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I Der arabische Politdschungel

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Kaum jemand würde den Film Der König der Löwen für politisch kontrovers halten. Anders die Funktionäre der hydraköpfigen Geheimdienste in der arabischen Welt. Warum dem so ist, das wissen die Produzenten der libanesischen Filmgesellschaft, die Walt Disneys Dschungeloper für das arabische Publikum bearbeiteten. Zunächst einmal war es den Synchronsprechern verboten, die beiden zentralen Begriffe der Geschichte in den Mund zu nehmen – „Löwe“ und „König“.

In den Augen der Zensoren des Mukhabarat (so der allgemeine arabische Begriff für Geheimdienste) kommt jegliche Verwendung der Begriffe für „Löwe“ und „König“ – assad und malik – einer „Majestätsbeleidigung“ gleich. Assad ist zudem der Name des derzeitigen syrischen Präsidenten, Baschar al-Assad, sowie der Name seines Vaters und früheren Präsidenten, Hafez al-Assad. Hinzu kommt, dass sich neben dieser syrisch republikanischen Dynastie auch anerkannte Könige in Saudi-Arabien, Jordanien und Marokko dadurch beschimpft und beleidigt fühlen könnten.

Deren Namen oder Titel auf Tiere zu übertragen, so die Produzenten, hätte garantiert ein Verbot des Films zur Folge gehabt. Es sei ihnen jedoch gelungen, dieses politisch-semantische Minenfeld zu umgehen. König Fahd, der verstorbene König von Saudi-Arabien, stellte sie mit seinem Namen, der übersetzt „Panther“ bedeutet, gar vor eine doppelte Herausforderung. Da dieses Wort ebenfalls unter das Verbot fiel, wich man auf daba’a aus, eine annehmbare Alternative, denn das Wort kann einigen Wörterbüchern zufolge auch Hyäne bedeuten („Der rosarote Panther“ = „Die rosarote Hyäne“?).

„Wir sind gezwungen, all diese Namen zu ändern oder ein halbwegs passendes Synonym zu finden“, sagte einer der Synchronproduzenten – etwa „Herrscher des Waldes“ für „König der Löwen“. Ein namhafter arabischer Journalist bemerkte hierzu: „Wörter machen diesen Leuten Angst, fast so sehr wie Gedanken und Ideen.“ Disneys Tierbuch scheint für die ‚Herren des arabischen Politdschungels‘ voller Schrecken zu sein.

Wäre dieser Aufstand um den Begriff beim König der Löwen oder beim Rosaroten Panther nur Ausdruck lokaler Empfindlichkeiten, wäre das Ganze eine allenfalls bunte, aber kaum überraschende Geschichte. Was Wunder, dass die buchstäbliche Wortmacht der arabischen Sprache bereits staatspolizeilichen Argwohn erregt in einer Region, wo Autokraten die politische Prägeinstanz sind.

Im globalen Rahmen sind diese politischen Kulturen und das repressive Gebaren nach den Angriffen vom 11. September 2001 auf New York und Washington sowie die nachfolgenden Anschläge von Dschihadisten alles andere als unbedeutend. Die Frage, wie die arabischen Länder regiert werden (insbesondere Saudi-Arabien und Ägypten, die beiden engsten Verbündeten Washingtons im arabischen Raum, aus denen die meisten Selbstmordattentäter vom 11. September sowie ihr angeblicher Terrorführer stammen), ist nicht mehr nur auf lokaler oder regionaler Ebene von Belang, sondern weltweit zu einem brisanten innen- und außenpolitischen Thema geworden.

Anders gesagt: Die unglaubliche Dreistigkeit und brutale Realpolitik der Anschläge vom 11. September haben es für die USA, den Westen und ihre arabische Klientel unmöglich gemacht, die autoritären Strukturen zu ignorieren, die letztlich blinden Zorn gegen sie geschürt haben. Osama bin Laden hat damit sozusagen eine nahezu hundert Jahre währende politische Praxis ausgehebelt.

Die westliche Duldung und Unterstützung von sunnitischen arabischen Machthabern in aus den Trümmern des Osmanischen Reiches künstlich geschaffenen Staaten ist für Araber und Muslime längst zu einem ebenso großen Affront geworden wie die westliche pro-israelische Tendenz im endlosen Kampf um die Aufteilung Palästinas. Die politischen Strategie des Westens, die auf Stabilität zielte, auf billiges Öl und scheinbare Sicherheit für Israel, ging letztlich nicht auf, sondern hat nachgerade den islamistischen Terror befeuert.

Eine verknöcherte politische Ordnung – ausnahmslos unfähig, ihre Wirtschaft aus der Stagnation zu führen oder der Mehrheit ihrer Bürger eine halbwegs vernünftige Lebensgrundlage zu bieten – ist somit zum gefährlichen Katalysator eines globalisierten islamistischen Terrors à la bin Laden und al-Qaida geworden. Aufgebracht durch Unterdrückung und gedemütigt durch Rückständigkeit, musste die junge arabische Generation (zwei Drittel der Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre) zusehen, wie der demokratische Wandel Lateinamerika, Osteuropa und weite Teile Asiens und Afrikas erfasste, an ihnen selbst aber vorüberging. So entstand eine „arabische Ausnahme“, vor der die westliche Welt bewusst die Augen verschließt.

Was die USA sowie einige ihrer Verbündeten langsam zu begreifen beginnen, sind vor allem zwei Dinge: Zum einen ist der Autoritarismus vieler arabischer Regime der Bodensatz in der politischen Alchimie des islamistischen Terrors; zum anderen ist die westliche Duldung der arabischen Despotien eine nicht minder bedeutsame Komponente.

Den neuen politischen Realismus der USA legte Condoleezza Rice, Außenministerin der Vereinigten Staaten in der zweiten Amtsperiode von Präsident George W. Bush, in einer Rede in Kairo im Juni 2005 deutlich dar. Die USA, so sagte sie, hätten sechzig Jahre lang nach Stabilität im Nahen und Mittleren Osten gestrebt, was auf Kosten der Demokratie gegangen sei und am Ende weder das eine noch das andere erreicht habe. Doch die USA hätten ihre Lektion gelernt. Von nun an würde sich ihr Land mit all jenen verbünden, die Freiheit als unverzichtbare Plattform für Stabilität, Wohlstand und Sicherheit erachteten.

Knapp zwei Jahre zuvor, im November 2003, hatte Präsident Bush in einer Rede in Washington vor Vertretern der National Endowment for Democracy (NED), einer 1983 gegründeten Organisation zur Beförderung der Demokratie, die „herablassende Haltung“ angeprangert, die suggeriere, Araber und Muslime seien untauglich für die Demokratie. Er verpflichtete Amerika zu einem „Generationenkampf“ für die Demokratisierung des Nahen und Mittleren Osten, ganz so wie frühere Generationen einst den Kalten Krieg bekämpft hatten.

Rice wie Bush hielten gewichtige Grundsatzreden. Sie vermittelten die Überzeugung, dass Despotie als Staatsform erprobt und gescheitert sei. Was bis heute jedoch fehlt, sind konkrete Handlungen, die glaubhaft demonstrieren, dass die USA – die im politischen Morast eines Irak feststecken, den sie für den Hebelarm hielten, um im „Großraum Mittlerer Osten“ etwas zu bewegen – bereit sind, auch die Risiken zu übernehmen, die der unweigerlich chaotische Prozess einer Demokratisierung mit sich bringen wird.

Diejenigen, die die arabische Welt nach amerikanischem Muster neu erschaffen wollten, schienen zudem alles mitzubringen außer einer profunden Kenntnis der Länder, die sie ins Visier genommen hatten.

