Читать книгу Letzte Chance - David Gardner - Страница 9
Zur Einleitung
ОглавлениеAmerikas Ansehen in der Welt wiederherzustellen, ihm insbesondere in der arabisch-islamischen Welt politische Legitimation zu verschaffen, wird ein langer, harter Kampf und ist sicher nicht die leichteste der vielen dringenden und schwierigen Aufgaben, die Barack Obama in seiner historischen Präsidentschaft erwarten.
Wie Umfrageergebnisse wiederholt bestätigen, genießen die USA (sowie die westliche Welt im Allgemeinen) unter Arabern und Muslimen (tragischerweise auch unter den pro-westlich gesinnten) keinerlei moralisches Ansehen mehr. Den USA bietet sich heute die wahrscheinlich letzte Chance, ihren Rang als oberster „Hüter“ einer Weltordnung zurückzugewinnen, die auf Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gegründet ist.
Dass er dies klar erkannt hat, machte Präsident Obama bereits vor seinem Amtsantritt deutlich. In seiner Siegesrede in Chicago sagte er vor einer riesigen Menschenmenge: „Denen, die die Welt in den Abgrund stürzen wollen, sage ich: Wir werden euch besiegen. Denen, die Frieden und Sicherheit suchen, sage ich: Wir unterstützen euch. Und all denen, die sich gefragt haben, ob Amerikas Signalfeuer immer noch leuchtet, denen sage ich: Heute Nacht haben wir einmal mehr bewiesen, dass die eigentliche Stärke unserer Nation nicht von der Macht unserer Waffen oder unserem Reichtum abhängt, sondern von der andauernden Kraft unserer Ideale: Demokratie, Freiheit, Entfaltungsmöglichkeiten und nicht enden wollende Hoffnung.“
Die Wahl zum Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika hat Obama in weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens zum großen Hoffnungsträger gemacht. Er hat „harte, diplomatische Initiativen“ versprochen, ein Ende der Stümpereien und des gegenseitigen Misstrauens, die acht Jahre lang die katastrophale, verfehlte Politik George Bushs in der Region kennzeichneten. Doch wenn sich dieses Versprechen nicht rasch in einen politischen Wandel umsetzen lässt, wird es nicht mehr sein als Schall und Rauch.
Die westliche Welt muss klare Signale ihrer Absichten senden. Das heißt, die USA müssen im Nahostkonflikt eine unparteiische, aber durchsetzungsfähige Vermittlungspolitik verfolgen, die auf Sicherheit für Israel und Gerechtigkeit für Palästina zielt; die USA und Europa müssen sich um umfassende Absprachen mit dem Iran bemühen, die nicht nur den Nachbarländern des Iran Sicherheit bieten, sondern Teheran selbst ein Interesse an der Stabilität der Region; und schließlich muss es einen organisierten und friedlichen Rückzug aus dem Irak geben, der das Ende der amerikanischen Besatzung markiert und den Irakern deutlich vor Augen führt, dass es unerlässlich ist, in grundlegenden Fragen für eine gemeinsame Zukunft übereinzukommen. Nicht von ungefähr machte die Wahl Obamas die politischen Führer in Israel, dem Iran und Irak nervös.
Inzwischen dürfte auch klar sein, dass es eine Verbindung gibt zwischen den genannten politischen Schritten. Nicht nur, dass Stabilität im Irak ohne den Iran kaum möglich sein wird; vielmehr hat die Invasion des Irak und der damit verbundene Umsturz der alten sunnitischen Ordnung die Macht der iranischen Schiiten derart gestärkt, dass in der ganzen Region heute kaum ein Problem mehr ohne die Unterstützung von Teheran lösbar ist oder zumindest beigelegt werden kann – sei es in Palästina, im Libanon, in Afghanistan oder im Irak. Doch selbst wenn alle guten Vorsätze umgesetzt werden, wird der Westen damit den Vormarsch der extremen Dschihadisten begünstigen, sofern er weiterhin den Autoritarismus in der Region stützt.
