haben?«, schrie Freya gespielt panisch, zerrte Amalia auf den Rücksitz und schlug Yato die Tür vor der Nase zu.

»Hey! Das war einmal! Wieso reitest du da immer noch drauf rum?«, motzte er und setzte sich beleidigt und mit verschränkten Armen auf den Beifahrersitz.

»Wenn du kotzen musst, mach das Fenster auf«, sagte Julien trocken und startete den Motor. Er war ein wahrer Freund.

»Echt jetzt? Du auch?« Yato war fassungslos und Amalia konnte nicht anders, als laut loszulachen.

»Freya, ein Gedanke lässt mich einfach nicht los: Wie passt deine Glefe in den Kofferraum?« Amalia konnte sich nicht vorstellen, wie die knapp zwei Meter lange Waffe dort Platz finden sollte.

Freya schmunzelte. »Ganz einfach, ich kann sie in der Mitte auseinanderschrauben.« Entgeistert schaute Amalia sie an; auf so eine simple Idee wäre sie nie gekommen.

»Was ist das für ein Auftrag? Und warum haben wir noch nichts besprochen?«, fragte Yato und war von den Mobbingattacken seiner Freunde immer noch sichtlich gekränkt.

»Es geht um eine angebliche Barghest-Sichtung in der Nähe von Canterbury. Da es so eine lange Fahrt ist und ich nicht denke, dass es sich tatsächlich um ein Geisterwesen handelt, habe ich keine zusätzliche Besprechung einberufen. Alles Wichtige klären wir jetzt, um keine Zeit zu verschwenden. Zudem erhalten wir nähere Informationen von den Einwohnern vor Ort«, antwortete Julien und konzentrierte sich auf die kurvig abfallende Straße, die vor ihm lag.

»Och nö, so weit? Das sind doch mindestens fünf Stunden Fahrt«, jammerte Yato, nahm den Hut ab und legte ihn auf seinen Schoß.

»Barghest? Meinst du den schwarzen Hund, der auch Kirchengrimm genannt wird?« Amalia konnte sich an diese Legende erinnern; sie hatte erst neulich im Unterricht davon gehört.

»Ja, Barghest und schwarzer Hund sind Überbegriffe, Kirchengrimm ist die genauere Bezeichnung.« Julien ignorierte Yato geflissentlich. »Sobald wir ankommen, suchen wir die Dorfbewohner auf und erkunden die Lage. Ich vermute, dass sie schlichtweg einen großen dunklen Hund gesehen haben.«

»Wozu gehen wir dann überhaupt hin?«, wollte Amalia wissen.

»Wir sind verpflichtet, jedem Hinweis, der auf ein Geisterwesen hindeutet, nachzugehen. Da die Bewohnerin am Telefon zu Professor Adams gesagt hat, dass sie sich sicher sei, der Hund habe rote Augen, müssen wir dem auf den Grund gehen«, erklärte Julien.

»Ja, stimmt, das ist doch eins der Merkmale der Barghest«, verkündete Amalia.

»Unter anderem. Zudem seien sie so groß wie ein Kalb und unglaublich schnell und gefährlich, je nachdem, welcher Überlieferung man glaubt«, fügte Julien ergänzend hinzu.

»Aber die letzte angebliche Sichtung ist schon hunderte Jahre her. Warum sollte jetzt einer auftauchen?«, merkte Freya genervt an.

»Vielleicht findet seine Seele keinen Frieden«, rätselte Amalia.

»Eine verfluchte Seele wird niemals Frieden finden, sie ist verdammt, für immer auf Erden zu weilen. Hattest du das nicht im Unterricht, wenn du schon über den Barghest Bescheid weißt?«, fragte Freya, wandte ihren Kopf zum Fenster und schaute den vorbeirauschenden Bäumen zu.

»Amalia ist doch mitten im Jahr eingestiegen. Es kann gut sein, dass sie das verpasst hat«, mischte sich Julien ein.

»Ja, ich wollte schon gestern im Besprechungsraum fragen, was ihr mit verfluchten Seelen meint. Ist das wie mit den Groohls?«

»Nein. Groohls sind verdorbene und verdammte Seelen. Verfluchte Geisterwesen sind, wie es der Name schon sagt, verflucht. Auf ihnen lastet ein Fluch, der sie ans Diesseits bindet, und in diesem Fall wurde eine menschliche Seele mit einer tierischen und deren Körper vereint – hier ein Hund. Deshalb kann jeder Mensch sie sehen, sie sind nicht immateriell wie die Groohls. Aber wie das genau funktioniert, kann ich dir auch nicht sagen, dafür gibt es zu wenige solcher Wesen und Aufzeichnungen dazu«, führte Freya aus.

In Amalia stieg Mitleid auf. Sie liebte Tiere und mochte den Gedanken nicht, eines zu töten. Selbst wenn es sich um ein Geisterwesen handelte.

»Das ist doch grausam, eine menschliche Seele mit einem Tier zu verschmelzen. Können wir ihn nicht erlösen?«

Freya schluckte. »Hm, nein. Also wenn wir sein Gefäß zerstören, in diesem Fall den Hundekörper, wird das nicht den Fluch brechen. Kennst du Anima Sola?« Freya wandte sich wieder zu ihr. Es schien, als bildeten sich Tränen in ihren Augen, die sie sofort wegblinzelte. Amalia schüttelte den Kopf. Von der Anima Sola hatte sie bis jetzt noch nichts gehört.

»Die Anima Sola ist eine Seele, die dazu verdammt wurde, auf ewig im Fegefeuer zu brennen, und genau das passiert mit verfluchten Seelen, die ihrem irdischen Gefäß entrissen werden. Sie brennen!«

Amalia bekam Gänsehaut von Freyas Worten. Es klang wie ein Schauermärchen und war eine grausame Ungerechtigkeit. Sie würden nichts tun können, um diesem Geschöpf zu helfen, falls dort tatsächlich eines existierte.

»Hier herrscht ja eine Grabesstimmung … Wie wäre es mit etwas Musik?«, fragte Yato und legte eine seiner Lieblings-CDs ein; zum Leidwesen aller anderen natürlich Countrymusik. Nur Augenblicke später trällerte er lauthals ›Country Roads‹ von John Denver, dass kein Auge trocken blieb und sich Freya nahezu die Fußnägel aufrollten.

»Ich bring dich um«, drohte sie, packte Yato von hinten am Hals und drückte mit den Fingern auf seinen Kehlkopf.

»F…Freya, i…ich bekomme keine Luft«, krächzte er und versuchte verzweifelt, sich aus ihrem Griff zu lösen.

»Das ist der Plan. Mach das sofort aus«, flüsterte sie mit einem Unterton, der das Blut in den Adern gefrieren ließ. Hektisch drückte er das kleine Knöpfchen am Radio und wechselte zu einem Sender.

»Geht doch. Danke«, zischte Freya immer noch sehr bedrohlich.