Einige, wie Condoleezza Rice, gingen gar mit einer Mentalität wie zu Zeiten des Kalten Kriegs an dieses Vorhaben heran. Andere, wie die Neokonservativen, die zuvor die politische Rechtfertigung für den Krieg gegen den Irak geliefert hatten, betrieben Geopolitik im arabischen Raum wie einen gezielten Wurf beim Kegeln: Trifft man den vordersten Kegel (in diesem Fall den Irak) nur hart genug, dann werden auch die restlichen fallen. Nicht ein erfahrener Experte der Region wurde in den Kreis der Entscheidungsträger eingeladen. Paul Bremer, der zweite Zivilverwalter für den Irak, hatte bezeichnenderweise nur eine spöttische Bemerkung für einen altgedienten Funktionär des US-Geheimdienstes CIA in Bagdad übrig: „Über die Geschichte, ja, da wisst ihr Bescheid. Wir aber machen Geschichte. Wir gestalten die Zukunft.“1

Drei Merkmale kennzeichnen die arabischen Regierungssysteme: Zum einen ist jedes arabische Land mehr oder weniger autoritär – egal, ob es republikanisch, royalistisch, absolutistisch oder ein(e) quasi-konstitutionelle(s) Monarchie/Emirat ist; egal, ob es Wahlen zulässt oder nicht, ob es säkularisiert oder erklärtermaßen religiös geführt ist.

Gewiss, in den Monarchien am Golf (in Bahrain, Qatar, Kuwait und im Oman) sowie in Marokko wurden bereits erste zaghafte Schritte in Richtung Demokratie unternommen. Auch der Libanon ist mit seiner „Zedernrevolution“ und dem proportional konfessionell orientierten politischen Quotensystem (d. h. konfessionelle Parität der Sitze im Parlament) bis heute zwar eine große, wenngleich nur teilweise Ausnahme, bleibt aber in seinem eigenen Provinzialismus und der festgefahrenen religiösen Konfliktsituation, die die Region nach dem Irakkrieg ergriffen hat, gefangen. Ägypten und sogar Saudi-Arabien haben jüngst den demokratischen Kniefall geprobt. In Jordanien, im Jemen sowie in Algerien und Tunesien übt man sich seit nahezu zwei Jahrzehnten in manipulierten Wahlen.

Das New Yorker Freedom House, eine Forschungseinrichtung zur Förderung der politischen und bürgerlichen Freiheit weltweit, ließ in seinem jährlichen Report Freedom in the World im Dezember 2001 verlauten, die islamischen und arabischen Nationen hätten sich in Sachen Demokratie vom Rest der Welt entfernt. In einer überzeugenden frühen Reaktion auf den 11. September suchte Freedom House die Situation zu verdeutlichen: „Seit Anfang der 1970er-Jahre, als die dritte große Demokratisierungswelle begann, hat die islamische Welt, insbesondere deren arabischer Kern, wenig Verbesserungen hinsichtlich politischer Offenheit, Achtung der Menschenrechte und Transparenz erfahren“, heißt es in diesem Bericht, der den Irak, Libyen, Saudi-Arabien, den Sudan und Syrien zu den zehn Ländern mit der geringsten politischen Freiheit weltweit zählt.

In den drei Jahrzehnten, die das Ende des Kalten Kriegs sowie den Fall der Diktaturen von Bukarest bis Buenos Aires sahen, blieb die arabische Welt in Tyrannei gefangen. In der post-kommunistischen Ära gibt es aber auch keine andere Region in der Welt – nicht einmal China –, die vom Westen mit derart wenig Rücksicht auf die politischen Rechte und die Menschenrechte der Bürger behandelt wird.

Das zweite kennzeichnende Merkmal moderner arabischer Regime besteht darin, dass die autoritären Machthaber von den Militärs an der Macht gehalten werden, vor allem vom staatlichen Geheimdienst – dem allgegenwärtigen Mukhabarat – als einflussreichster politischer Komponente.

Das Militär ist derart allumfassend, dass Länder, die ansonsten so verschieden sind wie Saudi-Arabien und Saddam Husseins Irak, eines gemein haben, nämlich zwei Armeen: die normalen Streitkräfte und eine Garde zum Schutz der Herrscherfamilie (die Nationalgarde in Saudi-Arabien, die Republikanische Garde im Irak). In Saudi-Arabien wie im Irak besteht diese Garde aus Stammesmilizen. Auch in Jordanien und Syrien, wo die Strukturen gleichermaßen verschieden sind, stützen tribal- und sippenorientierte Strukturen die Staatsmacht. Doch dieses stammesbasierte Netzwerk ist nutzlos, wenn es nicht geknüpft ist an das eigentliche Machtrückgrat der Staatssicherheitsorgane und Militärkräfte.

Darüber hinaus verfügen alle arabischen Länder über eine Fülle von Sicherheitsdiensten, von denen einige nur dazu dienen, die anderen in Schach zu halten. Syrien kommt mit sechs aus, eine vergleichsweise geringe Zahl, während die Palästinenser unter Jassir Arafat ein ganzes Dutzend Sicherheits- und Geheimdienste unterhielten, und das sogar ohne eigenen Staat. Die große Zahl der Geheimdienste mag eine angemessene Reaktion darauf sein, dass auch die Vereinigten Staaten immerhin 16 Geheimdienstbehörden haben. Allerdings verfolgen diese nicht die primäre Absicht, ein einzelnes Staatsoberhaupt oder eine Sippe an der Macht zu halten.

Das dritte kennzeichnende Merkmal und wohl des Pudels Kern ist die Tatsache, dass die meisten arabischen Machthaber ein Legitimationsproblem haben – ein Problem, das in den vergangenen drei Jahrzehnten gewachsen ist, insbesondere nach der katastrophalen Niederlage der Araber durch die Israeli im Sechstagekrieg von 1967. Ein solcher Mangel an Legitimität hat ernsthafte Konsequenzen in der arabischen Welt, wo Herrscher nie zuvor abgewählt werden konnten, sondern entweder in Amt und Würden das Zeitliche segneten oder einem Attentat zum Opfer fielen. Diese Krise der Legitimität wird im Folgenden näher beleuchtet. Langfristige Gewinner werden wohl die islamistischen Erneuerer sein, die in das Legitimitäts-Vakuum vorstießen, die Fahnen des panarabischen Nationalismus aufzogen und ihre chaotische Ideologie als Befreiungstheologie verkauften.

Wie dieses Buch zeigen wird, besteht eine der größten politischen Herausforderungen für die USA und Europa heute darin, die unversöhnlichen Dschihadisten und bedingungslosen Anhänger bin Ladens von den islamistischen Bewegungen zu trennen, die in ihren Gesellschaften fest verankert sind und im Spiel der Demokratie auf dem globalen Marktplatz der Ideen mitwirken wollen. Gelingt es nicht, Letztere einzubinden, und zwar zu klar demokratischen Bedingungen, gibt es keinen gangbaren Weg in die Zukunft. Sie dürfen und können nicht ausgegrenzt werden.

Die Förderung der Freiheit sowie die Umsetzung einer gerechteren Politik im Israel-Palästina-Konflikt, die auf die Sicherung der Rechte sowohl für Palästinenser als auch für Israelis zielt, wird darüber entscheiden, wohin es die breite Masse der Muslime zieht – ob zu den Anhängern bin Ladens und deren Dschihad gegen den Westen oder zu Rechtsstaatlichkeit und der Entwicklung von Zivilgesellschaften. Ausgangspunkt jeder neuerlichen Überprüfung der Politik muss die mittlerweile unabweisbare und in allen Umfragen belegte Tatsache sein, dass Amerikas Ansehen in der islamischen und arabischen Welt auf dem Tiefpunkt ist, und zwar bei vermeintlichen Freunden ebenso wie bei scheinbaren Feinden.