Aus eben diesem Grund wird Despotie in diesem Buch ein großes Thema sein. Es geht um die besonderen Formen der arabischen Autokratie, die nicht nur das politische Scheitern der Völker im arabischen Raum herbeigeführt, sondern auch bewirkt haben, dass sie in nahezu allen entwicklungsrelevanten Belangen weit abgeschlagen sind. Und es geht darum, inwiefern die westlichen Mächte, allen voran die USA, diese Tyrannei unterstützt und gefördert haben. Falls es den arabischen Ländern sowie weiten Teilen des Nahen und Mittleren Ostens nicht gelingt, aus dieser Falle herauszufinden – so die zentrale These dieses Buches –, werden die Menschen dort über Generationen hinweg zu einem trostlosen Leben voller Verzweiflung, Demütigung und Zorn verdammt sein, was wiederum Öl gießen wird in das ohnehin bereits lodernde Feuer in einer Region, die als das gefährlichste Pulverfass der Welt gilt. Die Förderung autoritärer Systeme und die Duldung von Korruption in der Region erzeugen weniger eine Sicherung der Stabilität als vielmehr Extremismus und – in extremis – gescheiterte Staaten.
Jeder Schuss, der im Nahen und Mittleren Osten abgefeuert wird, findet einen weltweiten Widerhall. Die dortigen Krisen sind längst keine regionale Angelegenheit mehr, sofern sie das überhaupt je waren. Und das nicht nur, weil die Region auf knapp zwei Dritteln der weltweit belegten Erdölvorräte sitzt, oder wegen ihrer strategischen geopolitischen Position. Jeder Konflikt im Nahen und Mittleren Osten macht sich binnen Minuten auf dem weltweiten Erdölmarkt bemerkbar. Und aus der Erfahrung heraus fürchten wir auch die Nebeneffekte, die mittlerweile in großen wie in kleinen Wellen kommen, und zwar keineswegs nur regional, sondern auch international.
Das irrwitzige Kriegsabenteuer der Invasion und Okkupation des Irak beispielsweise hat nicht nur die Macht und den Einfluss des Iran enorm gesteigert, es hat auch den seit Langem schwelenden Konflikt zwischen sunnitischen und schiitischen Muslimen entladen, von der Levante bis zum Golf und weiter bis zum Indischen Subkontinent. Zudem hat es einen blinden, anti-westlichen Fanatismus und messianischen Dschihadismus geschürt, der sich mit Osama bin Laden verbindet.
Wir haben es heute mit einer breit gefächerten Krise zwischen der westlichen und islamischen Welt zu tun, in deren Zentrum die arabische Welt steht. Und das nicht (bei allem Respekt gegenüber Samuel Huntington, Bernard Lewis und einer ganzen Reihe gemäßigter islamophober Kommentatoren), weil es einen immanenten Konflikt zwischen Christen und Muslimen gibt. Nein, der Grund liegt darin, dass die große Mehrheit der Muslime der festen Überzeugung ist, dass der Westen an einem Krieg gegen den Islam beteiligt ist und nur darauf aus, ihnen die Freiheiten zu verwehren, die er für sich selbst beansprucht. Und dass sich sein Interesse an einer Stabilität ohnehin nur auf regionale Machthaber, auf die Sicherheit Israels und billiges Öl bezieht.
Im Kern dieser Krise geht es nicht nur um ungelöste Konflikte (in Israel/Palästina, Irak, Iran, Libanon/Syrien, Afghanistan/Pakistan und peripher auch in Tschetschenien, Kaschmir oder Xinjiang), in denen der Westen eine Position eingenommen hat, die als feindselig wahrgenommen wird, es geht auch um die Seuche der Tyrannei, die eine „Arabische Ausnahmestellung“ geschaffen hat. Während die Demokratie (wie auch immer) in den vergangenen dreißig Jahren so ziemlich jede andere Region der Welt erfasst hat – von Lateinamerika bis nach Mittel- und Osteuropa, vom südöstlichen Asien bis hinein nach Schwarzafrika –, blieben die arabischen Länder davon unberührt.