Amalia unterdrückte ihr Lachen, fand Yatos Stimme aber gar nicht schlecht. Dann sah sie das Schild zur Ausfahrt nach Stafford. Sie hatten nicht einmal die Hälfte des Weges hinter sich gebracht. Amalia starrte noch eine Weile aus dem Fenster, bis sie für einige Minuten die Augen schloss. Das dachte sie zumindest, denn als sie diese wieder öffnete, waren sie nur wenige Kilometer von ihrem Zielort entfernt.

»Hallo, Sonnenschein. Na, wieder wach?«, fragte Yato mit einem breiten Grinsen.

»Wie lange habe ich denn geschlafen?«, wollte Amalia, die immer noch nicht ganz wach war, wissen.

»Fast drei Stunden, wir sind bald da«, wisperte Julien und lächelte in den Rückspiegel.

»Was machen wir mit dem Geisterwesen, wenn wir es finden?« Amalia rieb sich die Augen.

»Falls wir eines entdecken sollten, hältst du dich bedeckt und bleibst in meiner Nähe. Wir haben ebenfalls keine Erfahrung mit solch einem Wesen und je nach Situation müssen wir entsprechend handeln«, meinte Julien und hielt Ausschau nach der richtigen Ausfahrt.

»Du meinst vernichten?«, fragte Amalia zur Vergewisserung.

Julien nickte stumm.

Nach einer weiteren Stunde, kurz vor Sonnenuntergang, kamen die vier an ihrem Zielort an. Julien parkte das Auto etwas außerhalb des Dorfes auf einem schmalen Schotterweg. Er, Freya und Yato holten ihre Waffen aus dem Kofferraum, Amalia beobachtete, wie Freya ihre Glefe in der Mitte zusammensetzte. Augenrollend lächelte sie über ihre eigene Naivität.

Ziemlich angespannt begaben sich die vier auf den Weg ins Dorf. Es lag weit abseits von jeglicher Zivilisation auf einem Hügel, umgeben von prachtvollen Wäldern und einem Bach, der sich entlang des Trampelpfades schlängelte. Der Anblick von uralten Eichen und Tannen, der Duft von Wildblumen und das Summen der Bienen begleitete sie auf ihrem steilen Weg.

»Sind wir da? Hier ist ein Ortsschild, Gallowshill«, las Amalia laut vor und bemerkte, wie Freya plötzlich stehen blieb und deren Knie zitterten, obwohl es ein lauer Abend war.

Julien legte einen Arm um Freya und wisperte: »Was ist los, hast du etwa Angst, meine Liebe?« Ihre Antwort: ein teuflisches Grinsen.

»Yato, stört dich das denn überhaupt nicht, wenn sich die zwei so nahekommen?«, flüsterte Amalia.

»Julien und ich sind nur Freunde, da wird nichts laufen. Und die beiden sind einfach nur sehr dicke, wie eine Hexe und ihr Besen«, antwortete er und rückte seinen Hut zurecht.

»Bitte was? Du bist schwul?« Amalia schaute, als ob sie ein tollwütiges Eichhörnchen angegriffen hätte.

»Klar. Ist dir das nicht aufgefallen? All das«, er zeichnete ihren Körper von oben bis unten in der Luft nach, »interessiert mich nicht.«

Amalia riss die Augen auf. »Aber …«

»Seid ihr die Exorzisten des Klosters?«, unterbrach sie eine alte Frau, die sich unbemerkt an die vier herangeschlichen hatte.

»Ja, wir sind hier wegen der Sichtung des schwarzen Hundes«, antwortete Julien höflich.

»Gott sei Dank. Euch schickt der Himmel. Er treibt sich da oben bei der verlassenen Kirche rum.« Die alte weißhaarige Dame mit dem ovalen Gesicht und der großen Nase zeigte auf einen Hügel, auf dem sich eine Kirchenruine mit Friedhof befand. Der Anblick ließ Amalia erschauern; es wirkte wie der Schauplatz eines Horrorfilms. Die Ruine war umringt von mächtigen Bäumen und unzähligen Gräbern, ein Galgen stand ihr gegenüber.

Als sich Amalia umschaute, bemerkte sie, dass die Zeit an diesem Ort stillzustehen schien. Kein Auto war hier zu finden, nur Kutschen mit Pferden und bäuerliche Häuser, die schon seit Jahren nicht mehr renoviert worden waren, und auch die alte Frau, die sie durch Gallowshill führte, trug Kleidung wie aus dem siebzehnten Jahrhundert.

»Wir sind alle verflucht, das ganze Dorf. Er taucht immer wieder auf und verschwindet dann für Jahrzehnte.« Die gebrechliche Dame atmete schwermütig aus. »Das erste Mal habe ich ihn gesehen, da war ich noch ein kleines Kind«, wisperte die Frau, der die Jahre deutlich im Gesicht anzusehen waren. Tiefe Falten zeichneten die Haut um ihre trüben Augen.

Yato hörte der alten Dame nur mit einem Ohr zu, denn er fühlte sich sichtlich unwohl an diesem Ort. Er blickte sich permanent um – wie ein Erdmännchen, das Wache hielt. Misstrauisch stieß er gegen jeden Stein und fuhr bei dem leisesten Geräusch zusammen. Die Menschen schienen ihm hier sehr suspekt zu sein, da er ständig eine Augenbraue hochzog, wenn er einen erspähte. Einige dachten wohl, dass er sie hinter den halb vorgezogenen Vorhängen nicht bemerken würde.

Kurz bevor sie den Hügel erreichten, kam eine weitere alte Frau in schwarzer Kleidung auf sie zu.

»Verschwinde! Du Hexe, du hast hier nichts zu suchen«, schrie sie, während sie an ihnen vorbeihinkte und dabei auf Freya zeigte.

»Schon mal in den Spiegel geschaut, altes Weib?«, entgegnete Yato verärgert. Nur er durfte Freya so nennen.

»Entschuldigt sie, die alte Gerlinde ist oft verwirrt. Weiter kann ich euch nicht begleiten, meine Knochen …«, bedauerte die gebrechliche Frau, machte das Kreuzzeichen und schlurfte langsam, sich den Rücken haltend, zurück.

»Was ist mit diesem Dorf? Ist es wirklich verflucht?«, fragte Amalia, während sie den unebenen, spärlich beleuchteten Weg, den hier und da eine Laterne erhellte, zur Kirche hinaufstiegen. Die Atmosphäre wirkte auf sie kalt und dunkel, dennoch wurde ihr so heiß, als tanzten Flammen um sie herum.

»Die sind nur hängen geblieben. Nicht auf allem, was seltsam ist, lastet ein Fluch.«

»Yato! So was kannst du nicht sagen«, mahnte Julien und inspizierte die Umgebung.

