Читать книгу Fluch der verlorenen Seelen - Darina D.S. - Страница 4

3. Gefährliche Künste

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Die Kunst, eine Waffe zu beherrschen

ist: mit ihr zu sprechen.

Lass ihre Seele dich berühren,

sonst wirst ihre Macht du spüren.

Wendest du dich von ihr ab,

geht dein Leben steil bergab.

Ein Bund für die Ewigkeit

ohne Ausweichmöglichkeit.

Bleib deiner Waffe stets treu,

sonst wirst du es bereuen.

Allmählich schlich sich Routine in Amalias Alltag ein. Der Rest der Woche verlief ähnlich wie der dritte Tag an der Akademie. Freya holte Amalia jeden Morgen ab, brachte sie zum Unterricht und anschließend saßen sie gemeinsam mit den Jungs beim Essen zusammen. Amalia fiel es immer leichter, dem Unterricht zu folgen, obwohl ihr die Fächer Seelen- und Waffenkunde immer noch Kopfzerbrechen bereiteten. Doch es war nicht nur das, auch sah sie hie und da Schüler mit den mönchsähnlichen Kutten in der Akademie umherstreifen. Dieser Ort versprühte eine geheimnisvolle Atmosphäre, jedoch schaffte es Freya mit ihren Bemühungen um Unterhaltung wie dem kleinen Spaziergang auf dem Klostergelände, dass sich Amalia bei aller Skepsis langsam heimisch fühlte. Dennoch wünschte sie sich, endlich mit dem Akademieleiter zu sprechen. Zu viele Fragen brannten ihr noch unter den Nägeln.

Amalia warf Freya ein dankbares Lächeln zu. Obwohl die beiden nicht viel miteinander gesprochen hatten, war der Spaziergang eine wohltuende Ablenkung gewesen. Zu gern hätte Amalia ihr all die Fragen gestellt, die so schwer auf ihren Schultern wogen, doch Professor Adams hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie sich bis zur Ankunft des Akademieleiters gedulden sollte.

»Freya, warum müssen wir schon wieder zurück?« Amalia zog die frische Luft tief ein, sie genoss die warmen Sonnenstrahlen und den lauen Frühlingswind.

»Die Jungs erwarten uns bereits«, sagte Freya und tippte auf ihrem Handy herum.

»Wieso, haben wir noch was vor?«, fragte Amalia. Ihr war nicht entgangen, dass Freya abermals ihre schwarzen Langschafthandschuhe trug, von denen sie einen ausgezogen hatte, um ihr Smartphone zu bedienen. Das war nicht irgendein Trend, dessen war sie sich mittlerweile sicher, und sie nahm sich fest vor, Freya darauf anzusprechen, wenn sich ein passender Moment ergäbe. Denn wider Erwarten konnte sie an ihren zarten Händen nichts erkennen, was hätte verdeckt werden müssen.

»Sieht so aus.« Ihre Freundin zwinkerte ihr zu.

Von Weitem erkannte Amalia die beiden Jungs, die schon ungeduldig vor der Eingangstür auf sie warteten. Julien sah in seinen schwarzen Hosen, dem weißen Poloshirt und einer dunkelblauen Jeansjacke wie immer umwerfend aus, wohingegen sie sich bei Franz-Yato ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Er trug zu seinen hellblauen Jeans und dem schwarzen T-Shirt einen dunkelbraunen Cowboyhut und dazu passende Boots.

»Ihr habt euch ja ganz schön Zeit gelassen, Ladys«, sagte der Cowboy.

»Och, Franzel, ich weiß, dass du es nur schwer ohne mich aushältst«, antwortete Freya in einer übertrieben hohen Tonlage.

»Er ist zurück. Lasst uns zu ihm gehen«, informierte sie Julien.

Amalia wurde sogleich von Freya am Arm gepackt und mitgeschleift. Sie verstand nur Bahnhof:

»Wer ist wieder da?«

»Geduld, du wirst ihn gleich kennenlernen«, wisperte Freya.

Geduld? Das sagte genau die Richtige, dachte sich Amalia, während sie die Treppen hochgingen. Verwundert blickte sie sich um. Wohin wollten sie? Sie hatten das zweite Stockwerk passiert. Im dritten befanden sich ihres Wissens nach nur die Lehrräume, da war sich Amalia sicher. Doch sie wurde eines Besseren belehrt.

Die vier gingen an allen Klassenzimmern vorbei, dann bog Julien um die Ecke. Mit einem großen Fragezeichen im Gesicht trottete Amalia ihm hinterher. Am Ende blieb der Blonde vor einer breiten dunklen Holztür stehen und öffnete sie.

Verwundert betrachtete sie die hellbraune Wendeltreppe und die Efeuschnitzereien, die sich am Geländer hochschlängelten.

Unsicher folgte sie den anderen bis nach oben zu einer weiteren Holztür. Zumindest wusste sie jetzt, dass es da oben einen Raum gab.

Dreimal klopfte Julien an die Tür, bevor er eintrat. Amalia versteckte sich hinter Freya, als sie den Jungs in das Zimmer folgten, und musterte über Freyas Schulter hinweg die Räumlichkeit. Sie wirkte stilvoll und schlicht elegant – keine Spur überladen. Mitten in dem geräumigen Büro stand ein großer, länglicher Schreibtisch aus Kiefernholz. Dahinter und links daneben deckenhohe Bücherregale aus dunklem Schieferholz, die ein Stück des Raums abtrennten. Eine schwarze lederne Couch auf der rechten Seite war einladend neben dem großen Erkerfenster platziert.

»Hallo, Collin. Ich hoffe, es war alles in Ordnung?«, sagte Julien zur Begrüßung.

»Schön dich zu sehen, Cousin. Ja, in Indien verlief es soweit nach Plan. Habt ihr das Mädchen schon geholt?«, entgegnete Collin.

»Ähm … Amalia ist doch hier.« Julien drehte sich nach ihr um, entdeckte sie aber nicht gleich hinter Freya, da diese größer war.

»Amalia, komm bitte vor«, rief Julien und winkte sie zu sich.

Freya, die Amalias Unsicherheit spürte, nahm ihre Hand und ging mit ihr ein paar Schritte nach vorne.

»Hallo, Mister Jackdaw, das ist Amalia Ried.«

Der junge Mann, den Amalia auf Mitte, Ende zwanzig schätzte, schaute sie eindringlich an und auch sie begutachtete ihn prüfend. Er machte einen gepflegten und seriösen Eindruck, trug Khakihosen und ein blassblaues Hemd, dessen Ärmel ordentlich hochgerollt waren, ein schwarzer Baumwollpullover hing über den Schultern. Amalias Blick verharrte auf seinen Augen. Sie hatten die Farbe von dunklem Honig mit kleinen goldenen Sprenkeln wie Blattgold in einer Sektflasche. Diese Augen wirkten wie die eines Raubtiers, doch seltsamerweise jagten sie ihr keine Angst ein, sondern weckten ein vertrautes Gefühl in ihr, das sie nicht zu beschreiben vermochte. Collins Haare lagen locker auf den Schultern; die Farbe ähnelte Juliens, jedoch eine Nuance dunkler. Ein stattlicher Mann mit einer undurchsichtigen Mimik – ein gutes Pokerface.

»Hallo, Amalia! Ich bin Collin Jackdaw, der Leiter dieser Akademie und Juliens Cousin.« Während er sich vorstellte, streckte er ihr die Hand entgegen.

»Hallo, ich bin Amalia Ried. Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie und schüttelte seine Hand. Er war sehr jung für die Stelle des Leiters. Misstrauisch lauschte sie seinen Worten und beobachtete ihn genau.

»Es tut mir leid, dass ich dich nicht persönlich abholen konnte. Professor Adams ist, wie du bereits weißt, mein Stellvertreter und erledigt solche Aufträge in meinem Namen. Es ist besser, wenn ein älterer Herr sich um die Aufnahme unserer neuen Schüler kümmert. Ich mache das nur in Ausnahmefällen oder um Julien anzulernen.«

Bingo, nicht nur sie schien ihn zu jung für diesen Job zu halten. Aber warum war er dann der Leiter?

»Ich kann mir vorstellen, dass dir einige Fragen auf der Zunge brennen, und ich werde dir sicher ein paar davon beantworten«, erklärte Collin und lächelte sie freundlich an.

»Warum bin ich hier? Ich habe zwar bemerkt, dass die Menschen hier anders sind, aber hinter den Sinn komm ich nicht«, sagte Amalia.

»Die Nightingale Akademie gibt es schon seit langer Zeit. Sie bietet jenen Menschen Heimat, die Dinge wahrnehmen, die anderen verschlossen bleiben. Bei manchen sind es nur Gefühle oder Geräusche, einige wenige – wie du – sind in der Lage, das Übernatürliche zu sehen.«

»Sie meinen diese Kreaturen, die Groohls?«, warf Amalia ein.