Der Westen hat durch seine Interventionen einen ganzen Kulturkreis gegen sich aufgebracht. In keiner anderen Region der Welt – nicht einmal in China – tritt der Westen mit einer derart tödlichen, herablassenden Arroganz und Respektlosigkeit die Rechte der dort beheimateten Menschen mit Füßen.
Die Autokratien, die bis heute westliche Unterstützung erfahren, unterscheiden sich zwar von Land zu Land, basieren im Grunde aber auf dem immer gleichen Fundament: auf einem Machtmonopol, das gestützt ist auf die Armee als das Rückgrat des Staates, und im Innern auf den Mukhabarat, den allgegenwärtigen Staatssicherheitsdienst, der den Machthaber an der Macht und das Volk in politischen Fesseln hält. Im Grunde lenkt der Mukhabarat den Informationsfluss zwischen Herrscher und Volk und kann damit beide umso besser manipulieren. Wie wir noch sehen werden, ist die Macht der Autokraten stark eingeschränkt, und zwar so weit, dass sie Gefangene ihrer eigenen Prätorianer sind – ein Phänomen, das den römischen Kaisern von einst wohlbekannt war und auch den islamischen Sultanen von heute. In offen theokratischen Regimen, sei es in befreundeten Staaten wie Saudi-Arabien oder in feindlichen wie dem Irak, geht die Macht zudem von den geistlichen Führern aus, was an sich nichts Ungewöhnliches ist.
Die arabischen Regime haben politische Aktivitäten quer durch alle Bereiche derart unterdrückt, dass sie ihren Gegnern keinen anderen Sammelpunkt gelassen haben als die Moscheen, was wiederum einer der ausschlaggebenden Faktoren für die brachiale Wiedergeburt der islamischen Erweckungsbewegung war. Ein weiterer war der Untergang legitimierter arabischer Herrscher, was ich in den ersten drei Kapiteln des Buches näher beleuchten werde. Nichtsdestoweniger war der Rückzug in den Islam, wie viele arabische und muslimische Autoren herausgestellt haben, für viele Menschen nicht die erste Wahl. Vielmehr haben Despotie und Intervention – und nicht zuletzt der Westen, der beides aktiv begünstigt und die stetig schwindende Schar der Liberalen in der Region übergangen hat – ihnen keine andere Wahl gelassen. Aber gerade weil der Islam für die Gesellschaft fortan so ziemlich die einzige Möglichkeit war, sich neu zu finden, sahen sich die Machthaber der Region mehr oder weniger in eine Abhängigkeit von den geistlichen Führern gezwungen. Diese „Verbindung“ sollte ihnen Legitimität geben und ermöglichen, die Islamisten (aus dem konservativen Spektrum) auszustechen. Dadurch wird jedoch in Ländern wie Ägypten auch eine schleichende Theokratie begünstigt, die, wie Strategen der Muslimbruderschaft längst erkannt haben, ebenfalls eine Form der Macht ist.
Der Westen erscheint oft blind für die Folgen seiner Günstlingspolitik. Westliche Staatsführer verschließen sich dem Gedanken, mit den Islamisten zu verhandeln, auch wenn diese trotz und entgegen allen Erwartungen Wahlerfolge feiern wie in Palästina, dem Irak, Libanon und in gewissem Maße auch in Ägypten. Hinzu kommt, dass diejenigen, die für Demokratie in der Region eintreten, dies meist in dem irrigen Glauben tun, damit würde Stabilität einkehren. Aber das ist nicht gesagt, vor allem nicht, wenn der Westen sowie dessen befreundeter Staat Israel durch politische Stümpereien und selektives militärisches Vorgehen weiterhin für Chaos und Unruhe sorgen, was in den Augen der Araber und Muslime die noch unter der Bush-Administration verkündete Freiheitsagenda schwer in Misskredit gebracht hat.