Amalia entging nicht, wie Freya vor dem Galgen innehielt und dabei ihre Arme um die Schultern schlang und den Kopf senkte. Amalia blieb ebenfalls stehen und betrachtete das Gestell. Die Zeit hatte ihre Spuren hinterlassen; das Holz war alt und morsch, übersät von einer feinen Moosschicht – nur der Strick fehlte. Dennoch hinterließ der Anblick ein ungutes Gefühl bei Amalia. Sie ging langsam zu Freya.

»Ist alles in Ordnung?«, flüsterte sie, sodass es nur Freya hören konnte. Diese nickte und wandte sich vom Galgen ab. Als Amalia sich noch einmal zu dem Holzgestell drehte, sah sie plötzlich eine Frauengestalt dort hängen, deren stechend grüne Augen sie direkt anstarrten und deren Lippen sich bewegten. Amalia vernahm ein leises Flüstern und der Wind trug die Worte »Das Gleichgewicht zerbricht« an ihr Ohr. Als sie vor lauter Schreck auf und davon wollte, rannte sie so heftig in Freya hinein, dass beide fast hinfielen. Amalia rang panisch nach Luft und griff sich an die Brust, ihr Herz schlug wie wild.

Was war das? Und was für ein Gleichgewicht? Was hatte das zu bedeuten? War das ein Geist? Amalia stützte sich zitternd an Freyas Schulter ab und vergrub verängstigt ihre Nägel im Stoff des Umhangs. All diese Fragen zischten wie Blitze durch ihren Kopf. Verunsichert schloss sie die Augen und wandte sich noch einmal zum Galgen um. Zögerlich öffnete sie die Lider einen Spalt, doch die Frauengestalt war weg. Wieder fragte sie sich, was das war und warum es niemand außer ihr wahrgenommen hatte.

»Was ist los?« Entgeistert schaute Freya sie an.

Amalia schüttelte hastig den Kopf. »Nichts …«, antwortete sie irritiert und wusste selbst nicht, was sie sagen sollte. Sie atmete tief durch. Dann drehte sie sich erneut zum Galgen – wieder nichts. Nervös ließ sie die Daumen umeinanderkreisen und blickte zu den anderen. Julien und Yato pirschten sich langsam an die Gräber heran.

»Sch … Seht«, flüsterte Julien und zeigte auf ein vor ihnen liegendes Grab.

Lange mussten sie nicht suchen. Amalia entdeckte den schwarzen großen Hund. Er saß vor einem Grabstein wie auf dem Präsentierteller. Ein Knacken, Amalia war auf einen Ast getreten. Abrupt wandte sich der Grimm ihnen zu. Ihr fielen sofort die blutroten Augen auf, die wirkten, als würden Flammen darin tanzen. Doch anstatt sie anzuschauen, schien sein Blick auf Freya gerichtet zu sein. Amalia war fasziniert und verängstigt zugleich. Solch eine furchteinflößende und eindrucksvolle Kreatur hatte sie noch nie zuvor gesehen. Als sie sich ihm vorsichtig näherten, verschwand er laut- und spurlos in den Schatten zwischen den Gräbern.

»Lucrezia Rose«, las Julien vom Grabstein ab, vor dem der Kirchengrimm gesessen hatte. Amalia sah, wie Freyas Hand zu zittern begann. Irgendetwas stimmte mit ihr nicht.

»Was könnte das bedeuten?«, wollte Yato wissen.

»Nichts. Lasst uns in die Ruinen gehen. Er ist ein Kirchengrimm und wahrscheinlich mit dieser hier verbunden. Vielleicht ist er jetzt dort«, antwortete Freya unberührt und ging allein vor.

Amalia konnte ihr Verhalten nicht deuten. Seit sie in diesem merkwürdigen Dorf angekommen waren, benahm sich Freya anders. Irgendeine Verbindung musste sie zu diesem Ort haben. Was verschwieg sie?

»Sie hat recht, gehen wir weiter.« Julien sprach in leisem Ton.

An den Ruinen schien nichts Außergewöhnliches zu sein. Von dem einstigen Sakralbau war nicht mehr viel zu erkennen. Nur der mit Efeu und Moos überwucherte Kirchturm sah noch vollständig aus. Der Rest glich einem Trümmerfeld. Überall lagen Schutt der Mauern, Glasscherben der Fenster und Holz von den Sitzbänken. Das Dach war nur teilweise erhalten wie auch der Altar, auf dem ein riesiger Holzbalken lag.

Amalia hörte ein Rascheln hinter sich. Eine kalte Brise zog an ihr vorbei. Hastig wirbelte sie herum, war aber nicht in der Lage, in der hereinbrechenden Dunkelheit Genaueres zu erkennen. Plötzlich spürte sie, wie etwas an ihr vorbeihuschte. Zitternd nahm sie den Dolch in ihre Hand, streckte ihn vor sich aus und drehte sich langsam im Kreis.

»Groohls!«, schrie Julien und zückte das Schwert.

Auf einmal ging alles schnell. Er parierte den Angriff des Geisterwesens, dessen Klauen sein Gesicht nur um Millimeter verfehlten. Juliens Klinge teilte einen Groohl nach dem anderen. Es schienen unendlich viele zu sein. Blaues Feuer loderte aus jeder schwer getroffenen Kreatur auf. Schreie, Kreischen, knackendes Holz. Amalia wusste nicht, was sie tun sollte, hektisch schaute sie in alle Richtungen. Jedoch war ihre Sicht vernebelt, als hätte sich ein Schleier vor ihre Augen gelegt. Ein grauenhafter Ton, eine Mischung aus einer schief gespielten Geige und einem bremsenden Zug, drang in ihre Ohren – und da war er, ein Groohl, direkt vor ihr. Ihr Atem stockte, sie taumelte zurück und fiel zu Boden. Plötzlich flog sein brennender Kopf fast in ihren Schoß, Amalia schreckte auf und schrie entsetzt.

Mit einem weiteren Rundumschlag schlitzte Freya die nächsten Groohls auf. Wieder gequälte Schreie und blaue Flammen, die zur Totenmelodie tanzten. Ein grausames Schauspiel.

»Julien, ich gebe dir Deckung!«, brüllte Yato. Mehrere Schüsse fielen, Kugeln durchstießen leere Augenhöhlen.

Was war das? Ein Knarzen hinter Amalia. Panisch wandte sie sich um – ein Mensch? Zumindest ähnelte es einem – Amalia war sich nicht sicher. Mit einem Mal verschwand das Wesen. Sie drehte sich wild umher, ihr Herz hämmerte gegen ihre Brust und schien ihr in den Hals hüpfen zu wollen. Nichts. Aber wie, wo war es hin? Hatte sie sich das nur eingebildet? Aus heiterem Himmel packte die Kreatur Amalia von hinten und drückte ihr die Kehle zu. Amalia spürte die kalten, langen, dürren Finger auf ihrer Haut. Die Luft zum Schreien blieb ihr im Halse stecken.