»Unter anderem. Die andere Welt ist komplizierter, als du glaubst. Aber keine Sorge, das wirst du lernen – alles zu seiner Zei…«

»Was sind das für Wesen, diese Groohls?«, fiel Amalia ihm ins Wort und Collin schmunzelte.

»Schon seit Jahrhunderten gibt es Menschen, die Dinge aus der anderen Welt wahrnehmen. Durch ihr Wissen, das sie in Schriften aufbewahrt haben, ist uns überliefert, dass Groohls Seelen von Menschen sind, die sich einst weigerten, die Grenze ins Jenseits zu übertreten.

Die Seelen verderben, die Gier nach einem Körper, nach Blut und Fleisch, treibt sie zu den Menschen. Diese Kreaturen tun alles, um von ihnen zu zehren; zuerst nur von ihren Gefühlen und ihrer Energie, bis sie schlussendlich die menschlichen Körper übernehmen und sich von ihnen direkt nähren können. Ich habe das selbst nie gesehen, ich sehe die Groohls nur – so wie du auch – in ihrer abscheulichen, geisterhaften Form.«

»Ich wusste nicht, dass die Groohls so gefährlich sind, sie haben mir nie etwas getan. Ich hatte nur Angst vor ihnen.« Amalia runzelte ungläubig die Stirn.

»Du darfst die Groohls nicht unterschätzen. Sie greifen Menschen nicht direkt an, ausgenommen diejenigen, die sie sehen und bedrohen. Die Groohls nutzen Menschen als Energiequelle, sie zu verletzen würde ihnen nichts bringen. Von dir haben sie sich bisher nicht bedroht gefühlt.«

Amalia lauschte Collins Worten aufmerksam. Sie wollte mehr erfahren und bohrte tiefer:

»Ich verstehe, aber was ist mit dieser anderen Welt gemeint?«

»Das ist eine gute Frage. Dafür gibt es keinen wirklichen Begriff.«

»Also ist es nicht das Jenseits?«, fragte Amalia dazwischen.

»Nein«, sagte er und fuhr fort: »Wir Menschen sind – auch, wenn wir besondere Fähigkeiten haben – nicht in der Lage, das Jenseits zu sehen. Diese andere Welt kannst du dir wie eine Art Parallelwelt zwischen dem Diesseits und dem Reich der Toten vorstellen.«

»Aber …«

»Amalia, für heute ist das genug. Du wirst im Unterricht noch mehr erfahren«, erklärte Collin geduldig. Er brach den Augenkontakt mit ihr und wandte sich Freya zu: »Wie weit ist Amalia mit dem Training? Was kannst du mir über ihre Fähigkeiten berichten?«

Freyas überraschter Gesichtsausdruck war nicht zu übersehen. »Ähm, sie ist noch nicht im Kampftraining, dafür ist es zu früh«, stammelte sie völlig überrumpelt und schielte verunsichert zu Julien.

»Ich entscheide, wann der richtige Zeitpunkt ist und nicht du! Deshalb fangt ihr sofort an! Ihr könnt jetzt gehen.« Collins streng gewordener Blick verlieh seinen Worten Nachdruck.

Völlig überrascht von diesem abrupten Stimmungswechsel starrte ihn Amalia mit großen Augen an. Sie hatte viele weitere Fragen, doch war ihre Kehle wie zugeschnürt, sie brachte keinen Ton hervor. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, wie Freya widerwillig und mit zusammengepressten Lippen nickte. Überdeutlich erkannte sie, dass Freya mit dieser Entscheidung nicht einverstanden war. Jedoch schien dem Leiter ihre Meinung herzlich egal zu sein. Als sich die vier zur Tür wandten, rief Collin: »Julien, bitte bleib noch einen Moment. Ich habe was mit dir zu besprechen.«

Julien drehte sich wieder seinem Cousin zu und setzte sich auf den Stuhl ihm gegenüber. Yato und Freya lieferten sich einen kurzen Blickwechsel und nickten. Sie verstanden einander ohne Worte. Amalia hatte nicht das Gefühl, jetzt schlauer als vorher zu sein, im Gegenteil, diese Begegnung warf nur noch mehr Fragen auf.

»Warum …«

Freya unterbrach Amalia: »Bitte zieh dir Sportkleidung an, wir treffen uns in zwanzig Minuten in der Eingangshalle.«

In ihrem Zimmer angekommen, streifte Freya die Handschuhe ab und betrachtete ihre Hände mit den schwarzlackierten Fingernägeln. Völlig unnötig, denn im Grunde sah diese niemand außer ihr selbst. Aber es gab ihr zumindest ein kleines Gefühl von Normalität. Freya nahm die Bürste, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag, und bürstete ihre hüftlangen Haare. Mit schnellen, gezielten Handbewegungen formte sie ihre Mähne zu einem Dutt. Sie war gerade dabei, die letzte Klammer zu stecken, als es überraschend klopfte. Hastig zog sie die Handschuhe an und eilte zur Tür.

»Hallo, Freya, ich war schon früher fertig«, sagte Amalia und lächelte.

»Hey, ah, wie ich sehe, hast du deine Sachen wieder. Dein Snoopy Top ist niedlich. Komm kurz rein, ich bin gleich fertig«, erwiderte Freya mit einer einladenden Kopfbewegung.

»Ja, ich bin froh, dass ich sie endlich habe. Professor Adams hat mir vorher eine Kiste mit meinen Klamotten gebracht. Meine Pflegeeltern haben leider nicht mal einen Gedanken an meine Bücher verschwendet.« Amalia schielte betrübt zu Boden. »Mich würde es nicht wundern, wenn sie sie einfach weggeschmissen haben.«

Freya musterte sie mitfühlend, dabei fiel ihr auf, dass Amalia ihre Haare in einem unordentlichen Pferdeschwanz trug. Die schwarze Jogginghose war nicht sonderlich eindrucksvoll, nur das rote Top mit dem weißen Hund und seinen schwarzen Schlappohren war ihr sofort ins Auge gestochen und hatte sie zum Schmunzeln gebracht. Neugierig, wie Katzen eben so sind, ließ auch Levi nicht lange auf sich warten, um den Besuch zu inspizieren.

»Oh, wie süß ist der denn! Ich liebe Tiere! Vor allem Katzen und Pferde!«, rief Amalia und nahm die große schwarze Fellexplosion mit dem weißen Fleck auf der Brust hoch. Levi fing sofort zu schnurren an, als Amalia ihn an ihren Oberkörper drückte. Sie bewunderte seine grünen mit kleinen gelben Pünktchen übersäten Augen. Sie glichen einer Wiese, auf die unzählige Sterne hinabgestürzt waren. Freyas Miene verfinsterte sich, als die Katze anfing, sich an Amalias Brüsten zu reiben.

»Du kleiner Perversling!«, schrie Freya, während sie Levi im Nacken packte und durch den Raum warf. Er landete auf dem Bett und versank unter einem Berg von Kissen.

»Oh nein! Freya, er hat doch gar nichts gemacht.«

Augenrollend und mit einem tiefen Seufzer wandte sich Freya ab. »Ich zieh mich um«, murmelte sie und verschwand ins Bad.

Im Badezimmer hatte sie ihre frischgewaschene Sportkleidung schon hergerichtet. Ein weißer Sport-BH und schwarze Leggins. Das Einzige, das fast immer herausstach, waren die Handschuhe. »So, bin fertig!«, sagte Freya, als sie wieder ins Zimmer trat.

Amalia lümmelte neben Levi auf dem Bett, kraulte liebevoll seinen Nacken und musterte Freya neugierig aus dem Augenwinkel.

»Das Tattoo ist sehr schön«, merkte Amalia an und betrachtete es fasziniert. Freyas Oberkörper wurde von einer Rosenranke mit zwei großen und zwei kleinen Blüten geziert. Die Ranke schlängelte sich um ein Hirschgeweih, das sich zwischen Rippen und Leiste auf ihrer linken Seite befand. Ein Teil des schwarzen Tattoos mit weißen Schattierungen wurde von Leggins und Oberteil überdeckt.

»Danke. Und jetzt ab ins Training«, sagte Freya, während sie Amalias Arm umfasste und sie hinter sich herzog. Hastig eilten sie die Treppe ins Erdgeschoss hinunter.

Im Trainingsraum angekommen testete sie zuerst Amalias Ausdauer auf dem Laufband. Diese war natürlich noch verbesserungswürdig, aber nicht katastrophal. Danach sollte sie ihre Stärke gegen den Boxsack unter Beweis stellen. Hier fehlte es, wie zu erwarten war, an Technik und Kraft. Zum Schluss zeigte Freya Amalia ein paar Abwehrmanöver im Nahkampf. Das Hauptaugenmerk lag hier zunächst auf Amalias Beinstellung und Armhaltung, da durch die richtige Position die Trefferfläche für gegnerischen Schläge verkleinert wurde.