In der Tat könnte Demokratisierung letztlich den Beginn einer langen, politisch autoritären Periode markieren, die der Stabilität nur abträglich sein kann. Für mich jedenfalls steht fest, dass die einzig realistische Chance für den Westen darin besteht, das Recht der Araber auf Selbstbestimmung zu fördern oder es zumindest nicht aktiv zu behindern – ein Modell, das vermutlich sehr stark beeinflusst werden wird vom Islamismus. Die von Bush ausgerufene Freiheitsagenda, vom liberalen Internationalismus von dessen ehemaligem britischen Gefolgsmann Tony Blair ganz zu schweigen, wurde durch undurchsichtige Machenschaften und den naiven Glauben an die Effizienz der Militärmacht diskreditiert. Doch darf dies die durchschlagende Einsicht nicht schmälern, die dem Westen von al-Qaida am 11. September 2001 und durch nachfolgende Anschläge so gewaltsam beigebracht wurde: Nämlich, dass eine Tyrannei, die vom Westen geduldet wird, nicht nur Terrorismus und Instabilität sowie eine Bevormundung der Politik und des öffentlichen Lebens bedingen kann, sondern auch den Fortschritt hemmt.
Leider hat diese Einsicht nicht zu einem fundamentalen Wandel der Politik geführt, die noch immer Gefahr läuft, sich in einem seichten Realismus zu ergehen – trotz der Amtszeit von Barack Obama. Und das ist ein weiterer Grund für den schlechten Ruf, für den Mangel an moralischer Autorität und politischem Einfluss des Westens.
Die USA und Europa müssen aufhören, arabische Despoten zu unterstützen, sie müssen aufhören, die Diktatur in Ägypten oder die Monarchie in Saudi-Arabien kritiklos mitzutragen, und sie müssen Wege finden, die arabischen Gesellschaften für das zu öffnen, was diese am Westen nach wie vor attraktiv finden. In der Praxis hieße dies, alle Möglichkeiten zu nutzen, zivilgesellschaftliche Modelle zu favorisieren, wie beispielsweise die Förderung des Bildungswesens, das Recht auf Bildung für Frauen oder den Aufbau funktionierender Institutionen für eine auf einer rechtsstaatlichen Ordnung basierende Gesellschaft, die radikale Ausrichtung hin zu einer Demokratie und deren Verteidigungsapparat. Sie müssen aufhören, die ägyptische Armee zu finanzieren, und jegliche Unterstützung gewaltsamer Anschläge Israels auf benachbarte Staaten einstellen.
Die Unterstützung demokratischer Werte ist der Kern dessen, was Joseph Nye in seinem Buch The Paradox of American Power als soft power bezeichnet, als ein Konzept der „weichen Macht“: „andere dazu zu bringen, das zu wollen, was man selbst will“, anstatt sie mit militärischer und wirtschaftlicher Macht dazu zu zwingen. Alles andere als das Konzept der soft power signalisiere Arabern und Muslimen, man verweigere ihnen die Demokratie, sollten sie die Islamisten unterstützen, gerade so wie viele lateinamerikanische, asiatische und afrikanische Staaten sich westliche Diktatoren gefallen lassen mussten, wenn sie – tatsächlich oder nur vermeintlich – die Kommunisten unterstützten.
Demokratie als Basis einer guten Regierung ist von unschätzbarem Wert, wie eine Reihe arabischer Entwicklungsberichte im Rahmen des UN-Entwicklungsprogramms aus dem Jahr 2002 zeigt. Es gibt zwar keinen ursächlichen Zusammenhang und Beleg dafür, dass sich eine Demokratie in hohen Wirtschafts- und Einkommensraten niederschlägt. Deutlich wird jedoch, dass in einer Demokratie Kriege und Bürgerkonflikte eher vermieden werden, vor allem aber, dass der Aufbau von Institutionen und Rechtsgrundsätzen – das Stützwerk der Demokratie – große entwicklungsrelevante Fortschritte mit sich bringt, staatliche Stabilität inbegriffen. Und genau hierauf sollten sich alle Anstrengungen des Westens konzentrieren. Natürlich müssen die Menschen die Demokratie wollen, damit sie überhaupt eine Chance hat. Aufgabe des Westens wird es sein, die Menschen zu öffnen für das, „was wir wollen“. Und das ist bislang nicht geschehen.