Der Dolch glitt ihr langsam aus der schwitzigen Hand und ihre einzige Chance fiel klirrend zu Boden. Die anderen hatten sie nicht im Blick. Stechender Schmerz und Angst brachen über sie herein, Schweißperlen bildeten sich in ihrem Nacken. Amalia wimmerte leise, mehr brachte sie nicht hervor. Unerwartet löste sich der Griff und der Druck auf ihre Kehle ließ nach. Luft, atmen! Blutrot leuchtende Augen fixierten sie. Es war der schwarze Hund, aus dessen Maul die sich auflösenden Fetzen des Monsters hingen.

»Ich weiß, wer du bist«, hörte Amalia eine tiefe Stimme in ihrem Kopf sagen. Sie starrte ihn mit offenem Mund an. Plötzlich jaulte er gequält auf, Blut spritzte bis zu Amalia und der Kirchengrimm sackte leicht zusammen. Freya hatte die Glefe in seine Flanke gerammt.

»Lass sie in Ruhe, du verfluchtes Wesen!« Freya fing seinen drohenden Blick auf, sie musterten einander, dann sprang der Hund zur Seite und rannte aus der Kirche.

»Yato, Freya hinterher! Ich übernehme die Groohls.« Juliens Befehl durchdrang das Gemäuer. Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die restlichen Kreaturen und metzelte einen nach dem anderen nieder, während Freya und Yato seinem Befehl Folge leisteten und den Grimm verfolgten, der über den Friedhof in den angrenzenden Wald flüchtete.

»Franzel, versuch, ihm in die Läufe zu schießen!«, rief Freya und rannte, so schnell sie konnte. Doch das Einzige, was sie hörte, war ein lauter, erbärmlich klingender Schrei und als sie sich umdrehte, war Yato wie vom Erdboden verschluckt. Sie hatte jetzt keine Zeit, sich darum zu kümmern, und verfolgte den Hund weiter, bis auch sie in die Schatten der Bäume eintauchte. Geschickt manövrierte sich das Tier durchs Unterholz und Freya fiel es schwer, mit diesem Tempo und den wendigen Bewegungen mitzuhalten.

Die Sorge um Amalia, die in Schockstarre in einer Ecke kauerte, ließ Julien für einen Moment unvorsichtig werden. Er schielte zu ihr, sie brauchte ihn. Er bewegte sich einen Schritt auf sie zu, dann spürte er plötzlich den Widerstand. Hastig drehte er sich um und entzog sich dem Griff des Groohls, der ihn an der Kutte gepackt hatte, schwang das Schwert mit voller Wucht und zerteilte die Kreatur. Als er sich Amalia wieder zuwandte, entdeckte er aus dem Augenwinkel, wie Freya und Yato eilig den Grimm verfolgten. Julien hörte Freya noch etwas rufen, doch der Wind verschlang die Worte, bevor sie bis zu ihm durchdringen konnten.

Ein Sturm zog auf, Feuchtigkeit lag in der Luft. Entsetzt beobachtete er, wie Yato im Erdboden verschwand. Als wäre er von einem Vakuum nach unten gesaugt worden. Der Typ ist nicht ernsthaft in ein offenes Grab gefallen?, dachte Julien und wandte sich kopfschüttelnd und tief seufzend Amalia zu. Er kniete vor ihr nieder, legte einen Arm um sie und streichelte ihr über den Kopf. Als sich ihre Blicke trafen, herrschte für einen Moment Stille, alles um sie herum verschwamm. In diesem Augenblick gab es nur die beiden.

»Bist du verletzt?«, durchbrach Julien das Schweigen.

Amalia sagte keinen Ton, sie legte nur ihren Kopf an seine Brust und atmete schwer aus. Er tat ihr gut – alles an ihm – seine Nähe, die ruhige und klare Stimme, seine Wärme, einfach alles. Julien drückte sie fest an sich. Amalia entspannte sich in seinen Armen und er spürte eine Woge der Erleichterung. Im Licht des aufgehenden Mondes, vor den sich langsam dicke Wolken zogen, wirkten ihre Haare dunkler als sonst und bildeten einen starken Kontrast zu ihrer hellen Haut. Sie war wunderschön und so zerbrechlich. Amalia zitterte am ganzen Leib, ob vor Kälte oder weil ihre Muskeln versuchten, zur Ruhe zu kommen, konnte Julien nicht sagen. Er bereute, die Zustimmung zu Collins Entscheidung gegeben zu haben. Es war zu früh, Amalia hätte mehr Vorbereitung gebraucht. Auch wenn Freya und vor allem Yato – der in diesem Moment alle Mühe hatte, aus dem Grab zu klettern – ihn jetzt wahrscheinlich brauchten, er wollte und konnte Amalia nicht allein lassen.

Freya war außer Atem, sie hatte den Hund aus den Augen verloren. Kurz hielt sie inne, zog laut zischend die Luft ein und schaute sich um. Verzweifelt suchte sie nach einer Spur. Ihr Blick schweifte durch das dichte Geäst, da erspähte sie Blutstropfen im Laub und folgte ihnen. Sie musste sich beeilen, es begann zu regnen und bald würde die Spur in der Erde versiegen. Blitze erhellten den Wald immer wieder für einige Sekunden und plötzlich stand er vor ihr, knurrend und die Lefzen weit hochgezogen. Scharfe Fänge leuchteten im Licht der Blitze und sein Fell sträubte sich. Er war größer als jeder Hund, den Freya bisher gesehen hatte. Sie machte sich bereit und sie würde nicht zögern, ihn zu töten, wenn er sie angriff. Sie straffte die Schultern und umfasste den Griff ihrer Glefe eisern. Mit ihrer Klinge visierte sie die glühenden roten Augen an. Hund und Mensch fixierten einander und keiner von beiden wagte es, auch nur mit der Wimper zu zucken. Unvermutet brach der Kirchengrimm schwer nach Luft ringend zusammen. Er lag röchelnd auf der Seite, seine Atmung verlangsamte sich und der Brustkorb schien sich kaum noch zu heben. Langsam näherte sich Freya ihm und bemerkte die klaffende Wunde an seiner Flanke.

»Ich hab dich ganz schön erwischt«, wisperte sie und beobachtete, wie die Augen in ihren Höhlen nach hinten rollten und der Hund das Bewusstsein verlor.

»Ich bin da. Was ist los?«, keuchte Yato völlig außer Puste.

»Wo warst du?«, zischte Freya und entdeckte die Erde an seinem Hut und dem Mantel, als sie den Kopf zu ihm drehte.

»Glaub mir, das willst du nicht wissen. Was ist mit ihm? Hast du ihn getötet?« Yato beäugte das blutende Wesen kritisch. »Du bist immer so brutal.«

»Nein, hab ich nicht – noch ist er nicht tot. Also hol Julien und Amalia. Wir müssen besprechen, wie wir mit ihm weiter verfahren«, sagte Freya und wandte sich dem Geschöpf wieder zu. Sie wusste, dass er sterben würde, wenn sie ihn hierließen, aber diese Entscheidung oblag nicht nur ihr. Zögerlich berührte sie seine Schnauze, doch durch die Handschuhe spürte sie die Beschaffenheit seines schwarzen Fells nicht.