»Eine der wichtigsten Abwehrtechniken ist der Unterarmblock nach außen«, erklärte Freya, nahm Amalias Arm und brachte ihn in die richtige Position.

Amalia legte überfordert die Stirn in Falten. »Moment, ich verstehe nicht … Warum muss ich solche Techniken lernen?«

»Du weißt doch, du hast besondere Fähigkeiten und jetzt wollen wir sehen, was du noch kannst«, erklärte Freya.

»Aber wozu?«, schoss Amalia wie aus der Pistole heraus.

Freya schluckte. Ihre Antwort musste wohlüberlegt sein. Noch konnte sie ihr nicht alles erzählen. »Amalia, ich bitte dich, dich jetzt darauf einzulassen, und verspreche dir, dass wir dir zu einem späteren Zeitpunkt alles erklären werden.«

»Okay, was soll ich tun?«, fragte Amalia und nickte widerwillig.

»Versuche einfach, jeden Angriff anzunehmen und dann umzulenken.«

»Aber was mach ich, wenn mein Angreifer ein Messer zieht? Ich habe doch dann keine Chance«, stellte Amalia besorgt fest.

»Du willst sehen, was passiert, wenn mich jemand mit einer Waffe angreift? Dann einen Moment Geduld bitte.« Freya drehte sich um und lief zu einer Kiste. Geschwind kramte sie einen langen hölzernen Dolch heraus. »Nimm und greif mich an!«, rief sie und streckte Amalia die Waffe entgegen. Sie nahm sie zitternd an sich.

»Bist du sicher? Ich soll dich einfach angreifen?«, hakte sie nach.

Freya nickte und winkte sie zu sich. Amalia war unsicher. Es widerstrebte ihr, eine Freundin mit einer Waffe anzugreifen. Doch Freyas entschlossener Blick gab ihr Selbstvertrauen. So zögerte Amalia nicht länger und griff an. Freya wich der Attacke mit einer geschickten Bewegung aus, packte Amalias Arm und schleuderte sie unsanft zu Boden. Es hatte keine drei Sekunden gedauert und Amalia fand sich mit dem Gesicht auf der Matte wieder.

»Ähm … Wie …?« Alles war so schnell passiert, dass sie Freyas Abwehr gar nicht kommen gesehen hatte.

»Ich sah genau, wohin du stechen wolltest. Deshalb konnte ich dem Angriff ausweichen und währenddessen deinen Arm nehmen und dich aus dem Gleichgewicht bringen. Auch wenn dich das jetzt beeindruckt, du darfst nie vergessen, das sind nur Techniken. Denn unter Angst und Stress, bei einem unberechenbaren Gegner, musst du dich auf dein Gefühl verlassen.«

Wieder sah Amalia ihre neue Freundin mit Unverständnis an. Ein bedrohlicher Angreifer würde nur Angst und den Wunsch nach schnellem Weglaufen auslösen. Ganz sicher weckte er keinen versteckten Kung-Fu-Meister in ihr.

»Okay, ich will damit sagen, dass du nicht nur alles abspielen sollst. Training und ein realer Kampf sind zwei völlig verschiedene Welten«, erklärte Freya und half ihr lächelnd hoch. Sie wusste, dass Amalia noch einen langen beschwerlichen Weg vor sich hatte.

»Aber was nützt das Training dann?«, fragte Amalia.

»Du lernst dich und deinen Körper besser kennen. Du erkennst Grenzen und wann es auch mal Zeit ist, aufzugeben.« Freya legte eine Hand auf Amalias Schulter.

»Darf ich dich etwas Persönliches fragen?«

Freya nickte zustimmend.

»Warum trägst du ständig die Handschuhe? Nicht, dass sie dir nicht stehen, aber ich habe das sonst bei niemandem gesehen.«

Freya setzte ein Lächeln auf; sie wusste, dass diese Frage früher oder später kommen musste. »Sie schützen andere vor mir.« Freya schnaufte und griff wieder nach Amalias Arm. »Das Training ist für heute beendet. Wir treffen einander jeden Tag vor dem Unterricht, außer Sonntag. Am Montag hast du zusätzlich Schwerttraining mit Julien und am Dienstag machst du mit Franzel Schießübungen.«

Amalia stöhnte laut auf und verdrehte die Augen. Das konnte noch lustig werden.

Amalia hatte selbst zwei Tage später noch Muskelkater vom Training mit Freya und dennoch zeigte die kein Erbarmen mit ihr. Sie quälte Amalia unerbittlich weiter, auch, wenn sie im Nahkampf fast keine Fortschritte machte. Ihr war schon angst und bange vor den Schwertübungen mit Julien später am Abend. Sie wollte sich nicht ausgerechnet vor ihm blamieren. Seufzend schob sie die deprimierenden Gedanken beiseite und zog sich um. Freya würde jede Sekunde hier sein.

Amalia fischte ein schwarzes T-Shirt mit einem Regenbogenaufdruck aus dem Kleiderschrank. Dazu zog sie eine weiße schlabbrige Jogginghose an. Hochmotiviert – in ihren Träumen vielleicht, in Wahrheit war sie sehr demotiviert – begab sie sich in das anstrengende einstündige Training. Freya legte dabei den Fokus auf ihre Ausdauer, was Amalia deutlich besser gefiel als das Nahkampftraining.

Nach dem Sport gönnte sich Amalia eine erfrischende Dusche und einen kleinen Snack, danach hieß es: ab in den Unterricht. Sie war es nicht gewohnt, so viel Disziplin an den Tag zu legen. Wider Erwarten tat die Routine ihrer Psyche gut und brachte Ordnung in ihre wirren Gedanken.

Jede Unterrichtsstunde lernte sie Neues über Waffen, Geschichte und Seelenkunde. Der restliche Tag verstrich rasant – so kam es ihr zumindest vor. Nach der letzten Stunde blieb Amalia nicht mehr viel Zeit, bevor sie sich mit Julien in der Eingangshalle treffen würde. Schnell kramte sie nach passenden Sportklamotten und zog sich um. Nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, sah sie, wie Yato sich in das von Freya schlich. Es befand sich nur zwei Türen den Gang hinunter. Die beiden geben ein süßes Paar ab, dachte Amalia und setzte ihren Weg ins Erdgeschoss fort.

»Da bist du ja«, rief Julien mit einem freundlichen Lächeln.

»Ha… Hallo«, stammelte sie und schaute zu Boden. Manchmal hätte sich Amalia für ihre schüchterne Art am liebsten geohrfeigt, vor allem bei Männern, die sie attraktiv fand. Schon der Gedanke, mit Julien allein zu trainieren, ließ ihr Herz schneller schlagen und ihr Gesicht erröten.

»Zuerst gehen wir in den Trainingsraum«, wies er sie an.

Amalia nickte heftig. Seine Stimme hatte einen sanften Klang und sie fragte sich, ob es normal war, dass man allein davon eine Gänsehaut bekam. Sie folgte ihm unauffällig und hoffte, sich nicht gleich bis auf die Knochen zu blamieren.

»Hast du schon Erfahrungen im Umgang mit dem Schwert gesammelt?«, fragte Julien, während er die Tür zum Trainingsraum öffnete.

»Wenn Küchenmesser und Holzdolche auch dazuzählen, dann ja«, sagte sie und bemerkte sofort, wie dämlich diese Antwort klang. Julien bemühte sich, die Fassung zu bewahren und nicht laut loszulachen.

»Okay … Wir fangen mit den Holzschwertern an.« Julien drückte ihr ein massives langes Holzschwert in die Hand, das schwerer war, als sie erwartet hätte. »Achte genau auf meine Bewegungen und versuche, sie so gut wie möglich nachzumachen. Zuerst eine einfache Schwertführung«, erklärte Julien, während er einen Ausfallschritt machte und beide Hände um den Griff legte.

»Ja, das bekomm ich hin«, versicherte Amalia und meisterte diese Bewegung annehmbar.

»Super. Dann folgt jetzt der Zwerg.«

Sie sah ihn fragend an.

»Schau mir zu, ich mache es dir vor.«

Darum musste Julien nicht zweimal bitten. Sie studierte jede seiner Bewegungen. Er trat zwei Schritte zurück, führte das Schwert zu seiner Körpermitte und schwang es horizontal mit einem Ausfallschritt nach vorne. Amalia biss sich auf die Unterlippe, als sie sah, wie er hoch konzentriert den Griff verstärkte, sodass die Adern auf seinen Armen zum Vorschein kamen. Ihr Blick folgte jeder Kontur seiner wohlgeformten Muskeln, während er die Bewegungsabläufe ausführte. Sie schüttelte den Kopf. Die Einzelheiten seines Körperbaus waren sicher nicht das, worauf sie achten sollte! Ihre Handflächen fingen an zu schwitzen und sie musste aufpassen, dass ihr das Schwert nicht aus den Händen glitt.