In diesem Buch werde ich die Aspekte der arabischen politischen Ordnung untersuchen, die das fortdauernde Scheitern der arabischen Länder meiner Ansicht nach am besten erklären und illustrieren – sei es die Unfähigkeit, den Menschen Fortschritt und Bildung zu bringen oder arabischen Boden zurückzugewinnen und damit den Arabern eine geachtete Stimme in der Welt zu verschaffen. Es gibt kein Modell mit Erfolgsgarantie, und ich habe nicht die Absicht, die ganz unterschiedlichen Erfahrungen so zurechtzubiegen, dass es eines ergibt. Die jüngste Geschichte der Region zeugt von ständigen Drehungen und Wendungen im Strom der Macht, von einem ständigen Auf und Ab. Der Kontext mag in Kairo, Beirut und Riad ein jeweils anderer sein, die Notwendigkeit eines politischen Wandels jedoch ist allen gemein. Ich will versuchen, die charakteristischen Besonderheiten der einzelnen Regime sowie die Erfahrungswelt des Iran, Pakistans oder auch der Türkei, mit der sie beispielhaft verglichen werden können, zu berücksichtigen. Ich werde die Aspekte herausgreifen, die im politischen Verhalten und Zusammenspiel mit dem Westen letztlich nicht mehr bewirkt haben als den Fortbestand der Regime und ein Anwachsen des angestauten Volkszorns ob fremdländischer Interventionen. Dabei scheint mir die Despotie das größte strukturelle Hindernis auf dem Weg zu Reformen – und dass westliche Politik nichts dazu tut, die Stabilität zu stärken.
Genau das muss sich ändern. Es geht nicht um die Frage eines „Regimewechsels“ oder darum, die bestehende Ordnung aktiv zu destabilisieren. Anstatt autoritäre Systeme aus kurzfristigem Profitstreben heraus finanziell zu stützen, muss die westliche Politik Mittel und Wege finden, jene Elemente in der arabisch-islamischen Gesellschaft zu beleben und zu fördern, die dafür ein Ersatz sein könnten.
Strategisches Denken muss politische Parolen ersetzen. Auf den ersten Blick markige und rhetorisch schlagkräftige Politslogans wie „Kurs halten“ sind bloße Vernebelung: Die Titanic hielt Kurs, Lemminge halten Kurs. Der „Kurs“ ist es, der dringend einer Neuausrichtung bedarf. Ein weiteres beklagenswertes Beispiel ist das schludrige Vorgehen beim „Globalen Anti-Terror-Krieg“, das es Moskau, Delhi und Peking überdies ermöglicht hat, regionale Konflikte, in die Muslime in Tschetschenien, Kaschmir und Xinjiang verwickelt sind, neu einzustufen. Beispielsweise war Kaschmir nach dem Terroranschlag im November 2008 auf Mumbai kein rein regionaler Konfliktherd mehr mit potenziell lenkbaren Missständen. Vielmehr war die Region auf einer breiteren Basis verquickt und mit dem internationalen Dschihadismus konfrontiert.
Es gibt einen eindeutig identifizierbaren Feind – den internationalen Dschihadismus –, den es zu isolieren gilt, bevor er weiter in das gesellschaftliche und kulturelle muslimische Leben vordringt. Osama bin Laden hat uns, wie ich behaupten möchte, wenigstens einen „Gefallen“ getan, insofern er einen fast ein Jahrhundert währenden Status quo zerschlagen hat: Seit dem 11. September ist es politisch nicht mehr vertretbar, westliche Unternehmungen im Nahen und Mittleren Osten auf die Netzwerke arabischer Machthaber und die bedingungslose Unterstützung Israels zu gründen.
Fast die gesamte arabische Welt durchläuft derzeit einen historischen Tiefpunkt, an dem der Westen ansetzen muss. Die USA und ihre Verbündeten, sei es durch aktives oder passives Mitwirken, betreiben politische Strategien, die 1,2 Milliarden Muslime weiterhin verprellen, und das zu einer Zeit, da sie sich selbst gewaltigen strategischen Herausforderungen stellen müssen; etwa dem Aufstieg Chinas, dem Wiedererwachen des russischen Nationalismus oder dem drohenden Klimawandel und der Sicherung der Energieversorgung (von der Krise, die sich zur schwersten Finanzkrise entwickelt hat, die es in den vergangenen knapp einhundert Jahren gab, gar nicht zu reden). Die USA müssen ihre Legitimität und moralische Autorität in der arabisch-islamischen Welt wiedererlangen. Doch das erreichen sie nicht durch die Unterstützung von Tyrannen, durch wahllose Kriege oder Komplizenschaft beim Landraub durch Israel.