Yato warf einen Blick auf sein Handy, in der Hoffnung, Julien anrufen zu können; natürlich hatte er hier keinen Empfang.

»Warum immer ich?«, jammerte er.

Freya funkelte ihn an, als wollte sie ihn mit ihren Augen strangulieren.

»Keine Sorge, ich geh ja schon«, entgegnete er genervt und rannte zu den anderen in die Kirche zurück.

Mittlerweile hatte starker Regen eingesetzt und Freyas tropfnasser Zopf war im Begriff sich aufzulösen. Sie öffnete den Verschluss am Kreuz ihres Umhanges, nahm ihn ab und legte ihn über den Hund. Ihre Kleidung durchnässte in wenigen Augenblicken und Kälte kroch ihr blitzschnell unter die Haut bis in die Knochen.

Doch das war ihr egal, sie konnte die Augen nicht von der Kreatur lösen. Sie hatte noch nie einen leibhaftigen Kirchengrimm gesehen und studierte den leblos wirkenden Körper eingehend. Dabei fielen ihr die großen Pfoten mit den ungewöhnlich spitzen Krallen auf. Damit würde es ihm nicht schwerfallen, einen Menschen in Stücke zu reißen.

»Es wäre schade, wenn deine Seele wegen mir im Fegefeuer brennt.« Sie seufzte wehmütig. »Glaub mir, das würde ich nicht wollen. Ich kenne die Angst vor diesen Flammen.«

»Freya, warum hast du das getan?«, schrie Amalia, als sie mit Julien und Yato näher kam und den Verwundeten sah.

»Er hatte doch vor dich anzugreifen!« Freya wandte sich erschrocken zu ihr.

»Nein, er hat mich vor dem Groohl gerettet. Wir müssen ihm helfen!«

»Ich stimme Amalia zu. Wir nehmen ihn mit«, entschied Julien.

Freya nickte nur und sah zu, wie Julien die Kreatur samt Umhang hochhievte und deren Kopf schlaff über seinem Arm hing. Schwerfällig marschierte er mit dem großen Tier aus dem Wald.

»Wir haben echt gute Teamarbeit geleistet«, lobte Yato und klopfte sich auf die Schulter.

»Hey, du Teamplayer, wo bitte warst du denn, als ich allein dem Hund durch den Wald gefolgt bin?«, maulte Freya.

»Sich eine kurze Verschnaufpause tief unter der Erde gönnen«, scherzte Julien grinsend.

»Hey! Ich habe das Loch im Boden nicht gesehen. Das kann jedem mal passieren. Seid lieber froh, dass mir nichts passiert ist«, verteidigte sich Yato und plusterte sich dabei wie ein Hahn auf.

»Ja klar, jeder übersieht ein langes, über zwei Meter tiefes Loch im Boden«, erwiderte Julien mit förmlich greifbarem Sarkasmus.

»Ich bin froh, dass dir nichts passiert ist, Yato.« Amalia lächelte ihn liebevoll an. »Was sagen wir den Dorfbewohnern, wenn uns jemand mit dem Hund sieht?«

»Überlasst das mir. Wenn sie etwas sagen, brennen wir alles nieder, das merkt sowieso keiner.«

»Freya, du bist lustig«, sagte Amalia und kicherte. Freya kniff die Augen zusammen. Das sollte kein Witz sein, dachte sie sich insgeheim.

Juliens kritischer Blick inspizierte die Umgebung, doch sie schienen Glück zu haben, es war kein Dorfbewohner zu sehen. Nirgendwo brannte Licht, fast alle Vorhänge in den Häusern waren zugezogen. So schafften sie es unbehelligt zum Auto. Niemand sollte von der tatsächlichen Existenz des Kirchengrimms erfahren, zumindest niemand außerhalb der Akademie.

»Wohin mit ihm?«, fragte Yato und wollte schon die Tür zur Rückbank öffnen.

»Kofferraum«, befahl Julien, dem es mittlerweile sichtlich schwerfiel, das verletzte Tier zu tragen. Sein Atem ging keuchend.

»Warte bitte«, flüsterte Freya, während sie ihre Glefe von dem Tuch befreite. Sie schob den Umhang beiseite und wickelte dem Hund den nachtblauen langen Stoff um den Körper herum und deckte dabei die tiefe Stichverletzung ab. »Er soll uns ja nicht den Kofferraum vollbluten«, merkte sie an, als sie Juliens verwunderten Gesichtsausdruck bemerkte.

Dann verstaute er den Hund und packte ihn in den Umhang ein. »Lasst uns von hier verschwinden«, schnaufte er sichtlich erschöpft. Allen war der kräftezehrende Tag deutlich anzusehen. Es dauerte nicht lange, bis Amalia und Yato eingeschlafen waren. Amalia hatte es sich auf Freyas Schoß bequem gemacht, wohingegen Yato wie ein Toter im Gurt hing und leise schnarchte.

»Julien, du musst nicht durchfahren. Es ist spät und der Tag war anstrengend, wenn du eine Pause brauchst, sag Bescheid.« Freya legte ihre Hand auf seine Schulter.

»Es geht schon, wir dürfen uns nicht so viel Zeit lassen, die hat er nicht. Aber sag mal, was war heute mit dir?« Julien strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht.

»Was meinst du?« Sie lehnte sich zu ihm vor.

»Wir kennen uns jetzt schon eine Weile, aber ich habe dich noch nie so gesehen. Was hat es mit Gallowshill auf sich?«

»Julien, du weißt, ich vertraue dir. Ich kann mich immer auf dich und Yato verlassen, aber es gibt Dinge in meinem Leben, über die kann ich einfach noch nicht sprechen.«

»Das verstehe ich.« Julien warf ihr über den Rückspiegel ein Lächeln zu. »Wenn du mal reden willst, du weißt, wo du mich findest. Aber ohne Alkohol.« Sein Lächeln wurde zu einem schelmischen Grinsen.

»Oh, Julien, wir und Alkohol, böse Kombi«, kicherte Freya und blickte zu Amalia, die sich mittlerweile auf der Rückbank wie ein Donut zusammengekringelt hatte.

Als sie nach ein paar Stunden Autofahrt an der Akademie ankamen, hatte Julien Müh und Not Yato zu wecken. Auf Schütteln und Zerren reagierte er nicht. Amalia hingegen hatte einen leichten Schlaf, bei ihr reichte Freyas sanftes Flüstern: »Wach auf, wir sind da.«

»Julien, wenn nichts hilft, denk an die Nase«, sagte Freya mit einem teuflischen Unterton, stieg aus dem Auto und ging zum Kofferraum.

Amalia wischte sich über die Augen und sah, wie Julien Yato gegen die Nase schnipste. »Guten Morgen, Schlafmütze«, flüsterte er.