»Und jetzt du«, sagte er und lächelte sie charmant an.

Amalia nickte, war aber sichtlich nervös.

»Damit du ein Ziel hast, stell ich mich vor dich. Tu einfach so, als ob du mich angreifst.« Julien begab sich in Position.

Amalia holte weit aus und machte einen Schritt nach vorne. Leider waren ihre Hände mittlerweile so glitschig, dass sie den Griff nicht mehr festhalten konnte und das Schwert wie ein Bumerang über Juliens Kopf hinwegflog. Er duckte sich gerade noch rechtzeitig, sodass das Holz nur seine Haare streifte.

»Dein Ernst?«, rief er erschrocken und schielte der Waffe nach.

»Es tut mir leid«, entgegnete Amalia mit hochrotem Kopf. Wie peinlich! Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt, um sich in Luft aufzulösen.

»Probieren wir es anders: Ich stelle mich hinter dich und führe dich«, sagte er ermutigend.

Amalia nickte erneut, wusste aber insgeheim, dass das keine gute Idee war. Niedergeschlagen holte sie ihr Schwert. Nachdem sie wieder bei Julien war, fragte sie: »Was soll ich machen?«

»Noch mal die gleiche Übung«, verlangte er, während er seinen Körper von hinten nah an den ihren schmiegte. Amalias Hände zitterten, ihre Herzfrequenz stieg. Eindeutig zu nah! Julien berührte mit der rechten Hand ihre Finger, die den Griff fest umschlungen hielten. Seine linke Hand legte er an ihre Hüfte. Amalia spürte die Nähe seines Körpers, den heißen Atem auf ihrer Haut – was sie nur nervöser machte. Eine Gänsehaut vereinnahmte ihren gesamten Leib, sie war nicht mehr in der Lage sich zu konzentrieren. Als sie gemeinsam Schwung holten, um den horizontalen Schlag auszuführen, rutschte seine Hand zu ihren Rippen hoch. Amalia zuckte und schlug ihm dabei mit voller Wucht ihren Ellenbogen in den Bauch. Julien krümmte sich hinter ihr zusammen.

»Oh, Julien, es tut mir so leid, ich … ich wollte das nicht!«, rief Amalia entsetzt über ihre eigene Reaktion.

»Ist schon okay«, stöhnte er und richtete sich langsam, den Bauch haltend, auf. »Ich denke, das Schwert ist nicht deine Waffe, aber ich wüsste vielleicht was. Bitte warte kurz, ich hole Chris her«, sagte Julien und eilte beinahe fluchtartig zur Tür.

Amalia schaute ihm wie ein Hund, der von seinem Herrchen ausgesetzt wurde, nach. Laut ausatmend sank sie auf die Knie und versuchte, jeden peinlichen Gedanken an das Missgeschick zu verdrängen. Sie wollte vom Erdboden verschluckt oder zum Mond geschossen werden, aber garantiert nicht mit einem anderen Jungen trainieren.

»Aufstehen. Weiter geht’s. Unser Chris hier ist einer der Besten im Umgang mit dem Nunchaku.« Julien war zurück und zeigte auf den braunhaarigen Jungen neben sich, der etwas schmaler und kleiner als er selbst war.

»Was ist denn bitte ein Nunchaku?«, fragte Amalia.

»Na, das hier.« Chris lachte und streckte ihr die Waffe mit den rot verzierten langen Griffen, die mit einer Kette verbunden waren, entgegen.

Amalia nahm das Würgeholz und inspizierte es misstrauisch. »Ich denke nicht, dass das was für mich ist.« Sie gab Chris die Waffe zurück.

»Ach, Quatsch, probier es doch erst mal«, erwiderte der Junge und klopfte ihr Mut zusprechend auf die Schulter.

»Ja, das schaffst du«, bestärkte Julien sie.

Amalia richtete sich seufzend auf und ahmte Chris’ Bewegungen mit dem Nunchaku so gut wie möglich nach, jedoch bekam sie beim besten Willen kein Gefühl für diese Art von Waffe.

Abgelenkt durch abruptes Öffnen der Tür flog ihr das Würgeholz wie ein Wurfgeschoss in diese Richtung davon. Freya wich dem Teil knapp aus, indem sie sich duckte. Dies galt allerdings nicht für Yato, der hinter ihr zur Tür hereinkam und so das Wurfgeschoss zu spät kommen sah. Er schrie laut auf und sackte gekrümmt zusammen. Sein Gesicht war knallrot, als er sich im Schritt haltend auf dem Boden wand.

»Meine Kronjuwelen«, jammerte er in unerträglichem Leid.

Chris kugelte sich vor Lachen, Julien schüttelte nur den Kopf und Freya rief:

»Jetzt stell dich nicht so an, du brauchst die sowieso nicht.« Mitleidig klopfte sie ihm auf den Rücken und kicherte.

Amalia wusste nicht, was sie machen sollte. Sie fühlte sich nutzlos. Warum musste sie diese Prozedur über sich ergehen lassen? Jeder Blinde sah, dass sie zu nichts taugte und keinerlei Talente besaß, besonders im Umgang mit Waffen. Vor lauter Verzweiflung stürmte sie an den anderen vorbei und rannte wie von Sinnen, bis sie atemlos in ihrem Zimmer stand. Sie zitterte am ganzen Leib. Amalia ballte die Hände zu Fäusten und grub ihre Nägel in die Handflächen. Sie schäumte vor Wut und eine Welle aus Scham überkam sie. Sich blamieren, das beherrschte sie, sei es in der Schule oder vor ihrer Pflegefamilie. Nie machte sie es jemandem recht. Amalia erinnerte sich noch sehr gut an das erste Referat, das sie vor der Klasse hatte halten müssen, bei dem sie keinen zusammenhängenden Satz hervorbrachte und ihre Mitschüler sie gnadenlos auslachten.

Zornig warf sie sich auf das Bett, drückte ihr Gesicht ins Kissen und schrie. Sie brüllte so laut, sie konnte. Die weichen Daunen dämpften ihre Stimme und sie fühlte sich augenblicklich zurückversetzt in die Zeit bei ihren Pflegeeltern. Das war schon immer ein Ventil, um ihre Gefühle hinauszulassen. Sie schrie, bis die Stimmbänder versagten.

Amalia fühlte sich außen vor. Es war, als würde sie nur ein Puzzleteil in der Hand halten, ohne das große Ganze zu sehen. Wohin gehörte sie? Zweifel keimten in ihr auf. War dies doch nicht der richtige Ort für sie? Die Menschen hier kannte sie nicht, sei es die rastlose Freya oder der undurchsichtige Julien und natürlich der Möchtegern-Cowboy mit deutsch-japanischem Namen. Amalia hatte genug von alledem, sie musste hinaus, etwas anderes sehen, bevor sie ihre düsteren Gedanken wieder einholten und in die Leere zogen. Sie wusste, wozu sie fähig war. Angst stieg in ihr auf, Angst die Klinge ein weiteres Mal in die Hand zu nehmen und die alten Wunden wieder zu öffnen. Sie schlug die Fäuste gegen das Kopfkissen und richtete sich unter Tränen auf. Die Erinnerung traf sie wie eine Welle und trug sie mit sich. Amalia spürte das Blut über ihre Haut rinnen, das Gefühl, wie ihr Körper sich wehrte und schließlich eine innere Ruhe, wie im Auge des Tornados, alles im Einklang. Die Bilder aus der Bibliothek mischten sich unter ihre Erinnerung an den Selbstmordversuch. Blut, sie roch es, sie sah es, sie würde darin ertrinken. Erschrocken schüttelte sie den Kopf. Hastig sprang sie auf und rannte ziellos aus ihrem Zimmer, egal wohin, nur weg von diesen Gedanken. Immer wieder schloss sie die Augen, hörte ihren rasenden Herzschlag, fühlte ihre bebenden Muskeln und spürte ihren gehetzten Atem.

Plötzlich streifte sie ein lauer Windhauch. Blinzelnd sah sie sich um, sie war im Innenhof.

Der rechteckige, weitläufige Platz wirkte malerisch, trotz der hohen Wände aus Backstein, die ihn umgaben. Der Rasen war gepflegt und die niedrige Hecke, die den Kiesweg flankierte, ordentlich geschnitten. Ein kleiner, einladender Pavillon aus dunklem Holz, an dessen Pfeilern sich Rosenranken schlängelten, zog Amalia magisch an. Sie schritt den Kiesweg entlang, Grillen zirpten klangvoll und begleiteten ihren Gang. Der Wind pfiff sanft durch das Holz des Pavillons und wiegte die Äste der Trauerweide im Wasser des Teichs dahinter. Die Abendsonne tauchte das kleine Paradies in dunkles Rot. Kois in verschiedenen Farben tummelten sich in dem großen Teich. Wie hypnotisiert schaute Amalia dem regen Gewusel im Wasser zu. Warum? Wozu das Waffentraining? Hing das mit den Groohls zusammen? Seufzend ließ sie sich auf dem kleinen Bänkchen im Pavillon nieder.