Die Idee, die die Regierung Bush und deren Anheizer nach dem 11. September erfolgreich verkauften, war die: Die Gotteskrieger im Namen Allahs ‚hassen uns wegen unserer Freiheiten‘ und verabscheuen uns wegen unserer Werte – sie hassen uns für das, was wir sind und was wir denken, weit mehr als für das, was wir tun. Erinnern wir uns nur an all die Titelblätter und reißerischen Aufmacher der Zeitungen und Magazine, die nach dem 11. September fast wörtlich dieselbe Schlagzeile brachten: „Warum hassen sie uns so sehr?“ Aus den Antworten sprach ein Körnchen Wahrheit im schieren Falsch der tödlichen Herablassung, das sich unterm Strich wie folgt formulieren ließe:,Sie hassen uns wegen unserer Freiheiten; nur schien es uns politisch und wirtschaftlich praktischer und bequemer, Tyrannen zu unterstützen, die ihnen ihre Freiheiten verwehren.‘ Der derzeit in weiten Teilen der islamischen Welt stattfindende Kampf ist letztlich ein Krieg der Ideen, in dem es keine abträglichere Vorstellung gibt als die zu behaupten, Muslime und Araber hätten kein Interesse an Freiheit. Wenn wir uns davon nicht lösen, wird der Radikalislamismus diesen Krieg gewinnen.

Die eigennützigen Trugschlüsse dieser, Sie hassen uns wegen unserer Freiheiten‘-Politmaschinerie werden in einer Reihe von Büchern thematisiert. So etwa in einem zuerst anonym erschienenen Band mit dem Titel Imperial Hubris (2004) von Michael Scheuer, einem früheren Mitarbeiter des CIA, das Osama bin Laden in den Mittelpunkt stellt. Oder in Resurrecting Empire (2004), das aus der Feder des palästinensisch-amerikanischen Historikers Rashid Khalidi stammt. Wie viele andere legen sie überzeugend dar, dass sich die Feindseligkeit der Araber und Muslime an der Politik der USA und ihrer Verbündeten entzündet hat.

Im September 2004 erfolgte eine umfassende Bestätigung dieses Befunds von ungewöhnlicher Seite, nämlich dem Defense Science Board (DSB), einer bundesstaatlichen Kommission von Akademikern und Strategen, die das US-Verteidigungsministerium berät. Das DSB befand, „Amerikas Überzeugungskraft [stecke] tief in der Krise“, und zwar nicht zuletzt – so liest man zwischen den Zeilen – wegen der unsympathischen Mischung aus Willkür, Inkompetenz und Affinität zur Anwendung von Gewalt, die die Bush-Administration „auszeichne“. Worauf es ankomme, so der Bericht, sei Glaubwürdigkeit, und „die ist schlicht nicht zu finden – die USA haben heute keinerlei funktionierende Kommunikationswege in die Welt der Muslime und des Islam“. Die vom DSB ausgewerteten Umfragen sprechen für sich: In der arabisch-muslimischen Welt bewegt sich die Unterstützung für die Politik der USA im einstelligen Prozentbereich (in Ägypten etwa wird sie zu 98 Prozent, in Saudi-Arabien zu 94 Prozent als „untragbar“ bewertet). Auch in späteren Umfragen, durchgeführt von der Zogby International Group und dem Pew Global Attitudes Project, war eine Unterstützung für die Politik der USA so gut wie nicht feststellbar.

Gleichwohl ergaben die Umfragen des DSB, dass die große Mehrheit der Muslime Werte wie Freiheit und Demokratie sehr wohl befürwortet und westliche Wissenschaften und Bildung sowie westliche Produkte und amerikanische Filme schätzt. „Mit anderen Worten – sie hassen uns nicht wegen unserer Werte, sondern wegen unserer Politik“, so das DSB, das im Weiteren Umfragen anführt, die zeigen, dass der Hass auf die Politik eine derart zerstörerische Wirkkraft entfaltet, dass die Attraktion westlicher Werte langsam, aber sicher davon überschattet wird – ein Signal (wenn es überhaupt je eines gegeben hat), dass dem Westen die Zeit davonläuft, wenn er seinen Kurs noch ändern will. Was also ist zu tun?

Im Irak sind Staat und Gesellschaft unter der US-geführten Besatzung auseinandergebrochen, die ihre unverhältnismäßige Feuerkraft gegen einen schwer fassbaren und langfristig kaum identifizierbaren Feind einsetzt und damit unzählige Opfer unter der Zivilbevölkerung gefordert hat. Unfähig, einen von einer Minderheit der Minderheit der Sunniten angezettelten Aufruhr unter Kontrolle zu bringen, begingen die Besatzer einen Fehler nach dem anderen, reihten nahtlos ein Fehlurteil an das nächste. Ihr Riesengetöse, ihre Stümpereien sowie Eigentore am laufenden Band schienen eine strategische Katastrophe anzurichten – einen „Balkan“ im Wüstensand. Die arabische Öffentlichkeit beobachtete voll Angst und Sorge, wie ein ethnokonfessioneller Bürgerkrieg den Irak ergriff und damit die Drohkulisse eines breiteren konfessionellen Konflikts zwischen Sunniten und Schiiten eröffnete, welcher auch die Nachbarstaaten des Irak in seinen Sog ziehen konnte: den schiitischen Iran auf der einen und die sunnitisch arabischen Herrscher auf der anderen Seite – allesamt geeint in Furcht vor dem Machtgewinn der schiitischen Mehrheit im Irak.

Derweil schien sich die amerikanische (und britische) Unterstützung für Israel noch zu verfestigen, während Israel selbst ungehindert die Schlinge um das ungleich schwächere Palästina und das besetzte Westjordanland immer fester zuzog, und zwar trotz des israelischen Rückzugs aus dem Gazastreifen im Sommer 2005. An beiden Schauplätzen, von Muslimen rund um die Welt über das relativ neue Medium des arabischen Satellitenfernsehens mit Argusaugen beobachtet, sind die Ereignisse vom April des Jahres 2004 möglicherweise als ein Wendepunkt zu sehen.

Damals nämlich verfolgten Araber und Muslime von Fez bis Rawalpindi fassungslos, wie US-Truppen die Stadt Falludscha westlich von Bagdad im Euphrat-Tal zerstörten und israelische Truppen die Palästinenserstadt Rafah im Süden des Gazastreifens in Schutt und Asche legten. Trotz hoher Medienbeschränkungen waren beide Infernos auf den Mattscheiben streckenweise gleichzeitig zu verfolgen. Dies schweißte die arabische Welt so eng zusammen wie seit den goldenen Tagen der islamischen Staatenorganisation nicht mehr (der Gründung der Organisation der Islamischen Konferenz, OIC, 1969), die von den heutigen islamistischen Erneuerern viel gerühmt wird, auch wenn sie an dunklere Zeiten erinnert: „Das ist, als sähe man die Kreuzzüge live im Fernsehen“, war ein viel gehörter Kommentar.

Inmitten dieses Geschehens, am 14. April 2004, übermittelte Präsident Bush dem israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon, einem vehementen Verteidiger der israelischen Siedlungen in den Palästinensergebieten, ein Schreiben, in dem er Israels Anspruch auf die Siedlungen in der Westbank bestätigte. Auch der britische Premier Tony Blair schien diese neue, einseitige und unrechtmäßige Politik zu befürworten, die gleich mehrere Beschlüsse des UN-Sicherheitsrates und der Vierten Genfer Konvention mit Füßen trat. Aus Sicht der Arabaer eine Neuauflage der Balfour-Deklaration von 1917, in der Großbritannien sich mit einer „nationalen Heimstatt“ des jüdischen Volkes in Palästina erstmals einverstanden erklärt hatte.

Zu alledem kam der Skandal um den Gefangenenmissbrauch im irakischen Abu Ghraib, der unabsehbaren Schaden anrichtete. Immer schlimmere Missstände (gipfelnd in grausamen Folterszenen) wurden aufgedeckt, wie sie sich auch in anderen von der US-Armee geführten Gefangenenlagern abspielten: im kubanischen Guantánamo, im Militärgefängnis Bagram in Afghanistan und in vielen weiteren inoffiziellen Lagern quer durch Zentralasien, den Mittleren Osten und Osteuropa, in denen mutmaßliche Mitglieder des sogenannten globalen Terrornetzwerks inhaftiert waren.2

Bald wurde klar, dass die amerikanische Begründung für den Irakkrieg – Saddam Husseins angeblicher Besitz von Massenvernichtungswaffen sowie die immer wieder behauptete Verbindung zwischen Bagdad und al-Qaida – weder Hand noch Fuß hatte. Nicht eine der nahezu dreißig Behauptungen über den Irak vor dem UN-Sicherheitsrat, die der damalige US-Außenminister Colin Powell im Februar 2003 aufstellte, hat sich je bewahrheitet. Die meisten Araber hielten die US-Politik weniger für die von Präsident Bush im November 2003 ausgerufene „Vorwärtsstrategie für Freiheit im Nahen Osten“ als vielmehr für einen amerikanischen Vorstoß, um sich langfristig die Stützpunkte in der Region zu sichern, die den Westen traditionell mit billigem Öl versorgen.