»Aua, warum tust du mir weh?« Yato rieb sich den Nasenrücken.

»Weil du wie ein Stein schläfst und ich dich anders nicht wach bekomme«, stellte der Blondschopf klar. Julien stieg aus und schickte Yato ins Gebäude, um Collin zu holen.

Amalia stieß die Autotür auf, stieg ebenfalls aus und lief zu Freya, die gerade langsam den Kofferraum öffnete. Ihr war mulmig zu Mute und sie fürchtete, gleich die Leiche des Kirchengrimms sehen zu müssen.

Amalia beobachtete das Geschehen wie gebannt, doch dann weiteten sich ihre Augen und sie schrie auf. Freya hingegen brachte keinen Ton heraus, sie starrte nur entsetzt auf das Bild, das sich ihr bot und – knallte den Deckel des Kofferraums wieder zu.

»Was ist los?«, rief Julien und hechtete zu den beiden.

»NACKTER MANN!«, brüllte Amalia aufgeregt und wusste nicht, ob es real war, was sie gerade gesehen hatte.

»Und er ist in meinem Umhang NACKT eingewickelt!«, knirschte Freya und schlug mit der Faust auf das Autodach.

Amalia atmete erleichtert aus, nicht nur sie hatte den nackten Mann gesehen.

»Was redet ihr da? Freya, mach den Kofferraum auf«, heischte Julien kopfschüttelnd und stellte sich zwischen die beiden, doch sein Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig, als er den nackten Mann, lediglich in Freyas Umhang eingewickelt, sah.

Amalia drehte sich verschämt um, Freya biss vor Wut die Zähne zusammen und Yato, der mittlerweile gemeinsam mit Collin wieder herausgekommen war, schrie auf, wie ein Mädchen, dem eine Maus über die Füße gerannt war.

»Das ist der Kirchengrimm«, sagte Julien, als er den Umhang anhob und sein Blick auf das blutgetränkte blaue Tuch über der Verletzung fiel.

»Dann ist er in der Lage, seine menschliche Form wieder anzunehmen«, stellte Collin fest, während er ihn genauer betrachtete.

»Wie ist das möglich?« Amalia schaute immer noch peinlich berührt weg.

»Alle Geisterwesen, die hier auf Erden wandeln – egal, ob verflucht oder nicht – können, je länger sie im Diesseits sind, neue Fähigkeiten erlangen. Zum Beispiel entwickeln Groohls die Fertigkeit, von Menschen Besitz zu ergreifen.« Amalia nickte wissend, als Collin sie ansah; das wusste sie – das hatte er bereits erwähnt.

»Und die Barghest können nach einer gewissen Zeit wieder ihre menschliche Form annehmen und zwischen dieser und der tierischen wechseln. Ob das jetzt unwillkürlich oder kontrolliert geschieht, kann ich euch nicht sagen. Ich muss ehrlich sein, das ist das erste Exemplar, dem ich so nah komme«, erklärte Collin und hob ebenfalls den Umhang hoch, um die Wunde zu inspizieren.

»Okay, alles sehr interessant, aber können wir jetzt bitte den nackten Mann aus dem Kofferraum schaffen, damit nicht gleich jeder denkt, dass wir Leichen da hinten drin haben? Ich meine, schaut doch nur, wie Jack guckt«, sagte Yato und zeigte auf eine Gestalt nicht weit von ihnen.

Amalia sah, wie der hagere, schlaksige Gärtner, der einen viel zu großen Strohhut trug, seinen Rechen fest umklammerte und das Geschehen mit offenem Mund verfolgte. Dabei fiel ihr auf, dass ihm die vorderen Zähne fehlten, was die gesamte Situation nur noch unangenehmer machte. Auch auffällig war, dass er schon so früh morgens arbeitete. Amalia rümpfte die Nase, der Typ kam ihr merkwürdig vor.

»Julien, bring ihn runter in die Kellerräume. Wir versorgen ihn in den ehemaligen Zellen und was hast du zu den Dorfbewohnern gesagt?«, erkundigte sich Collin.

»Nichts, wir haben sie nicht mehr gesehen.« Julien hievte den leblos wirkenden Körper aus dem Auto und Amalia kam nicht umhin, noch einmal einen Blick zu riskieren. Pechschwarzes Haar hing über Juliens Arm, vom Gesicht konnte sie nur das markante Kinn erkennen.

»Gut, dann gebe ich Professor Adams Bescheid, dass er die Bewohner informieren soll, dass es sich um einen normalen Hund gehandelt hatte und ihr euch darum gekümmert habt.« Collin hielt Julien die Eingangstür auf.

Amalia wollte Julien hinterher, doch Yato hielt sie zurück. »Nicht so schnell, nicht jeder hat Zutritt zu diesen Räumen.« Erstaunt drehte sie sich zu ihm um, sodass er ihre Schulter loslassen musste.

»Warum?«

»Amalia, Regeln sind Regeln«, stellte Yato klar.

Frustriert kehrte Amalia in ihr Zimmer zurück, fand dort allerdings keine Ruhe. Weder ein Manga noch das Aufhängen der Animeposter, die Yato ihr samt der Lektüre als Einweihungsgeschenk gegeben hatte, schafften es, sie vom Erlebten abzulenken. Sie schleuderte den japanischen Comic in eine Ecke und blickte nachdenklich aus dem Fenster. Die Nacht wich dem Tag, die Sonne kämpfte sich durch die Finsternis und tauchte den Wald in malerische Morgenröte. Eigentlich sollte sie sich ausruhen, aber ihre Gedanken arbeiteten dagegen. Zitternd vor Müdigkeit zog sie den Umhang aus und einen schwarzen Kapuzenpullover über. Sie musste hinaus an die frische Luft, Leere schaffen. Leise schlich sie aus ihrem Zimmer. Sie wollte keine Aufmerksamkeit erwecken. Behutsam öffnete sie die große Tür in der Eingangshalle und warf einen kurzen Blick nach draußen. Es war niemand mehr auf dem Parkplatz zu sehen, nicht einmal der Gärtner, und so glitt sie auf Zehenspitzen ins Freie. Sie wusste genau, wie sie sich unsichtbar machen musste, das hatte sie schon früher immer getan, damit ihr Stiefvater sie nicht bemerkte. Amalia zog die frische Morgenluft ein. Die ersten Vögel zwitscherten, sie schloss die Augen und genoss den Moment. In Gedanken versunken schlenderte sie auf einem schmalen Weg ziellos weiter durch den Wald. Nach einer Weile fand sie sich an einem See wieder, wo sich ihr eine einzigartig schöne Kulisse bot. Trauerweiden, so weit das Auge reichte, ließen ihr Geäst, getragen von dem lauen Wind, sanft im Wasser spielen. Seerosen, deren Knospen sich langsam öffneten, glitten in gemächlichen Bewegungen über die Oberfläche. Frösche quakten und die Vögel sangen ihre Lieder. Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg durch das dichte Geäst der Bäume und brachen an der Wasseroberfläche. Ein atemberaubendes Farbenspiel. Amalias Augen leuchteten und ein begeistertes Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie ließ ihren Blick weiterwandern und entdeckte auf der anderen Seite des Sees ein kleines dunkelbraunes Haus im japanischen Minka-Stil. Es hatte ein rotes doppeltes Pagodendach, den Eingang bildeten Shoji-Schiebetüren. Nach dem Aussehen zu urteilen, handelte es sich hier um ein Dojo. Ihre Neugierde wuchs, sie wollte unbedingt einen kurzen Blick hineinwerfen, denn sie hatte bisher noch keines von innen gesehen. Sie konnte sich gut vorstellen, dass Yato oft hier sein würde – was er nie tat.