Unter unvorstellbaren Qualen raffte Yato sich wieder auf. Kurz nachdem Amalia sich auf und davon gemacht hatte, setzte sich Freya zu Julien, der sich bereits auf den Boden bequemt hatte. Beide lehnten an der Wand und unterhielten sich.

»Oh, ich kann das Leiden Christi nicht länger mitanschauen. Jetzt krieg dich mal wieder ein!«, rief Freya genervt.

»Du hast keine Ahnung, wie Mann sich da fühlt.« Yato blickte sich wehleidig um. »Wo ist sie hin?«

»Schon vor einer Weile gegangen, so wie Chris ebenfalls.« Julien kreuzte die Beine zum Schneidersitz.

»Was? Das gibt Rache! Sie hat sich nicht einmal entschuldigt!«, motzte Yato und lief gekrümmt zu den anderen.

»Jungs, euch ist schon klar, dass Amalia keine Erfahrung mit Waffen hat. Und habt ihr Mal daran gedacht, dass sie die ganze Situation überfordert?«, merkte Freya an. Schweigen legte sich über die kleine Gruppe. Der Gedanke an Rache verflog mit Freyas Worten. Yato erinnerte sich gut an seine Anfangszeit an der Akademie. Ohne Freya und vor allem Julien hätte er das nicht überstanden. Die Narben der Vergangenheit schmerzten ihn noch immer. Ein Schmerz, der nie vergehen würde. Zwar hatte er im Gegensatz zu Julien, Amalia und Freya seine Eltern noch, doch auf sie konnte er sich schon lange nicht mehr verlassen.

»Ich versteh das. Ihr wisst, wie es bei mir war …« Er kniete sich vor Julien und Freya und umarmte die beiden.

»Ich weiß, du warst ein noch größerer Tölpel«, wisperte sie liebevoll und strich ihm über den Hut. Yato ließ sich vor ihnen im Schneidersitz nieder.

»Denkt ihr, sie schafft das?«, fragte Julien in die Runde.

»Mag sein und wenn nicht, bleibt sie eben nur eine Schülerin«, meinte Yato.

»Mh, ich bin mir nicht sicher, ob sie in das Team passt.« Julien wirkte nachdenklich.

»Das muss sie doch auch nicht oder war es das, was du gestern noch mit deinem Cousin besprochen hast?«, fragte Yato unterschwellig und warf Freya einen verstohlenen Blick zu.

»Ja, also … ähm … er hat so was angedeutet und äh … meinte, dass sie Potenzial hat«, stammelte Julien und wirkte, als ob er sich um Kopf und Kragen redete.

»Das wird sich zeigen. Warten wir ab«, meinte Freya und legte ihren Arm auf Juliens Schulter.

»Ach, Amalia braucht nur einen guten Trainer, dann klappt das auch«, stellte Yato klar und zeigte mit dem Daumen auf sich. Freya und Julien kräuselten skeptisch die Stirn.

»Was willst du damit sagen?« Sie ballte ihre Hand drohend zur Faust.

»Ich mein ja nur. Manche Menschen eignen sich eben nicht fürs Unterrichten«, antwortete der Halbasiate hochnäsig.

»Ich glaube, da möchte jemand kastriert werden. Bist du dabei Julien?«, flüsterte Freya und schielte verschwörerisch zu ihm.

Julien nickte: »Wie du schon sagtest, er braucht sie eh nicht.«

»Ihr Psychos. Ihr seid das Böse!«, rief Yato, während er aufstand und zum Ausgang rannte, als würde sein Leben oder eher seine Männlichkeit davon abhängen. Er hörte das schadenfrohe Lachen der beiden noch, nachdem er bereits den Raum verlassen hatte. Ein Schmunzeln konnte er sich beim besten Willen doch nicht verkneifen; er liebte die zwei Chaoten.

Auf dem Weg zu seinem Zimmer sah er durch das große Erkerfenster bei den Treppen Amalia im Innenhof. Er hielt einen Moment inne. Sie wirkte traurig, so zusammengekauert im Pavillon sitzend. Eigentlich wollte er sie ignorieren und weiter zu seinen Räumlichkeiten im zweiten Stockwerk gehen, doch Freyas Worte hallten in ihm wie ein Echo immer noch nach. Immerhin hatte er seine Freunde, aber wen hatte sie? Yato rollte die Augen, kehrte auf dem Absatz um und marschierte in den Innenhof. Er seufzte tief als er das einsame, traurige Mädchen sah. Es wirkte wie im Märchen: Bittersüß, wie sie auf dem Bänkchen im Pavillon saß, umgeben von einem Meer aus Rosen.

Der Halbasiate lief langsam mit einem zaghaften Lächeln auf sie zu und setzte sich neben sie. Ohne darüber nachzudenken, legte er einen Arm um Amalia. Erschrocken blickte sie ihn an und er zog ihn ruckartig wieder zurück.

»Hey, mach dir keine Sorgen. Das wird alles. Du wirst sehen, das Schießtraining mit mir wird klasse. Und davor zeigt dir Hannah den Umgang mit den Wurfsternen und Messern«, flüsterte Yato.

»Wer ist Hannah?«, wollte Amalia wissen und fühlte sich langsam wohler in seiner Nähe.

»Das blonde Miststück, das Julien immer anschmachtet. Du hast sie bestimmt schon in der Kantine gesehen«, antwortete er.

»Toll. Das kann ja dann nur super werden«, zischte Amalia sarkastisch und verzog das Gesicht.

»Glaub an dich. Das wird. Außerdem kannst du sie ja aus Versehen mit einem Wurfstern treffen, wenn sie dich nervt. Natürlich wirklich unabsichtlich!« Yato lachte und legte ihr die Hand auf die Schulter; diesmal schien ihr die Berührung nicht unangenehm zu sein.

Amalia schloss sich seinem Lachen an. »Danke Yato, es tut gut mit dir zu reden. Wie ist das mit deinem Namen? Du stammst doch aus Deutschland, oder? Wieso willst du nur Yato genannt werden?«

Er lächelte und strich sich die Haare aus der Stirn. »Franz-Yato ist zwar mein kompletter Name, das hat man eben von einer deutschen Mutter und einem japanischen Vater, die sich nicht einig werden konnten.« Er kicherte. »Aber ehrlich, wer will schon so genannt werden? Freya ist die Einzige, die spaßeshalber Franzel sagt.« Yato verdrehte die Augen.

»Könntest du es ihr nicht verbieten, dich so zu nennen, wenn dir das nicht gefällt?«, fragte Amalia und stutzte.

»Äh, was denkst du denn? Im Leben nicht. Aber was ist mit deinem Namen? Er klingt auch sehr deutsch«, merkte er an.

»Ich weiß es nicht. Also, ich kann mich an viele Dinge aus meiner Vergangenheit nicht mehr erinnern. Der Kinderpsychologe meinte, dass es sich um eine Art Trauma handle. Ich weiß nur, dass ich aus Großbritannien stamme und meine Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen sind und es keine weiteren Verwandten gibt. Deshalb kann ich dir zu meinem Namen nichts sagen.«

»Mh, wir sollten jetzt gehen, so langsam wird es kalt«, lenkte Yato gekonnt ab. Zudem hatte er ihre Gänsehaut an den Armen bemerkt.

Amalia nickte schüchtern. »Begleitest du mich noch bis zu meinem Zimmer? Und … ähm … tut mir leid, wegen vorhin.«

»Ja, gerne. Ist schon vergessen«, erwiderte er, während er aufstand und ihr die Hand reichte.

Das Gespräch mit Yato hatte Amalia sichtlich gutgetan. Am Morgen darauf joggte sie motiviert eine große Runde mit Freya um das Kloster. Danach sprang sie schnell unter die Dusche, um sich für den Unterricht frisch zu machen. Die Unterrichtsstunden vergingen wie im Fluge. An diesem Tag wollte sie sich ausnahmsweise nicht mit den anderen zum Mittagessen treffen, da ein Mädelsabend mit Freya und Pizza geplant war.

Nach der letzten Stunde beeilte sich Amalia, denn sie hatte nur noch wenige Minuten bis zum Treffen mit Hannah im Trainingsraum. Rasch nahm sie ihre Sportklamotten vom Stuhl und zog sie an. Dann schnappte sie einen Apfel, von ihrem Schreibtisch und machte sich eilig auf den Weg.

»Du bist zwei Minuten zu spät«, sagte Hannah, die missmutig an der Tür des Trainingsraums lehnte.