Die von der Regierung Bush viel gepriesene Greater-Middle-East-Initiative (GMEI) zur Demokratisierung der arabischen Region erscheint in diesem Licht eher rhetorisch und greift in der konkreten Handlung verdächtig kurz, so wie nach dem Ersten Weltkrieg, als Frankreich und Großbritannien sich in einem Doppelspiel den Nahen Osten aufteilten. Es nützte auch nichts, dass dieses Partnerschaftsprogramm (die GMEI wurde 2002 in Middle East Partnership Initiative, MEPI, umbenannt) ein regionales Verbindungsbüro in Tunesien eröffnete, dem wohl effizientesten Polizeistaat der Region, in dem Staatschef Zine El Abidine Ben Ali im Oktober 2009 zum wiederholten Mal das Wunder einer nahezu einstimmigen „Wiederwahl“ gelang.

Wie ein führender arabischer Verleger in Beirut damals bemerkte, war 1989 nicht nur das Jahr, in dem Berlin den Fall der Mauer erlebte und eine neue demokratische Welle Ost- und Mitteleuropa erfasste, sondern auch das Jahr des Abkommens von Taif, das den libanesischen Bürgerkrieg (1975–90) beendete – und danach von Syrien als Rechtfertigung für den schleichenden „Anschluss“ des Libanon angeführt wurde. „Es scheint, dass in unserem Teil der Welt“, sagte er, „West-Berlin von Ost-Berlin übernommen wurde.“ Eine Zeit lang schien es, als würde sich das ändern. Immerhin gab es 2005 erste vage Anzeichen für die Annahme, die Demokratie könne in der Region doch noch Tritt fassen.

Das Paradoxe dabei war, dass es eine Person gab, die dafür sorgte, dass dies unterminiert wurde: Osama bin Laden. Seine Terrortaten machten es fortan unmöglich zu ignorieren, wie das heimliche Einverständnis des Westens mit den Tyrannen im Nahen und Mittleren Osten, die sich offenbar sowohl der Freiheit als auch dem Islam versperrten, eine Brutstätte des islamistischen Terrors geschaffen hatte. Und die Reaktionen der US-amerikanischen Regierung auf den 11. September förderten dies noch – wenngleich in einer Weise, die die Bush-Administration allen lobenswerten Erklärungen zum Trotz, die Freiheit in der arabisch-islamischen Welt vorantreiben zu wollen, offensichtlich nicht wirklich durchdacht hatte.

Bei der vorhergehenden Invasion in Afghanistan hingegen hatte Osama bin Laden sich verkalkuliert – sie sollte eine überzogene Reaktion auslösen, einen Angriff auf den Islam, der seinerseits Muslime weltweit zum Aufstand gegen den Westen und seine Verbündete anstacheln würde (siehe Kapitel III und IV). Ein Jahr nach Bushs Krieg im Irak rief bin Ladens Chefstratege Ayman al-Zawahiri alle Muslime dazu auf, Allah dafür zu danken, dass die USA in den Irak gekommen waren, da dies den tödlichen Rächerkult der Anhänger Osama bin Ladens verstärkt habe (wie Kritiker der Kriegspolitik im Irak, einschließlich meiner Person, wiederholt vorausgesagt hatten).

Zawahiri zufolge würden die USA und ihre schwindenden Verbündeten so oder so verlieren, egal, ob sie die Stellung hielten oder abzögen – eine Logik, der man sich kaum verschließen kann. Und ein ganz reales Dilemma dazu. Alles, was nach einem erzwungenen oder politisch motivierten Abzug aussähe, würden die Dschihadisten als Sieg für sich verbuchen, und zwar in einer Reihe mit dem Sieg über die sowjetische Besatzung von Afghanistan 1979–89. Hatte man jenen Sieg noch mithilfe der USA errungen, wäre nun die Supermacht USA freilich nicht mithilfe einer anderen Supermacht besiegt, sondern einzig und allein durch die Kraft des religiösen Fanatismus.

Und die Alternative – nicht abzuziehen und die Stellung zu halten – würde die Grenzen der viel gepriesenen Supermacht erst recht offenbaren. Die US-Truppen machten sich unter der irakischen Bevölkerung nach wie vor mehr Feinde als Freunde, auch wenn Gewaltanwendungen seit 2006 eher rückläufig seien. Da die überwiegende Mehrheit der Iraker die Besatzungsmacht weiterhin mehr als Teil des Problems denn als Lösung begriffen, mehr als Besatzer denn als Befreier, böten sie den Dschihadisten ein weites Trainingsfeld für Stadtkampf und Terrorismus – ebenfalls ganz im Sinne Zawahiris. Und indem sie die zielreiche Umgebung militärisch ausrüsteten, fungierten sie zudem als Rekrutierungstrupp für den internationalen Dschihadismus.

Die ultraradikalen Dschihadisten hegten überdies die begründete Hoffnung, der Bürgerkrieg, den ihre Symbolfigur, der jordanische Fanatiker Abu Musab al-Zarqawi, durch eine blutige Kampagne gegen die schiitische Mehrheit im Irak anzufachen versucht hatte, werde nicht nur entflammen, sondern sich quer durch die Levante über den östlichen Teil der arabischen Halbinsel hinaus bis zum Indischen Subkontinent fortsetzen und zu einem sunnitisch-schiitischen Konflikt ausweiten.

Im Mai 2003 lösten das Pentagon und der von ihm berufene Zivilverwalter des Irak, Paul Bremer, die irakische Armee auf. Doch das Dilemma war für die Besatzer damit nicht vorbei. Es spitzte sich vielmehr rasch zu. Mit der Auflösung der Armee war nämlich nicht nur das Rückgrat des Staates gebrochen, sondern auch das nationale Hauptorgan zerstört, das bereits vor der baathistischen Regierung existiert hatte. Knapp 400 000 Soldaten, mittellos zwar, aber schwer bewaffnet und gut ausgebildet, verstärkten die Reihen des sunnitischen Widerstands und ließen den erklärten Plan der USA, eine neue nationale Armee wiederaufzubauen, als wahnwitzige Idee erscheinen. Stattdessen waren Amerikaner und Briten gezwungen, sich auf die neu formierte Schia-Miliz und die kurdische Peschmerga zu stützen, was wiederum den Eindruck erweckte, sie würden in einem Religionskrieg Partei ergreifen. Genau das war den glücklosen amerikanischen und französischen multinationalen Truppen 1983/84 im Libanon widerfahren, wo man sie letztlich nur als eine Miliz von vielen im Bürgerkrieg ansah.

Die Aufstockung der US-amerikanischen Truppen 2007/08 half wenig, diesen Eindruck zu revidieren. Ihr meistgepriesener Erfolg – die vorübergehende Allianz mit den sunnitischen Stammestruppen gegen al-Qaida – erweiterte den ohnehin verworrenen Konflikt nur um einen weiteren Aspekt (den wir in Kapitel IV noch ausführlich beleuchten werden). Gleichzeitig hatte die Anwesenheit der weltstärksten Armee als Frontmacht im arabischen Herzland zweifellos noch andere Konsequenzen.