Die Melodie von Kung-Fu Fighting kam ihr in den Sinn und Amalia summte sie nach. Langsam begab sie sich am Seeufer entlang auf die andere Seite des Sees. Der schmale Trampelpfad war gesäumt von Brennnesseln, und zahlreiche herausstehende Wurzeln, die sich darüber erstreckten, brachten Amalia immer wieder fast zu Fall. Ihre Tollpatschigkeit bereitete ihr vor allem auf Wegen wie diesem Schwierigkeiten. Der Gedanke, dass sie niemals ein nützliches Mitglied des Ordens sein würde, hielt Amalia fest im Griff. Sie schaffte es nicht mal, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne dabei fast zu stürzen. Sie atmete tief durch und erreichte das Dojo schließlich unbeschadet. Den Eingangsbereich zierten zwei große weiße Fuchsstatuen und ein hängendes Schild mit asiatischen Zeichen, die sie nicht verstand. Sie berührte eine der Keramikfiguren und schob langsam die Tür auf. Als sie ihren Kopf vorsichtig hineinsteckte, war niemand zu sehen. Auf dem Boden lagen weiche Tatamimatten und die Wände waren aus hellem Holz, dekoriert mit Bambusschwertern.

Auf Zehenspitzen trippelte Amalia durch den großen Trainingsraum zur Schiebetür an seinem anderen Ende. Interessiert, wohin sie führen würde, öffnete Amalia diese behutsam und vor allem leise.

Vor ihr lag ein Teich, in dem farbenfrohe Kois ihre Kreise zogen und über den eine zierliche dunkelrote Holzbrücke führte. Ein mannshoher ziegelroter Schrein, nächst der Brücke, stach Amalia sofort ins Auge. Darin thronte eine weiße Fuchsstatue mit einem roten Tuch um den Hals.

Am anderen Ufer des Teichs erblickte sie die Frau aus der Bibliothek, Kyuu; ihre hüftlangen schwarzen Haare waren im Nacken mit einer hellroten Schleife zusammengebunden. Sie trug einen traditionellen Hakama – eine Art roter Hosenrock – und ein lockeres weißes Oberteil mit Flügelärmeln. In ihrer linken Hand hielt sie einen langen Bogen, mit der Rechten legte sie den Pfeil ein.

Mit den zwei japanischen Ahornbäumen, den unzähligen Wildrosen und dem Wald im Hintergrund glich sie einem märchenhaften Wesen. Als sie den Pfeil auf die Zielscheibe schoss, hob sich ein leichter Wind und ließ die Blätter um sie herumtanzen. Kyuu drehte sich zu Amalia um und obwohl sie weit entfernt von ihr stand, hörte sie Kyuus sanft gesprochene Worte klar:

»Komm rüber, Amalia.«

Wie unter einem Bann zog es sie zu ihr. Kyuu wirkte surreal: Ihr Gesicht mit der kleinen Nase, den schönen hellgelben, mandelförmigen Augen und dem Kussmund schien wie aus Porzellan.

»Es tut mir leid, dass ich dich in der Bibliothek erschreckt habe.« Kyuu lächelte und Amalia senkte verlegen den Kopf. »Möchtest du es auch mal probieren?«, wisperte sie Amalia mit ihrer lieblichen Stimme zu.

Die Angst, die sie bei ihrer ersten Begegnung verspürt hatte, war wie verflogen. Zögerlich nahm sie den Holzbogen von Kyuu entgegen. Amalia hätte nicht gedacht, dass er so leicht sein würde. Kyuu legte ihr einen Pfeil in die andere Hand und führte diese gleich in die richtige Position. Amalia zog mithilfe von Kyuu an und schoss den Pfeil in Richtung Ziel. Sie wollte gar nicht sehen, wohin der Pfeil flog und kniff die Augen zusammen. Doch als sie sie wieder öffnete, konnte sie nicht glauben, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

»Das ist deine Waffe«, sagte Kyuu.

Amalia nahm einen weiteren Pfeil. Sie musste sich selbst davon überzeugen, dass sie auch allein treffen würde. Diesmal traf sie zwar nicht ins Schwarze, aber dennoch das Ziel.

»Du hast recht! Das ist meine Waffe!«, jubelte sie voller Freude.

»Soll ich dir so einen fertigen und dich unterrichten?«, fragte die Japanerin und nahm Amalia den Bogen wieder ab.

»Ja, bitte. Das wäre toll. Darf ich dich was fragen?«

Die Japanerin nickte.

»Wie funktioniert das mit dem Feuer?« Sie bewunderte Kyuu und ihre Anmut beim Schießen. Ob sie das jemals genauso gut schaffte, vermochte sie nicht zu sagen, aber insgeheim hoffte sie es.

»Ich bin eine Kitsune, ein verfluchtes Geisterwesen«, antwortete Kyuu. Als sie Amalias fragenden Blick bemerkte, erklärte sie weiter: »Ein Kitsune ist ein mehrschwänziger Fuchs. Ich beherrsche die blauen Flammen, in denen ich eure Waffen schmiede.« Kyuu öffnete ihre Handfläche, im selben Moment tanzten kleine blaue Flammen über ihre Finger.

»Wow!« Amalia fixierte das Feuer gebannt. »Ah, dann ist deine Geisterform ein Fuchs«, merkte sie an. Amalia erinnerte sich an den geisterhaften Schatten, den sie in der Bibliothek gesehen hatte.

Die Japanerin nickte zustimmend. Amalia konnte es sich bildlich vorstellen; das Tier passte zu Kyuu und ihrer Anmut. »Also, ich habe das schon richtig verstanden: Du meinst verflucht wie der Kirchengrimm?«, hakte Amalia nach.

»Ja, warum?«

»Wir waren auf einer Mission, dort fanden wir einen Barghest. Freya hat ihn mit der Glefe schwer verletzt. Kannst du ihm vielleicht helfen? Er hat mir das Leben gerettet.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann.«

»Danke. Für alles«, sagte Amalia etwas verlegen und begab sich auf den Rückweg. Dieser Ort war unvergleichlich. Sie wusste, dass sie von nun an öfter hier sein würde.