»Es tut mir leid. Ich habe mich noch umgezogen«, erklärte Amalia und stopfte sich das Obst in den Mund.

»Egal, lass uns gehen, wir müssen ein Stück in den Wald laufen«, knurrte das Mädchen und warf die schulterlangen blonden Haare zurück, sodass die große Nase besser zur Geltung kam. Wenn sie jetzt noch einen Höcker hätte, wäre es eine klassische Hexennase.

»Warum trainieren wir nicht hier?«, fragte Amalia und gönnte sich einen weiteren Bissen von ihrem Snack.

»Tust du nur so dumm oder bist du es wirklich? Zieht die Masche bei Julien?«

Erschrocken über Hannahs Worte fiel Amalia der Apfel aus der Hand und kullerte auf den Boden. Traurig blickte sie ihm nach.

»Wir würden die Wände kaputtmachen, wenn wir hier trainierten. Deshalb gibt es im Wald ein spezielles Trainingsareal für die Wurf- und Schusswaffen. Und jetzt komm«, befahl sie und rempelte Amalia beim Vorbeigehen an. Die ballte ihre Hände zu Fäusten. Hannahs Art machte sie rasend vor Wut und zu allem Unglück war auch noch ihr Apfel dahin.

Wie sollte sie eine Stunde mit ihr und knurrendem Magen überstehen? Vielleicht könnte sie ihr ja wirklich aus Versehen ein Wurfmesser an den Kopf feuern, dachte sich Amalia, während sie widerwillig hinter ihr hertrottete. Nach einem kurzen, steilen, steinigen Stück kamen sie an einer kleinen Lichtung an. Dort waren Ziele aufgestellt: Dosen, Markierungspunkte an Bäumen und klassische Zielscheiben.

»Unsere Ziele sind nur die Stämme – zu Beginn zumindest. Aber mach dir keine falschen Hoffnungen, du wirst nie so gut sein wie ich. Du musst wissen, in meinen Adern fließt das Blut der Shinobis«, sagte Hannah so arrogant, dass sich Amalia der Magen umdrehte.

Wovon träumst du nachts? Nie im Leben hast du asiatische Wurzeln. Du eingebildete Kuh!, hätte sie ihr am liebsten an den Kopf geschmissen. Sie schäumte vor Wut.

»Gib mir jetzt so einen Wurfstern«, brummte Amalia und riss Hannah einen aus der Hand. Dabei verletzte sie die Blondine leicht am Zeigefinger.

»Aua! Das hast du mit Absicht getan.« Hannah hielt sich theatralisch den Finger.

»N…nein! Ich wollte dich nicht verletzen«, stammelte Amalia und begutachtete die kleine Schnittwunde.

»Gut, du willst gleich loslegen, dann bitte.« Hannah feuerte zwei Wurfmesser mitten in die roten Markierungen. »Und jetzt du!«, kommandierte sie.

Für Amalia war es das erste Mal, dass sie eine solche Waffe in der Hand hielt, sie wusste nicht, wie sie sie werfen sollte. Und da Hannah keine Anstalten machte, es ihr zu zeigen, tat sie es wie mit einem Frisbee. Leider verfehlte sie das Ziel und der Wurfstern landete im Gras.

»Hab ich mir schon gedacht. Na los, hol die Waffen, meine auch. Ich hoffe, du hast genug Kraft, sie aus dem Baum zu ziehen«, sagte Hannah herablassend und lachte.

Augenrollend machte sich Amalia auf den Weg, die Wurfmesser und den Stern zu holen. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie die kleine silberne Waffe auf dem Boden. Als sie das erste Wurfmesser aus dem Baum zog, flog ein Wurfstern haarscharf an ihrer Wange vorbei und blieb neben ihr stecken.

»Spinnst du? Was soll das?« Amalia drehte sich panisch zu Hannah.

»Der Nächste trifft!«, rief die Blondine mit drohender Stimme.

Angst stieg in Amalia auf und das Herz schlug ihr bis zum Hals. Meinte die es tatsächlich ernst? Dann ging alles sehr schnell. Sie sah, wie Hannah zum Wurf ausholte und schloss reflexartig die Augen. Fast im gleichen Augenblick hörte sie einen Schuss und ein klirrendes Geräusch. Während das Echo noch in ihren Ohren hallte, öffnete sie zaghaft die Lider und sah Yato neben sich stehen.

»Hast du Schlitzauge meinen Wurfstern abgeschossen?«, schrie Hannah verärgert.

»Ist das dein Ernst? Du willst von den Shinobis abstammen und nennst ihn Schlitzauge?«, brüllte Amalia entsetzt. Sie zitterte am ganzen Körper und um sich zu beruhigen, atmete sie tief ein und aus.

»Was? Dass ich nicht lache. Die und ein Ninja? Haha, mach dich nicht lächerlich. Und Hannah, du solltest jetzt besser gehen! Ich wette, Julien und seinen Cousin interessiert dieser Vorfall brennend«, zischte Yato provokant.

»Oh, Amalia, es wird nicht immer jemand da sein, um dich zu beschützen«, keifte Hannah und verschwand in den Wald.

Erleichtert sank Amalia auf die Knie. Sie verstand nicht, warum sie immer so aneckte.

»Was habe ich ihr getan?«

»Du atmest«, erwiderte er ironisch und steckte seinen Revolver in das Gürtelholster, das er an der Hüfte trug. »Nein, wirklich, du musst ihr nichts tun, damit sie dich nicht leiden kann. Sie ist einfach eine Bitch. Komm, machen wir weiter«, sagte er und half ihr hoch.

Amalia nickte und konnte ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Sie war Yato dankbar. Er kannte sie kaum und doch hielt er zu ihr und schaffte es, sie aufzumuntern.

»Danke«, flüsterte Amalia, während er sie zu den Schießständen führte.

Yato drehte sich zu ihr und lächelte. »Wir machen heute nur ein paar kleine Schießübungen, nichts Dramatisches. Ich habe verschiedene Waffen mitgebracht. Ich denke, die Neunmillimeter ist ganz gut für den Anfang.«

Yato gab Amalia eine schwarze Handfeuerwaffe. Sie war schwerer, als sie zunächst vermutet hatte. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, eine Schusswaffe abzufeuern. Prüfend musterte sie die Pistole und konnte sich nicht erklären, warum, aber es fühlte sich nicht richtig an.

»Es ist wichtig, dass du diese Waffe mit beiden Händen hältst. Deine Schusshand muss die Pistole am Griff so weit oben wie nur möglich festhalten. Es darf keinen freien Raum nach oben geben. Dein Zeigefinger legt sich vorne um den Abzugsbügel.«

Amalia verstand nicht, was er meinte, doch er fuhr unbeirrt fort. »Mit der anderen Hand, in deinem Fall der linken, schließt du die Lücke zwischen Fingerspitzen und Handballen der rechten Hand am Griff.« Yato, der endlich bemerkt hatte, dass sie ihn wie ein Fragezeichen anstarrte, führte ihre Hände in die richtige Position.

Ihre Finger zitterten, ihr Puls raste und Schweißtropfen bildeten sich auf ihrer Stirn. Diesmal würde sie nicht versagen.

»Schau mit beiden Augen gleichzeitig direkt über den Lauf auf dein Ziel, einfach mittig den Aufsteller anvisieren. Es ist nicht nötig, auf einen bestimmten Teil zu zielen. Er ist so groß, du triffst auf jeden Fall«, ermutigte er sie.

Yato wusste, dass er der perfekte Lehrer war. Freya und Julien hatten doch keine Ahnung: Er war der Meister des Erklärens. Yato sah es bereits vor sich, wie ihn der Schulleiter zu sich rief, da er sein großes Potenzial erkannt hatte, und den Cowboy bat, neue Schüler zu trainieren. Nein, das war noch nicht alles: Collin würde sogar darum betteln, dass er auch den theoretischen Unterricht in Waffenkunde abhielt. Bescheiden, wie er war, konnte er natürlich nicht beides annehmen. Aber den Titel ›Lehrmeister der Schusswaffen‹ würde er dankend entgegennehmen.

Währenddessen stand Amalia stocksteif und hoch konzentriert vor dem Ziel. Treffen, egal was, das war die Devise. Zögerlich betätigte sie den Abzug.

Der Rückstoß und der laute Knall des Schusses ließen sie erschaudern. Verzweifelt suchte sie die Einschussstelle.

»Okay … Du hast es also doch geschafft, das knapp zwei Meter große Ziel zu verfehlen«, sagte Yato ungläubig und seine Träume zerplatzten wie Seifenblasen.

Mit dem Finger am Abzug der Waffe drehte sich Amalia hastig zu ihm um und diesem Moment löste sich ein Schuss. Yatos Hut flog durch die Luft und landete im Gras.

Einen Augenblick lang starrten die beiden einander und dann den Hut geschockt an.