Die Machthaber der einzelnen Länder agierten sehr viel bedachter. So ließ etwa der ägyptische Präsident Muhammad Husni Mubarak erstmals Gegenkandiaten bei der Wahl zu seiner fünften Amtsperiode im September 2005 zu, die er denn auch mit einer Mehrheit von nur 88 Prozent gewann. Dennoch blieb, wie sich zwei Monate später in den Parlamentswahlen zeigen sollte, die offiziell verbotene fundamentalistische Muslimbruderschaft die stärkste und einzige organisierte Oppositionskraft in Ägypten. Das Königreich Saudi-Arabien hielt in jenem Frühjahr seine ersten, Männern vorbehaltenen Gemeindewahlen ab. Diese bescheidenen demokratischen Entwicklungsschritte wertete die Regierung Bush als wichtige Erfolge. Mit etwas mehr Berechtigung sahen die USA die Wahlen im Januar und Dezember 2005 im Irak sowie den zivilen Aufstand gegen die syrische Oberherrschaft im Libanon im Frühjahr des gleichen Jahres als maßgebliche Zeichen dafür an, dass „die Freiheit auf dem Vormarsch“ sei.

Ohne Frage zeugt es von außerordentlicher Zivilcourage, dass Millionen von Irakern allen Gefahren und Einschüchterungen zum Trotz schließlich eine Übergangsregierung und verfassunggebende Versammlung wählten. Dieser Mut eines Volkes, das unter drei verheerenden Kriegen, 13 Jahren drakonischer Reglements und drei Jahrzehnten Saddam Hussein gelitten hatte, beeindruckte die arabische Welt zutiefst, und die an das Satellitenfernsehen angeschlossenen Araber begannen sich zu fragen, ob die Iraker tatsächlich im Begriff waren, die Zukunft ihres Landes selbst in die Hand zu nehmen.

Washington, das nach wie vor seine stümperhafte Strategie zu rechtfertigen suchte, verwies – zu einem gewissen Grad zu Recht – darauf, dass es diese erste freie Wahl unter Saddam nie gegeben hätte, ließ aber völlig außen vor, dass sie im Grunde genommen dem beharrlichen Einsatz von Großayatollah Ali al-Sistani zu verdanken war, dem höchsten schiitischen Geistlichen des heutigen Irak. Er war der eigentliche Wegbereiter. Er war es, der dreimal in Folge ein Veto eingelegt hatte gegen Pläne der US-geführten Besatzungsbehörden, die Wahlen aufzuschieben oder ganz aufzuheben, aus Furcht vor den unabsehbaren Folgen der aufkeimenden Demokratie. Er war es, der im Hintergrund die Fäden zog.

Gleiches versuchte Rafiq al-Hariri im Libanon, der als Ministerpräsident den Wiederaufbau des Landes nach dem Bürgerkrieg entscheidend prägte und sich am Ende aus der syrischen Allianz löste. Er fiel im Februar 2005 einem Mordanschlag zum Opfer, den syrische Geheimdienstoffiziere in Auftrag gegeben haben sollen – in einer massiven Fehleinschätzung der Folgen: Der Mord an al-Hariri war der Sprengzünder für den Ausbruch einer zivilen Intifada, die kurz darauf die regionale und internationale Isolation Syriens besiegelte. Der blanke Zorn, der sich aus gescheiterten Hoffnungen speiste und sich in den Straßen Beiruts entlud, galt jedoch der Politik Syriens, nicht der der USA.

Überall in der Region zeigten Live-Übertragungen via Satellit helle Scharen von Demonstranten mit Zedernflaggen – was die Grundfeste jedweder arabischen Autokratie mehr erschütterte als eine 180-Grad-Kehrtwende im politischen Kurs der Vereinigten Staaten. Ägypten und Saudi-Arabien, die beiden tonangebenden Diktaturen im arabischen Raum und wichtigsten Verbündeten Washingtons, drängten Baschar al-Assad vehement zu einem Abzug seiner Truppen aus dem Libanon, um die Krawalle in den Straßen Beiruts schnellstmöglich zu beenden.

Die arabische Welt hat feine Antennen und reagiert hochsensibel auf scheinbare Veränderungen im politischen Gefüge der Region. Auch als die amerikanische Außenministerin Condoleezza Rice der ägyptischen Regierung nach der Verhaftung des Oppositionellen und Vorsitzenden der al-Ghad-Partei, Ayman Nour, Anfang 2005 eine scharfe Rüge erteilte, wurde das in der arabischen Welt aufmerksam wahrgenommen, jedoch auf die unerwartete Entscheidung von Präsident Mubarak bezogen, zu den anstehenden Präsidentschaftswahlen auch andere Kandidaten zuzulassen. (Aufmerksam wahrgenommen wurde freilich auch, dass Mubarak der Forderung Washingtons nach internationalen Wahlbeobachtern eine lange Nase machte und gelassen seinem Wahlsieg entgegensah; und dass er Nour in hintertückischer Weise um seinen Sitz im Parlament brachte und ihn anschließend verhaften ließ.)

Niemandem entging zudem, dass Frankreich und die USA sich im UN-Sicherheitsrat gemeinsam gegen die syrische Dominanz im Libanon stellten (aber nur allzu gut erinnerte man sich auch daran, dass Syrien sich im ersten Golfkrieg gegen den Irak auf die Seite der USA geschlagen hatte, anschließend in letztlich fruchtlose Friedensverhandlungen mit Israel trat und seine Funktion als Besatzungsmacht im Libanon seither unbehelligt festigen konnte).

Die Araber begriffen den Krieg Israels gegen die Hisbollah im Libanon im Sommer 2006 daher als logische Folge des unsinnigen Irak-Abenteuers der USA: als ein Nervenversagen in Reaktion auf das um sich greifende Gespenst des schiitischen Radikalismus, das unter Führung Teherans einen weiten Bogen vom Iran über den Irak bis an die Grenzen Israels spannte.

Aber es ging nicht nur um Israel, das wie so oft keine Nervenstärke bewies, wenn es sich von schwächeren, aber raffinierten Gegnern zu einem ungleichen Krieg herausgefordert sah. Die Tatsache, dass die USA und Großbritannien sich weigerten, Israel in diesem Libanonfeldzug, der ganze 34 Tage dauerte, an die Kandare zu nehmen, wird nie vergessen und vergeben werden. Den Versuch, die islamistische Schia-Bewegung und Schia-Miliz zu zerstören, die Washington und London (sowie sunnitisch-arabischen Hauptstädten wie Kairo und Riad) als Speerspitze des Iran in der Levante gilt, sah man als bedauernswerten, aber notwendigen Preis, um Teherans vermeintliche Ambitionen in der Region aufzuhalten. Und aus eben diesem Grund konnte Israel ungehindert zahllose Dörfer im südlichen Libanon und der östlichen Bekaa-Ebene zerstören, Beiruts südliche Stadtbezirke in Schutt und Asche legen – kurz: den ganzen schiitischen Libanon verwüsten.

Die offizielle Berichterstattung las sich freilich anders. Dort war die Rede von der von Bush angestrebten „Freiheit“, die dem Terrorismus ins Auge sah, oder von Tony Blairs „Bogen des Extremismus“. Vor dem Irakkrieg hingegen gab es keinen solchen „Bogen“, lediglich einen versprengten Radikalismus und ungelöste Konflikte um das Existenzrecht Israels.

Das Verhalten der USA und Großbritanniens trug dazu bei, dass sich die Konflikte dreier Staaten ineinander verflochten. Dazu gehörten der gerade im Scheitern begriffene Libanon im Norden Israels, im Süden der bereits gescheiterte Möchtegern-Staat Palästina und im Osten der ohnehin zerbrochene Staat Irak.

Das Fiasko des Libanonkriegs sollte sich mit dem Fiasko im Irak fortsetzen, wo man sich benahm „… wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen“3, wie Anthony Cordesman, US-Stratege und Unterstützer der Invasion im Irak, im Jahr 2006 anmerkte.

Die Politik der USA war zudem hoffnungslos widersprüchlich. Im Libanon, wo es bereits eine demokratisch gewählte Regierung gab, setzte man alles daran, die Hisbollah zu zerstören, jene radikalislamische Schiitenmiliz, die sich im Widerstand gegen die israelische Invasion zusammengeschlossen und mit dem Iran verbündet hatte und (damals) Teil der gewählten Regierung war. Im Irak hingegen wurde eine mit dem Iran verbündete radikalislamische Schiitenmiliz, die Badr-Brigaden, ein bewaffneter Arm des Obersten Islamischen Rats im Irak (Supreme Council for the Islamic Revolution in Iraq, SCIRI), als Teil einer gewählten Regierung von Washington unterstützt. Derartige Widersprüche schmoren für gewöhnlich eine Weile vor sich hin, bis sie dann irgendwann überkochen.