*

Nachdem Julien gemeinsam mit Collin den Kirchengrimm in das Kellergewölbe gebracht hatte, wies sein Cousin ihn an, sich auszuruhen und zu einem späteren Zeitpunkt in sein Büro zukommen, um über den Auftrag und insbesondere Amalia zu sprechen. Doch in seinem Zimmer angekommen, fand Julien keine Ruhe. Er setzte sich aufs Bett, strich sich nachdenklich über die Stirn, stand auf und tigerte von einer Ecke in die andere. Er musste jetzt mit Collin reden, ihm von seinen Befürchtungen erzählen. – Amalia war noch nicht bereit. Julien schüttelte den Kopf, lief ins Bad und drehte den Wasserhahn auf. Er spritzte sich das kalte Wasser ins Gesicht und überlegte, wie er seinen Cousin überzeugen konnte, Amalia nicht in den Orden aufzunehmen, zumindest noch nicht. Langsam stellte er das Wasser ab und trocknete sich das Gesicht. Er warf einen kurzen Blick in den Spiegel, atmete tief durch und machte sich auf den Weg in Collins Büro. Als er den ihm wohlvertrauten Weg entlangging, vorbei an den Zimmern seiner Freunde und die Stufen hinauf in den dritten Stock, sah er durch die Fenster den Morgenhimmel. Er trat durch die Tür, stieg die Wendeltreppe hinauf, über die er schließlich das Büro erreichte. Seufzend klopfte er wie immer dreimal an die Tür und hoffte, dass sein Cousin bereits im Arbeitszimmer war, und tatsächlich vernahm er dessen Stimme, die ihn hereinbat. Julien trat unverzüglich ein und Collin zog verwundert die Augenbrauen nach oben.

»Julien, was machst du hier, ich hatte dir doch gesagt, dass du dich ausruhen sollst.«

»Ich weiß, aber ich muss jetzt mit dir reden. Der Auftrag und vor allem … Amalia … das lässt mir keine Ruhe.« Julien rieb sich die Augen und setzte sich auf den Stuhl Collin gegenüber. »Sie ist noch nicht bereit, ich meine, sie besitzt nicht einmal eine Waffe … Wie soll sie das Team so unterstützen?«

»Julien, das ist schon geklärt.« Der Akademieleiter räusperte sich. »Kyuu kam vorhin ins Kellergewölbe, um den Grimm zu versorgen. Da hat sie mir erzählt, dass Amalia bei ihr war und sie ihr einen Bogen fertigen wird, und sie hat sich ebenfalls bereit erklärt sie zu unterrichten.« Collin lehnte sich in seinen Stuhl zurück und verschränkte die Arme.

»Warum muss es bei ihr so schnell gehen? Was siehst du in ihr?« Julien schüttelte verständnislos den Kopf.

»Weil sie lernen muss, mit ihren Kräften umzugehen und das lieber zu früh als zu spät. Und Julien, du musst bedenken, dass Amalia viel nachzuholen hat … Kannst du dich noch an den Tag erinnern, als wir Freya geholt haben?« Collin blickte Julien in die Augen und der nickte; niemals würde er diesen Tag vergessen.

»Du hast Freyas Kräfte gespürt. Du bist ein Jackdaw und besitzt diese Gabe ebenfalls, wenn auch noch nicht so ausgeprägt. Aber glaub mir, wenn ich dir sage, dass Amalia eine ähnliche Macht hat, und mit deiner Hilfe, der des Ordens und Kyuus wird sie uns eine große Stütze sein, wie es auch Freya ist.« Collin strich über Juliens Hand. »Vertrau mir und unterstütze Amalia.«

Der junge Jackdaw nickte erneut.

»Gut, ich werde gleich noch mal nach dem Kirchengrimm sehen und du gehst dich jetzt ausruhen und kommst später am Nachmittag mit deinem Team für eine kurze Besprechung in mein Büro.«

*

Stürmisches Hämmern gegen die Tür riss Amalia unsanft aus ihren Träumen. Vor lauter Schreck kugelte sie aus dem Bett. Völlig verschlafen, mit halb offenen Augen, zerzausten Haaren und zerknittertem Gesicht schlurfte sie wie ein Zombie zur Tür. Als sie öffnete, stand sie Julien, Freya mit Levi auf der Schulter sitzend und Yato gegenüber.

»Guten …« Bevor Julien den Satz beenden konnte, schlug Amalia die Tür wieder zu. Ihre Wangen liefen knallrot an, denn es war ihr mehr als peinlich, dass sie alle so schläfrig gesehen hatten. Ihr Puls raste vor Scham.

»Amalia, wir müssen zu Collin, also komm! Und außerdem ist es schon später Nachmittag.« Freya hämmerte mehrfach mit der Faust gegen die Tür.

»Amalia, ist nicht schlimm, wenn du aussiehst wie eine Hexe. Ist nur eine kurze Besprechung und Freya sieht immer so aus! Aua! Freya, wieso schlägst du mich wieder?«

»Franzel, noch einmal das Wort Hexe und du lernst fliegen – und zwar ohne Besen!«, schrie sie so laut, dass Amalia mithören konnte.

»Ich bin in fünf Minuten fertig«, rief sie, während sie ins Bad stolperte.

In Windeseile kämmte sie die Haare, putzte die Zähne und wusch sich das Gesicht. Ohne genau hinzuschauen, zerrte sie ein weißes T-Shirt, auf dem sich zwei schmusende schwarze Katzen befanden, aus dem Schrank, und zog ihre dunklen Leggins an.

»Fertig«, sagte Amalia, als sie die Tür öffnete. Und da packte sie Freya auch schon am Arm und schleifte sie den Gang entlang.

»Worum geht es denn bei der Besprechung?«, wollte Amalia wissen und sah Julien fragend an.

»Ich denke, um den Kirchengrimm und wie wir weiter mit ihm verfahren«, antwortete er und blickte ihr in die Augen. Es war wie in jenem Moment in der Kirche, sie verlor sich schon wieder in seinen blauen Augen. Doch Julien unterbrach den Kontakt, als Yatos Stimme erklang:

»Vielleicht ist der nackte Mann auch einfach tot, gell, Freya?«

»Heute reizt du dein Glück wirklich aus. Und wenn, dann hat ihm Julien beim Fallenlassen auf die Treppen den Rest gegeben«, flüsterte Freya in einer unheimlichen tiefen Tonlage.

Amalia empfand Mitleid mit ihrem Retter.

Als die vier vor Collins Büro ankamen, klopfte Julien wieder dreimal. Amalia konnte den Akademieleiter auf den ersten Blick nicht gleich erkennen, sie sah nur, dass der Drehstuhl mit der Lehne zu ihnen zeigte und jemand darin saß.

»Willkommen, mein neues Team«, sagte der schwarze Hund in seiner menschlichen Gestalt und grinste teuflisch, während er sich mit dem Stuhl zu den vieren herumdrehte.

Fluch der verlorenen Seelen

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