»Wie? W…wo?« Yato blickte sich verwirrt um und hob hektisch seinen Hut vom Boden auf. »Mein Hut, du, du hast ihn erschossen!«, rief er nahezu weinerlich und schaute Amalia mit einem Auge durch das Einschussloch in der Hutkrempe an.

»Es tut mir leid!«, kreischte sie und ließ die Waffe fallen. Dabei löste sich ein weiterer Schuss, der Yato nur knapp verfehlte.

»Willst du mich umbringen?«, brüllte er aufgebracht und sah sich anstatt hochgelobt in Collins Büro, durchsiebt auf der Krankenstation.

»N…nein. Oh, es tut mir so leid. Warte, ich hebe die Waffe wieder auf.«

»Nein! Fass sie nicht an.«

Amalia zuckte bei Yatos Gebrüll zusammen und erstarrte. In Windeseile griff er nach der Waffe und entfernte sich einen Schritt von Amalia. Sie sah die Ungläubigkeit in seinem Gesicht; ein Ausdruck, den in ihrer Gegenwart die meisten Menschen bekamen.

»Es tut mir leid«, flüsterte sie, wirbelte herum und rannte davon.

Als Freya sie in der Eingangshalle der Akademie lauthals begrüßen wollte, stürmte Amalia wortlos an ihr vorbei und flog dabei fast die Treppen nach oben. Mehrfach stolperte sie auf ihrem Weg und hielt sich immer wieder am Geländer fest.

»Oh, ist wohl nicht so gut gelaufen.« Freya hätte wetten können, dass sie nicht heil oben ankam, eher gleich wieder herunterkugelte.

»Schau dir das an! Mein Hut ist hinüber«, jammerte Yato, der atemlos die Eingangshalle betrat.

»Tja, du bist wohl doch nicht ein so guter Lehrer, wie du dachtest«, lachte Freya triumphierend und eilte Amalia nach.

Keuchend schlug Amalia ihre Zimmertür zu. Wieder ballte sie die Hände zu Fäusten, bis ihre Nägel sich ins Fleisch bohrten – auch eine Art Ventil. Schmerz gesellte sich zu ihrer Enttäuschung. Wutentbrannt rauschte sie ins Badezimmer. Sie drehte die Dusche auf und zog sich geschwind aus. Erst genoss sie das warme Wasser und spürte jeden Tropfen auf ihrer Haut, doch dann schaffte die dampfige Atmosphäre erneut Raum für ihre depressiven Gedanken.

Amalia fühlte sich völlig fehl am Platz. Warum verlangten sie das ausgerechnet von ihr? Sie war nichts Besonderes. Das Einzige, was sie ausmachte, war es, Dinge zu sehen, die den meisten Menschen verborgen blieben. Doch das konnten hier auch andere und sie würde wohl wie eine Sternschnuppe in der Masse verglühen.

Das Klopfen an der Zimmertür riss sie aus ihrer Grübelei und katapultierte sie in die grausame Realität.

»Moment! Ich komme«, brüllte Amalia und wickelte sich schnell ein Handtuch um. Noch bevor sie einen Schritt aus dem Bad tun konnte, stand Freya auch schon vor ihr und rief:

»Hopp, hopp, mach dich fertig Yuri bringt uns gleich die Pizza.«

Amalia starrte sie völlig perplex an. Sie sollte wohl endlich mal ans Abschließen ihrer Zimmertür denken. Etwas verwirrt folgte sie Freya, die sofort eifrig in Amalias Kleiderschrank wühlte und wahllos einige Klamotten herauszerrte. »Äh, Freya, was machst du da?« Amalia flog ein graues Strickkleid ins Gesicht.

»Dir etwas zum Anziehen raussuchen, wovon ich keinen Augenkrebs bekomme. Und das ist doch gut.«

»Danke, wie nett von dir.« Murrend watschelte sie ins Bad zurück und zog sich an. Sie musste schmunzeln; Freyas Art machte es ihr unmöglich, weiterhin an ihren negativen Gedanken festzuhalten. Im Gegenteil: Ihre Euphorie schien Amalia regelrecht mitzureißen. Kaum hatte sie einen Fuß vor die Badezimmertür gesetzt, schleifte Freya sie auch schon in ihr Zimmer.

Amalia machte es sich sofort auf Freyas Bett bequem und nahm Levi, der auf dem Kissen schlief, in ihre Arme. Gerade als sich Freya zu ihr setzen wollte, klopfte es. Augenblicklich war die quirlige Brünette an der Tür und öffnete.

»Ich habe Pizza.« Yuri, der Hausmeister reichte Freya zwei Kartons und musterte sie dabei mit seinen schmalen hellblauen Augen.

»Danke, Yuri. Du hast was gut bei mir.«

Verlegen strich er sich über die grau-weißen, kurzen Haare und verzog den breiten Mund zu einem Lächeln.

Freya griff nach den Pizzen, drehte sich um, schlug mit dem Fuß die Tür zu und legte die Kartons auf den Schreibtisch.

Amalia langte sofort gierig nach einem der Kartons.

»Warte noch!« Freya haute ihr tadelnd auf die Finger.

»Auf was? Ich hab Hunger!«

»Wirst du gleich sehen.«

Und tatsächlich sah Amalia, wie Freya unter das Bett kroch und feierlich zwei Sektflaschen emporhob.

»Was wäre ein Mädelsabend ohne ein bisschen Fusel«, lachte sie und köpfte eine der Flaschen. Die andere stellte sie auf dem Schreibtisch ab.

Amalia, die bis dahin noch nie Alkohol getrunken hatte, gewöhnte sich schnell an den prickelnd-süßlichen Geschmack. Angeregt unterhielten sich die Mädchen, während sie die Pizzen verspeisten und den Sekt leerten, den sie direkt aus der Flasche tranken. Erst als Amalia aufstand, um ins Badezimmer zu gehen, spürte sie ein flaues Gefühl im Magen und einen leichten Schwindel.

Doch als sie wieder zurückkam, empfing Freya sie bereits mit der zweiten Flasche. Angeheitert ließ sich Amalia erneut auf dem Bett nieder und trank munter weiter. Plötzlich kippte bei ihr die Stimmung, die negativen Gedanken bahnten sich ihren Weg zurück. Betrübt starrte sie die Katze an und hatte das Bedürfnis gleich in Tränen auszubrechen.

»Hey, Amalia, was ist los?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts.«

»Ach, komm, jetzt spuck es aus. Ich seh doch, dass was ist.« Freya stupste sie mit dem Ellbogen in die Rippen.

»Ja, es gibt tatsächlich ein paar Fragen, die mich umtreiben«, sagte Amalia erleichtert.

»Dann schieß los!«

»Also, wie habt ihr mich gefunden?«, wollte Amalia wissen und stützte das Kinn auf ihre Hände.

Freya schürzte die Lippen. »Wir haben überall unsere Spitzel. Bei der Polizei, im Gefängnis und eben auch in der Psychiatrie.« Sie strich sich nachdenklich mit dem Zeigefinger über die Schläfe. »Ich glaube, bei dir waren es Doktor Jones und Schwester Nancy. Sie informieren uns, wenn sie denken, dass es sich um Menschen mit besonderen Fähigkeiten handeln könnte. Und wir überprüfen das.«

Amalia starrte Freya mit großen Augen an, nun wurde ihr schlagartig einiges klar, vor allem Nancys Worte und Doktor Jones’ vermeintliches Desinteresse und sein ständiges Beobachten.

»Aber jetzt mal was anderes. Dir gefällt Julien, stimmt’s?«

Amalia wurde bei Freyas Frage rot und senkte peinlich berührt den Kopf. »N…nein. Also, ich … Er ist ganz nett«, gab sie verlegen zu.

Freya lachte. Sie wusste es genau, war sie ja nicht blind.

»Ach komm, ich zieh dich doch nur auf. Wem gefällt Julien nicht? Er ist wie der nette, hübsche Junge von nebenan«, kicherte Freya und bohrte weiter nach: »Hattest du eigentlich schon mal einen Freund?«

Amalia war entgangen, wann das Frage-Antwortspiel sich geändert hatte, doch nun war sie im Kreuzverhör.

»Nein … ähm … nicht wirklich. Ich habe nicht viel Erfahrung mit solchen Dingen, außer Küssen habe ich noch nichts gemacht.« Sie bemerkte Freyas erstaunten Gesichtsausdruck und versuchte, sich zu erklären: »Nicht, weil ich nicht wollte, aber mein Pflegevater und dessen Sohn machten es mir unmöglich, Beziehungen aufzubauen. I…ich kann mit der Nähe von Jungs nicht gut umgehen.« Amalia schämte sich für ihre Unerfahrenheit und Unsicherheit gegenüber Männern. Freya wirkte so reif und schien auch mehr Erfahrung als sie zu haben.