Der Libanonkrieg im Sommer 2006 hat gezeigt, in welchem Ausmaß das Debakel im Irak den Prozess der Demokratisierung ins Gegenteil verkehrt und es den USA und ihren Verbündeten so gut wie unmöglich gemacht hat, eine radikale neue Freiheitsagenda in der Region zu verfolgen. In diesem Buch werden wir immer wieder auf die Grenzen stoßen, vor denen der Westen sein erklärtes Ziel der Demokratisierung hintanstellt. Drei Konsequenzen aus dem Libanonkrieg seien an dieser Stelle bereits angesprochen.

Erstens: Washington und London hatten völlig richtig erkannt, dass ihre Duldung des israelischen Angriffs auf den Libanon der wachsenden Beunruhigung ihrer sunnitisch-arabischen Verbündeten angesichts des vermehrten Einflusses des Iran in gewisser Weise entgegenkam. Aus Kairo, Riad und Amman hatte es anfangs sogar wohlwollende Stimmen zu diesem Krieg gegeben, weil er sich gegen die Hisbollah zu richten schien, die man als Erfüllungsgehilfen des Iran ansah. Saudische Regierungsvertreter warnten davor, „rechtmäßigen Widerstand“ mit „verantwortungslosem Abenteurertum“ zu verwechseln, während die Wahhabiten des Königreichs ihren Glaubensgenossen predigten, keine Sympathie für die götzendienerischen Schiiten zu hegen. Doch Israels hemmungslose Zerstörungswut im Libanon änderte all das.

Arabische Führer, so stellte sich bald heraus, fürchteten die Reaktion ihrer Bevölkerung mindestens ebenso sehr (wenn nicht gar mehr) wie den iranischen Einfluss in der Levante und am Golf. König Abdullah von Saudi-Arabien, ein enger Verbündeter der USA, der auf dem Arabischen Gipfel in Beirut 2002 die arabischen Staaten bewogen hatte, Israel im Gegenzug für die Rückgabe der im Sechstagekrieg von 1967 eroberten Gebiete ein umfassendes Friedensangebot zu unterbreiten, sagte Ende Juli 2006, zwei Wochen nach Beginn des letzten Libanonkriegs, „Geduld [könne] nicht ewig währen“. Da die Geduld der arabischen Herrscher hinsichtlich der israelischen Expansion geradezu legendär genannt werden muss, ist zu vermuten, dass er sich mit diesen Worten auf den wachsenden Zorn seines Volkes bezog. Nie war es um mehr gegangen. Wörtlich sagte er: „Wenn die Friedensoption an der israelischen Arroganz scheitert, bleibt keine andere Alternative als Krieg.“

Zweitens: Das Libanon-Fiasko, in dem Israel (nicht anders als die USA im Irak) die Grenzen seiner militärischen Macht mehr als deutlich machte, während die Hisbollah sich behauptete, kam Teheran gerade recht. Es konnte dadurch den Eindruck erwecken, der Iran sei mithilfe seiner Verbündeten durchaus in der Lage, entlang der libanesisch-israelischen Grenze ein Gleichgewicht des Schreckens (und der Abschreckung) zu schaffen. Eine wichtige Erwägung für den Fall, dass die verfahrene Situation im Atomstreit mit dem Westen in Gewalt umschlagen würde.

Drittens: Der von der Hisbollah errichtete Staat im Staate Libanon war so weit gediehen, dass er den Libanon fast schon ersetzen oder zumindest mattsetzen konnte. Der monatelange Krieg hob das Ansehen der Hisbollah gefährlich und fügte gleichzeitig der pro-westlichen und (in der arabischen Welt eine Seltenheit) demokratisch gewählten Koalitionsregierung des libanesischen Ministerpräsidenten Fouad Siniora tödliche Wunden zu.

Nicht nur wurde der charismatische Hisbollah-Führer Sayed Hassan Nasrallah auf der Straße als Held vom Format eines Gamal Abdel Nasser gefeiert, und zwar von Sunniten ebenso wie von Schiiten. Seine Ton- und Videobänder mit Hetztiraden verkauften sich sogar besser als die des Popidols Nancy Ajram. Die arabischen Regime, denen Washington die Freundschaft bekundete, konnten dies nur gebührend zur Kenntnis nehmen. Und für Freund und Feind in der Region gab es daraus nur einen Schluss: Dass die Regierung Bush Israel stets und bedingungslos den Rücken stärken würde, selbst um den Preis eines weiteren gescheiterten Staates.

Wie akut die Gefahr eines solchen Scheiterns im Mai 2008 wurde, nachdem die Hisbollah Westbeirut überrannt und den Libanon aus dem innerstaatlichen Nachkriegs-Stillstand gerissen hatte, werden wir noch ausführlich erörtern. Schon vorher wurde der arabischen Öffentlichkeit jedenfalls deutlich vor Augen geführt, wie vollkommen anders die USA und die führenden europäischen Länder mit den Baathistenregimen im Irak und in Syrien verfuhren.

Das Irak-Abenteuer der USA wurde in der Region als Ausbund eines amerikanischen Unilateralismus gesehen, angetrieben von einer tödlichen Mischung aus Arroganz und Ignoranz, die sowohl den Dschihadismus stärkte als auch eine konfessionelle Zeitbombe im Herzen der arabischen Welt zum Ticken brachte. Die arabische Welt war geschockt, aber weniger gelähmt als vielmehr wutentbrannt über dieses blutige Fiasko im Libanon, das auf das Konto der syrischen Besatzer ging – eine Erfahrung, die einen wichtigen und eine Zeit lang auch potenziell heilsamen Kontrast zu den Massakern im Irak bot. Der politische Wandel im Libanon, der mitunter auf Syrien selbst überzugreifen schien, resultierte weniger aus unilateralen als aus multilateralen Bestrebungen (dem von den USA und Frankreich ausgeübten Druck auf die Vereinten Nationen), weniger aus zivilen als aus militärischen Aktionen (durch Libanons zivile Intifada), und führte – deutlich sichtbar und exemplarisch – demokratische Werte in die staatliche Rechts- und Steuerungsfähigkeit ein (durch die UN-mandatierte Ermittlung, die mit ihrer Härte die syrisch-libanesischen Sicherheitsdienste entmachtete).

Nach wie vor hängt die Zukunft der arabischen Welt von diesen beiden Wandlungsprozessen ab – dem verpfuschten und brutalen, streckenweise aber auch heroischen Irak-Abenteuer sowie vom Fortgang des syrisch-libanesischen Dramas. Doch ein Stück weit ist der Wandel im Libanon auch das Verdienst der USA, die ihn in der Region als Ganzes vorantrieben.

Die Erfahrungen, die die Araber in den vergangenen sechzig Jahren gemacht haben, lassen sich nicht mit geistreichen Erklärungen einfach ausradieren. Eines aber haben sie daraus gelernt: Den USA geht es im Nahen und Mittleren Osten lediglich um kurzfristige regionale Stabilität und billiges Öl, weshalb sie immer nur darauf bedacht waren, den Status quo zu halten und egal welche lokalen Machthaber entsprechend zu unterstützen (auch Saddam Hussein wurde von Washington schließlich einmal als unentbehrlicher Verbündeter angesehen). Wie viel arabische Demokratie kann Amerika aushalten? Und wie viel davon ist wirklich gewollt?