Der Westen muss klare Signale senden: Die USA müssen eine unparteiische Vermittlungspolitik im Nahostkonflikt verfolgen, die am Ende den Israelis Sicherheit und den Palästinensern Gerechtigkeit bringt. Die USA und Europa müssen die tief sitzenden Feindseligkeiten der Vergangenheit begraben und umfassende Absprachen mit dem Iran erzielen. Und es muss einen organisierten und friedlichen Rückzug aus dem Irak geben, der die amerikanische Besatzung beendet.
Anlass zur Hoffnung gibt es reichlich. Die Türkei z. B. hat gezeigt, dass sich ein politischer Islam durchaus entwickeln kann. Die dort regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) wurde als Nachfolgepartei aus den Trümmern zweier gescheiterter islamischer Parteien neu gebildet und hat sich zu einer Art muslimischem Pendant der christdemokratischen Parteien entwickelt, die in der arabisch-islamischen Welt weithin Bewunderung erfährt, und zwar nicht als Modell an sich, sondern weil sie funktioniert. Erfolg verkauft sich!
Der Islamismus im arabischen Kerngebiet hingegen wird sich eher so entwickeln, dass er mit staatlichen Institutionen und einer funktionierenden Rechtsstaatlichkeit vereinbar ist. Und dies umso mehr, wenn die US-Regierung zusammen mit ihren Verbündeten die Vorgehensweisen in den Mittel- und Nahostregionen neu überdenkt. Im Zuge dessen sollten auch die US-Beziehungen zur arabischen Welt überprüft werden, was einen weiteren Nachteil dessen offenbart, was ich den „Arabischen Ausnahmezustand“ nenne. Im Gegensatz zum Umgang mit fast allen anderen Ländern unterhält Washington keinerlei institutionelle Beziehungen zu arabischen Ländern (und deren Anrainern). Es verkehrt bevorzugt mit arabischen Machthabern und Regimen – nicht selten in Form von „Währungen“ wie Öl oder Waffen. Dies gilt auch für nicht-arabische Teile der Region, wo es Beziehungen gab zum Schah im Iran oder zu General Pervez Musharraf in Pakistan, mit absehbaren, mehr oder weniger chaotischen Folgen nach dem Sturz der Machthaber.
Die fatale Attraktion, die der Westen für autoritäre Machthaber hat, ist weder attraktiv noch (außer vielleicht vorübergehend) erfolgreich. Wer sich nach dem politischen Status quo ante sehnt, der existierte, bevor Bush beschloss, die Region auf seine ganz eigene destruktive und inkompetente Art und Weise zu erschüttern, der sollte sich zwei Dinge bewusst machen: Es gibt diesen Status nicht mehr; er war zu einer Maschinerie geworden, die im besten Fall zu einem Stillstand, im schlimmsten zu einem totalen Scheitern geführt hat. Amerikafreundliche Autokratien aber, die ähnlich bedeutsam sind wie Ägypten oder Pakistan, nehmen ein Scheitern als Staat lässig in Kauf. Den Nahen und Mittleren Osten so weitermachen zu lassen in dem Glauben, es sei schlicht besser, zeitweilige Krisen irgendwie zu deichseln, ist keine politische Option. Es ist ein Risiko, das viel zu hoch ist.
Wie gesagt: Wenn wir im Westen die Tyrannei weiterhin stillschweigend dulden, begünstigen wir damit letztlich die Dschihadisten. Und wir verurteilen den Nahen und Mittleren Osten damit zu Gewalt, Stagnation und einem möglichen Scheitern, wofür wir ebenfalls einen hohen Preis zahlen werden. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, das Ruder herumzureißen. Wir müssen anfangen – sofort.