»Okay, aber jetzt ich wieder. Nimmst du die Handschuhe ab, wenn du was mit einem Jungen hast?«

»Nein, nie. Das war eine Bedingung von Collin und es ist besser so.« Freya schnappte Amalia die Flasche aus der Hand und trank einen großen Schluck. Amalia verstand den Wink, kein gutes Thema und wechselte das Gesprächsthema.

»Du, Freya, wie ist dieser Collin Jackdaw so?« Ihre erste Begegnung war seltsam gewesen und hatte einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen. Ihn umgab eine merkwürdige Aura.

»Mh, Collin. Eine Medaille mit zwei Seiten. Solange du tust, was er sagt, wirst du keine Schwierigkeiten mit ihm bekommen. Nur widersprich ihm besser nicht.« Freyas Miene verhärtete sich; sie schien bereits Erfahrungen damit gemacht zu haben.

Nachdem die Mädels die zweite Flasche bis zur Hälfte geleert hatten, löste sich Amalias Zunge und wie aus einem Geysir brach es aus ihr heraus: »Aber jetzt kannst du mir sagen: Warum muss ich das eigentlich alles machen? Ich tauge nicht einmal für eine Waffe und die meisten aus meiner Klasse gehen nur zum Unterricht, die haben kein spezielles Training.«

»Nein. Hier trink und hör auf zu jammern.« Freya reichte ihr den Sekt. »Wir mussten da alle durch. Klar hatten wir mehr Zeit, aber unser lieber Obermeister Collin hat scheinbar einen Narren an dir gefressen und möchte dich so schnell wie möglich fit für die Aufträge bekommen.« Freya verdrehte die Augen. »Du hast keine Ahnung, wie sehr mir dieser Typ auf die Nerven geht. Ich würde ihm gerne im Schlaf die Haare abrasieren.«

Amalia sah sie entgeistert an. »Wie? Wovon redest du? Und was für Aufträge? Und was ist mit seinen Haaren?« Sie verschluckte sich fast am Sekt, den Freya ihr gereicht hatte. Womöglich lag es am Alkohol, dass sie keine richtigen Zusammenhänge mehr knüpfen konnte. »Oh, Freya, ich bin so deprimiert.« Amalia stellte die Flasche zwischen ihren Beinen ab und vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Ich bin ein Nichtsnutz, ich weiß nicht, was Herr Akademieleiter alias Ich-sehe-aus-wie-ein-surfender-Golfspieler von mir will.« Langsam drehte sich alles um sie herum.

»Ach, Quatsch, das wird.« Freya legte eine Hand auf ihre Schulter. »Ich weiß zwar nicht, weshalb das bei dir so schnell gehen muss, aber mit einem hat er ganz klar recht: Wir brauchen deine Fähigkeiten in unserem Team. Glaube ich zumindest. Oder Collin steht einfach auf dich. Ah nein, dummes Zeug, der hat doch Kyuu«, lachte Freya und stupste sie erneut mit dem Ellenbogen an. »Ähm … Warum zum Teufel hältst du dir ein Auge zu?« Sie beugte sich zu Amalia und fiel dabei fast vom Bett.

»Was für Fähigkeiten? Wer ist eigentlich diese Kyuu? Die aus der Bibliothek, oder? Ah, sonst sehe ich dich doppelt und es dreht sich eh schon alles«, lallte Amalia und griff seufzend zur Sektflasche.

Freya brach in einen nicht enden wollenden Lachanfall aus. Ihr flossen die Tränen und sie hielt sich den Bauch.

»Ach, Kyuu ist Lehrerin, Bibliothekarin, vermutlich Collins Geliebte und einiges mehr …«

»Waaaas? Hey, das ist nicht witzig.« Amalia fixierte sie mit einem Auge. »H…hast du eigentlich schon viel Erfahrung mit Jungs? Woher kommt die zweite Katze?« Sie gluckste und schielte zu Levi, der allein vor ihr saß.

»Was? Ich weiß, Levi ist etwas übergewichtig, aber gleich zwei? Nein, sei nicht so gemein zu ihm. Ja, ich genieße und habe gerne meinen Spaß mit Jungs. Aber ich würde nicht mit jedem in die Kiste springen. Na ja, mein Leben war und ist ein einziger Scherbenhaufen. Aber was soll’s, wir leben nur einmal.«

»Vielleicht kommt bald jemand und setzt die Scherben zusammen.« Bescheuert, warum sagte sie so etwas? Amalia kam sich vor, als würde sie Freya aus einem kitschigen Jugendroman vorlesen und dabei hatte sie doch Yato.

»Ugh, Amalia ich muss gleich kotzen! Was für schnulziges Zeug redest du da? Aber ich habe da eine Idee: Ich schreibe Julien, damit du heute Abend noch mehr Spaß hast.«

»Nein.«

»Zu spät. Schon abgeschickt.«

Julien und Yato saßen im Zimmer des Cowboys und schlachteten eifrig Zombies auf der Konsole ab.

»Yato, mach mal kurz Pause, mein Handy vibriert.« Julien legte den Controller beiseite und zog sein Smartphone aus der Hosentasche. Er starrte verdutzt auf das Display und murmelte die Worte: Julien kommt in meub ziemlich Amalia und ich warten auf dich. Amalia isr breit willkürlich. Lass dein Oberteil weg. Are, vor sich hin.

»Oh, das klingt nach einer heißen Nacht.« Yato klopfte ihm lachend auf die Schulter.

»Ha ha. Komm, schauen wir nach den Mädchen.«

»Nein, nein, das ist dein Job. Ich habe Angst vor Freya, wenn sie getrunken hat.« Yato verneinte kopfschüttelnd.

»Keine Widerrede.« Julien packte seinen Freund am Arm und schleifte ihn hinter sich her.

Kurz darauf traten die beiden jungen Männer in Freyas Zimmer ein und fanden die Mädels irgendwelche Songtexte grölend auf dem Bett.

»Okay, ihnen geht’s gut, wir können wieder gehen. Noch haben sie uns nicht bemerkt«, flüsterte Yato.

»Franzel, mein Cowboy. Komm zu mir.« Freya funkelte Yato herausfordernd an.

»Schulien!« Amalia zog sich hastig die Bettdecke über den Kopf, dabei verrutschte ihr Kleid nach oben.

Yato versteckte sich sicherheitshalber hinter Julien, als Freya auf ihn zu wackelte und stammelte: »Oh Gott, hab Erbarmen mit mir.«

»Ich will heute bei dir schlafen.« Freya stieß Julien beiseite und schlang die Arme um Yato.

»Warum bedrohst du mich?«, jammerte der Cowboy und fand sich mit seinem Schicksal ab.

»Uh, Franzel, was ist los, warum schwitzt du?« Freya strich ihm die Schweißperlen von der Stirn und griff nach seinem Revolver. »Lauf, ich jag dich.« Sie richtete die Waffe auf ihn. Yato starrte sie entsetzt an und rannte auf den Gang.

»Ich fang dich, mein Cowboy«, rief sie und eilte ihm hinterher.

Julien, der zu sehr von Amalias freigelegtem Höschen abgelenkt war, bemerkte nichts von der brisanten Jagd, die sich hinter seinem Rücken abspielte. Das Einzige, was er vernahm, war Yatos Gekreische.

»Schulien, bist du noch da? Ich seh dich nicht.«

Julien sah, wie sich Amalias Oberkörper unter der Decke hektisch hin- und herbewegte und dabei immer mehr von ihrer Spitzenunterwäsche freigelegt wurde.

»D…decke … auf deinem Kopf«, stotterte er, während Yato mit Freya, an seinem Rücken festgekrallt, wieder ins Zimmer stürmte.

»Wuhuu, ich reite den Cowboy!«, rief sie, klaute seinen Hut und setzte ihn auf.

Glücklicherweise hatte er es auf dem Gang geschafft, ihr den Revolver abzunehmen. Seinen Hals zierten dicke Kratzer – trotz der Handschuhe, die Freya trug.

»Julien, nimm sie mir ab«, stöhnte Yato.

Sein Freund drehte sich mit hochrotem Kopf zu ihm.

»Was?«

»Nicht ›was‹, sondern Freya. Was ist mit dir?« Yato blickte ihn fragend an, doch als er zu Amalia sah, erkannte er das Problem und lachte. »Du Lappen, hör auf, ihr Höschen anzuglotzen, und nimm mir Freya ab.«

Julien löste Freyas Hände von Yatos Hals und bugsierte sie in ihr Bett, wo Amalia mittlerweile unter der Decke wild mit den Armen ruderte.

Als die beiden Jungs es endlich auch geschafft hatten, Amalia in ihr Zimmer zu verfrachten, tauchte Freya überraschend hinter ihnen auf, schubste sie weg und kuschelte sich zu ihrer Freundin ins Bett.

Fluch der verlorenen Seelen

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