Demokratie gestaltet sich nirgendwo auf der Welt einfach, in der arabischen Welt aber wäre sie das reinste Chaos. Das Irak-Abenteuer beispielsweise setzte eine ganze Reihe tektonischer Verschiebungen im politischen Gefüge in Gang. Es hat nicht nur die schiitische Mehrheit im Irak gestärkt, sondern die Schiiten insgesamt ermutigt, die seit dem Zusammenbruch der letzten Schiitenregierung, der heterodoxen und im alten Kairo angestammten Fatimidendynastie, im Jahr 1171 quer durch die arabische Region als geschmähte Minderheit unterdrückt wurden. Wie bereits erwähnt, sieht man in Washington und Europa durchaus die panische Angst, mit der die sunnitisch-arabischen Machthaber in den befreundeten Staaten auf die gewaltsamen Verschiebungen in diesem jahrhundertealten Machtgleichgewicht reagierten.

An den politischen Schauplätzen, an denen die USA, der Iran und Saudi-Arabien am meisten um Einfluss konkurrieren – im Libanon, in Palästina und im Irak –, zeigen die Wahlen schon heute, dass islamistische Parteien wie Hisbollah, Hamas und Dawa in der Wählergunst hoch im Kurs stehen. In Algerien waren die islamistischen Parteien zu Beginn der 1990er-Jahre nahe daran, die Wahlen für sich zu entscheiden, und die militärische Unterdrückung des demokratischen Experiments stürzte das Land in einen blutigen Bürgerkrieg. Dass islamistische Parteien auch anderswo gute Chancen hätten (sofern echte Wahlen gestattet wären), zeigt die Parlamentswahl vom November 2005 in Ägypten, wo die unterdrückte Muslimbruderschaft einen Teilerfolg erringen konnte. Doch die arabischen Machthaber haben das politische Spektrum praktisch zerstört und ihren Gegnern damit keinen anderen Sammelpunkt gelassen als die Moscheen. So war es unvermeidlich, dass die islamistischen Erneuerer zu einer großen politischen Kraft erstarkten. Indem sie die Islamisten von rechts zu überflügeln suchten, insbesondere durch Allianzen mit der traditionell konservativen geistlichen Führung, konnten die Machthaber ihre fundamentalistische Anhängerschaft zunehmend ausbauen (mehr dazu im folgenden Kapitel).

Die USA spielen sehr gut in dieses Muster hinein. Nach der Euphorie über die ersten Wahlen im Irak beispielsweise gab es eine lange, tödliche Pause bis zur Regierungsbildung. US-Vertreter warfen den untereinander verstrittenen irakischen Politikern vor, den Elan nicht genutzt zu haben, wodurch der Aufruhr im Land neuen politischen Schub bekommen konnte. Ein teils berechtigter Vorwurf, der indes nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass aufgestörte US-Vermittler nichts unversucht ließen, schiitisch-islamistische Gruppen an der Regierungsbeteiligung zu hindern, ja sogar alle Hebel in Bewegung setzten, um die Wahlergebnisse von vornherein gegen sie zu manipulieren.

Noch einmal zurück zu der Grundsatzrede, die Condoleezza Rice in Kairo hielt. Unmittelbar im Anschluss an diese Rede stellte sie auf eine Frage hin klar, dass die USA keinesfalls in einen Dialog mit der Muslimbruderschaft eintreten würden, Ägyptens einflussreichster, wenn auch verbotener islamisch-fundamentalistisch oppositioneller Kraft.

Demokratische Reformen und kurzfristige Stabilität sind oft zwei paar Stiefel. Das ist fast immer und überall so, wie in jüngster Vergangenheit in Lateinamerika, Osteuropa, Schwarzafrika oder im südöstlichen Asien zu sehen war. In der arabischen Welt – wo Politik sich wie eine Verschwörungstheorie ausnimmt, deren Macher zwanghaft Komplotte schmieden, wo viele Länder einem Flickenteppich aus tribalen, ethnischen und religiösen Rivalitäten gleichen, die nicht einmal die eigenen Führer immer ganz verstehen – wird dies nicht anders sein. Ich werde zeigen, dass es Risiken gibt, große Risiken. Ich werde aber auch zeigen, dass diese Risiken eingegangen und durchgestanden werden müssen, wenn die Araber wieder in die Lage kommen wollen, ihre Geschicke selbst zu lenken.

Fast alle, die für eine Demokratie-Strategie in den arabischen Ländern plädieren, tun dies in dem Glauben, dass Demokratie auch Stabilität bringen wird. Doch das wird sie nicht – zumindest nicht so rasch, wie es sich die meisten westlichen Politiker vorstellen. Vielmehr wäre Demokratie der Stabilität eher abträglich, würde sie doch als Verlängerung einer trostlosen, oft engstirnigen Politik ungreifbarer Turbanträger empfunden werden. Will der Westen, dem der Makel anhaftet, die Augen vor der Tyrannei zu verschließen und die Politik in der Region zum eigenen Vorteil zu manipulieren, das Pulverfass nicht entzünden, muss er die Araber in ihrem Recht auf freie Gestaltung ihrer Zukunft unterstützen.

In einem vom arabischen Nachrichtensender al-Jazeera ausgestrahlten Video erklärte Ayman al-Zawahiri im Oktober 2005: „Die Amerikaner werden es niemals zulassen, dass ein islamisches Regime in der islamischen Welt an die Macht kommt, es sei denn, ein solches Regime würde voll und ganz mit ihnen zusammenarbeiten, wie es im Irak der Fall ist.“ Das sollte zu denken geben. Aber was, wenn al-Zawahiri falsch liegt? Wenn der Westen beschließen würde, den demokratischen Willen der Araber und Muslime zu respektieren? Was würde das für die Glaubwürdigkeit der Dschihad-Bewegung bedeuten?

Machen wir uns nichts vor. Jegliche Liberalisierung, jegliche politische Öffnung im arabischen Kernland der muslimischen Welt wird zwangsläufig stark von einer islamisierten Politik gefärbt sein. Und jeglicher ideologischer Wandel wird dem Westen in Struktur und Praxis fremd anmuten.

Die religiös-nationalistische Identität, die sich sehr wahrscheinlich mit dem Islamismus etablieren wird, lässt sich vielleicht am ehesten, wenn auch nicht ganz, mit dem europäischen Nationalismus des 19. Jahrhunderts vergleichen, der die Staaten letztlich zukunftsfähig machte. Während dieser ideologische Wandlungsprozess langsam ins Rollen kommt, wird die Aufgabe darin bestehen, alles daran zu setzen, faschistische Varianten, wie sie im 20. Jahrhundert Europa zu schaffen machten, zu verhindern. Theoretisch dürfte dies machbar sein. Es bedarf jedoch einer ernst gemeinten Überprüfung der Politik – nicht lediglich freiheitlich klingender Lippenbekenntnisse.

Dieses Buch wird die Politik, vor allem aber ihre Macher genau unter die Lupe nehmen. Und es wird deutlich machen, inwieweit sich die Politik, die US-amerikanische wie die arabische, ändern muss, damit echte, erkennbare Fortschritte erzielt und selbsterfüllende Prophezeiungen über einen kulturellen Konflikt vermieden werden können.

Die USA müssen unmissverständlich und glaubwürdig darlegen, dass sie (anders als ihre britischen kolonialen Vorgänger) im Irak hinsichtlich Militärstützpunkten und Ausbeutung der Ölreserven keinerlei langfristige Pläne hegen, und sie müssen einen systematischen Rückzug durchführen. Das Chaos, das sie bereits angerichtet haben, ist derart groß, dass sich daran ohne Weiteres ein neuer Bürgerkrieg entzünden könnte – ein Krieg, der insofern in der Schwebe hängt, als die USA ihr riesiges Truppenkontingent kaum halten können.

Doch nur die Iraker können sich letztlich aus diesem Fiasko befreien. Allerdings bedarf es entschiedener regionaler und multinationaler Unterstützung in Richtung auf eine pluralistische Gesellschaft und parlamentarische Regierung. In Israel-Palästina ist die Sache recht simpel: Dort müssten die USA unter Mitwirkung Europas unparteiisch vermitteln. Gerechtigkeit für Palästina und Sicherheit für Israel sind durchaus erreichbar – aber nur, wenn die USA begreifen, dass es nicht in ihrem nationalen Interesse liegen kann, Israel darin zu bestärken, arabisches Land zu besetzen. Und was die Europäische Union angeht, so ist deren politische Scharade, die israelischen Besatzer und die Palästinenser gleich zu behandeln, schlichtweg Heuchelei.

Die USA werden künftig zunehmend mit gewaltfreien islamistischen Bewegungen zusammenarbeiten müssen, die die erwähnte Studie des DSB ganz richtig als das neu entstehende Zentrum politischer Anziehungskraft ausgemacht hat. Aber auch die weiterhin paramilitärisch organisierten Parteien wie Hisbollah oder Hamas müssen in das politische Spiel mit einbezogen werden. Sie zu ignorieren, hätte fatale Folgen – wie die palästinensischen Parlamentswahlen 2006 gezeigt haben, bei denen man vergeblich versuchte, die Hamas zu isolieren. Die USA und ihre Verbündeten ließen kaum eine Gelegenheit aus, offen zu zeigen, dass sich ihre Begeisterung für die demokratischen Gehversuche der arabischen Länder in Grenzen hält, und sorgten damit zu Recht für Empörung.

Erwartungsgemäß ging aus den irakischen Wahlen 2005 die Vereinigte Irakische Allianz, ein überwiegend schiitisches Parteienbündnis, als Sieger hervor, was die beiden von Washington favorisierten Schiiten Ahmad Chalabi und Iyad Allawi bewog, ihre jeweilige Bewerbung um den Parteienvorsitz zurückzuziehen. Als Sieger – in einem Parlament, das zu rund zwei Dritteln aus Islamisten unterschiedlicher politischer Couleur bestand – ging Muqtada al-Sadr hervor, der Mann, der 2004 mit seiner Mahdi-Armee zwei schwere Aufstände gegen die alliierten Truppen ausgelöst hatte.

Eine Zeit lang schien es in der Tat so, als kämen die demokratischen Bestrebungen der USA überwiegend ihren islamistischen Feinden und deren iranischen Schirmherren zugute. Angesichts der Wahlerfolge von Hisbollah und Hamas zog sich der Westen zurück – obgleich kein Zweifel daran bestand, dass diese Wahlen fair gelaufen waren. In einem strategisch wichtigen Land wie Ägypten, wo der verbotenen Muslimbruderschaft trotz offizieller Einschüchterungsversuche der Durchbruch gelungen war, hatte der Westen die Demokratiedebatte nicht wirklich vorangebracht. Ganz gleich, was das Regime Husni Mubaraks tut: An der Tatsache, dass Washington die ägyptische Armee alljährlich mit 1,3 Milliarden US-Dollar unterstützt, seit das Land vor dreißig Jahren Frieden mit Israel schloss, ist nicht zu rütteln.

In der Türkei stimmte das Parlament (mit einer Mehrheit der neoislamistisch-konservativen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung, AKP, die nach den Parlamentswahlen 2002 einen neuen Horizont für die friedliche Koexistenz von Islam und Demokratie eröffnete) gegen den Aufbau einer US-Nordfront gegen den Irak und handelte sich damit prompt eine öffentliche Rüge aus Washington ein. Zudem strichen die USA dem NATO-Mitglied inmitten seiner schwersten Finanzkrise seit 1949 umgehend ein bereits zugesagtes Darlehen in Höhe von rund 24 Milliarden US-Dollar.

Blicken wir nach Pakistan. Die USA und ihre Bündnispartner unterstützten und finanzierten (mit 12 Milliarden US-Dollar) die Diktatur von General Pervez Musharraf in der festen Überzeugung, nur er (und die Armee als Pakistans letzte funktionierende Institution) könne verhindern, dass sein mit Atomwaffen gerüstetes Land den Dschihadisten anheimfällt. Mullahs mit Atomwaffen – ein Schreckgespenst! Die Wirklichkeit aber zeichnet ein anderes Bild. Der Radikalislamismus bekam durch die von General Musharraf betriebene Marginalisierung der Volksparteien enormen Auftrieb, während der föderale Staat Pakistan vom Dschihadismus, von Aufständen und ethno-religiösen Konflikten auseinandergerissen wurde.

Trotz alledem: Die Wahlergebnisse zeigen, dass die Islamisten allein mit dem Rückenwind ihrer Ideologie kaum über 15 bis 25 Prozent der Stimmen erreichen (in Indonesien, Malaysia, Algerien, Marokko, Jordanien und Ägypten) – es sei denn, sie haben sich das Image von Widerstandskämpfern bewahrt (wie etwa Hamas, Hisbollah oder die Sadristen im Irak). Ihre Chancen wachsen freilich, solange der Westen als heimlicher Unterstützer despotischer Regime gesehen wird, die gegen den Islam und die Freiheit gerichtet scheinen. Den „Realisten“ sollte dies zu denken geben.

Die Türkei machte mit der triumphalen Wiederwahl der AKP bei den Parlamentswahlen 2007 vor, dass die Islamisten tatsächlich und dauerhaft zum Erfolg kommen können, wenn sie den Radikalismus über Bord werfen und an die neue Mitte appellieren, kurz: wenn sie zum muslimischen Äquivalent der Christdemokraten werden (der gescheiterte Versuch des säkularen Establishments 2008, die AKP durch das Verfassungsgericht aufzulösen und ihre Führer zu verbannen, entkräftet diese Tatsache nicht, sondern unterstreicht sie eher). Freiheit ist die unabdingbare Plattform für Erfolg, Wohlstand, Stabilität und Sicherheit – in der arabisch-muslimischen Welt ebenso wie anderswo.

Die USA und Europa müssen aufhören, arabische Despoten zu unterstützen (oder die ägyptische Armee zu finanzieren) und ihr politisches Handeln klipp und klar auf die Demokratie und deren Verfechter hin ausrichten. Dabei geht es nicht darum, die bestehende Ordnung zu destabilisieren (immer ein einfaches Rezept für die Änderung eines Regierungssystems). Vielmehr geht es darum, diejenigen Elemente zu fördern, die sie am Ende vielleicht ersetzen können. Araber und Muslime sollten zumindest erwarten können, dass die USA und ihre Verbündeten nicht jene aktiv unterstützen, die ihnen die Freiheit verwehren. Die Arroganz einer ganz unverhohlen, aber selektiv eingesetzten Militärmacht hat im Nahen und Mittleren Osten nicht nur Chaos und Verwüstung angerichtet, sie hat auch die von Bush ausgerufene Freiheitsagenda enorm in Misskredit gebracht (von dem von Blair unterstützten liberalen Internationalismus gar nicht zu reden).

Der Markt der politischen Ideen scheint anderen Märkten nicht ganz unähnlich: Mit kurzfristigen Reaktionen korrigiert man keine Auswüchse, man schießt nur meist über das Ziel hinaus. Genau das passiert derzeit mit dem westlichen Rückzug auf einen seichten und fadenscheinigen „Realismus“, der das Bestreben der Araber nach Demokratie rücksichtslos ausmanövriert und sie zurück auf ihren angestammten Platz der „Arabischen Ausnahmestellung“ verweist. Doch das wird schlichtweg nicht funktionieren.

Gewiss, kein politischer Kurswechsel zielt auf den Vormarsch der Dschihadisten. Das wäre katastrophal. Die Dschihadisten sind bereits kurz davor, die muslimische Mehrheitsmeinung und Gesellschaft zu durchdringen. Und so wie es sich derzeit darstellt, ist die westliche Politik dabei ihr zuverlässigster Verbündeter. Der beginnende Umbruch ist nicht etwa ein regelmäßig wiederkehrendes Auf und Ab in den Beziehungen zwischen West und Ost. Wenn sich der politische Kurs nicht ändert, sind Konflikte zwischen der westlichen und der muslimischen Welt auf mindestens eine Generation hinaus vorprogrammiert. Dann wird sich über die arabisch-muslimischen Länder ein neomittelalterliches Leichentuch legen – und die gemeinsamen Werte der islamischen und westlichen Welt werden zu Staub zerfallen.

Letzte Chance

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