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II Der Despot in seinem Labyrinth

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Mein gefährliches Leben (engl. Originaltitel: Uneasy Lies the Head) lautet der Titel der Autobiographie des verstorbenen König Hussein von Jordanien. Stets freundlich (und seinerseits dem abendländischen Kulturkreis nie gefährlich), war Hussein der arabische „Lieblingsdespot“ des Westens. Er überstand zahllose Verschwörungen, Putschversuche und Aufstände im eigenen Land, drei arabisch-israelische Kriege, zwei Golfkriege und einen palästinensischen Bürgerkrieg, und er entging im Laufe seiner 46-jährigen Herrschaft über das Wüstenkönigreich rund einem Dutzend Mordanschläge.

Dieses Königreich hatten die Briten als Pufferstaat zwischen dem arabischen Osten und dem jüdischen Siedlungsgebiet in der Levante errichtet, und dementsprechend war es von Anfang an Übergriffen seiner Nachbarstaaten wie Israel, Irak und Saudi-Arabien ausgesetzt. Und auch der jordanische König selbst wurde immer wieder von arabisch-nationalistischen Rivalen wie Gamal Abdel Nasser in Ägypten, Hafez al-Assad in Syrien oder Jassir Arafat von der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) angegriffen.

Der haschemitische Monarch Hussein, ein direkter Nachfahre des Propheten Mohammed und der Scharifen von Mekka, die die arabische Revolte gegen das Osmanische Reich angezettelt hatten, war stets von der Legitimität seiner Herrschaft überzeugt und strahlte dies auch aus. Um an der Macht zu bleiben, war er, wenngleich der weltoffenste aller arabischen Alleinherrscher, dennoch auf das Militär und seine allgegenwärtige Geheimpolizei, den Mukhabarat, angewiesen. Auch für den liberal gesinnten, charismatischen König war die Armee die wichtigste Institution im Land.

Diese Tatsache schmälert nicht automatisch den Wert seiner oft liberalen politischen Gesinnung. Er verfügte über Fähigkeiten, die für das politische Überleben im Nahen und Mittleren Osten unabdingbar sind: einen kühlen Kopf, stoische Ruhe und Nerven wie Drahtseile, die Wandelbarkeit eines Chamäleons und die (durchaus berechnende) Großzügigkeit eines Stammespatriarchen sowie die schonungslose Härte eines Militärkommandanten.

Alles Genannte zeigt nur, dass sich selbst ein Veränderungen gegenüber aufgeschlossener Führer, ein königlicher Populist, der das Wort „Demokratie“ in den Mund nehmen konnte, ohne das Gesicht zu verziehen, ein Monarch, der bereit war, (zumindest etwas) von seiner Macht mit den Islamisten zu teilen, letztlich nicht grundlegend von anderen Machthabern unterschied.

Auf dem Totenbett bestimmte der König nicht etwa seinen belesenen Bruder Hassan zu seinem Nachfolger, der 34 Jahre lang sein engster Vertrauter gewesen war. Er übergab das Szepter vielmehr an seinen Sohn Abdullah, den jungen Befehlshaber der jordanischen Elitetruppen und Absolvent der britischen Militärakademie Sandhurst, der als Generalmajor zwischen Armee und Geheimdiensten stand. Trotz der dynastischen Intrigen (fast fühlt man sich an ein Stück von Shakespeare erinnert), die sich während der letzten Krankheit des Königs im Palast entspannen, wobei Husseins und Hassans Gemahlinnen nichts unversucht ließen, den Thronanspruch ihres jeweiligen Sohnes (der zu jener Zeit noch im Teenageralter befindlichen Prinzen Hamza und Rashid) durchzusetzen, war es die traurige Realität der arabischen Politik, die letztlich den Ausschlag für seine Entscheidung gab.1

In einem zornigen Brief – der ungewöhnlicherweise veröffentlicht wurde – beschuldigte König Hussein seinen Bruder, die Herrscherposition benutzt zu haben, um sich in militärische Angelegenheiten einzumischen. Dabei hatte der in Oxford ausgebildete Prinz Hassan mit der Armee ebenso wenig zu schaffen gehabt wie mit den gewöhnlichen Bürgern Jordaniens, die von dem missliebigen Frieden mit Israel enttäuscht waren, der ihnen nicht den vom König – wohl vorschnell – versprochenen besseren Lebensstandard brachte.

In dem von ihm gewählten Nachfolger, der politisch zwar unerfahren, aber ein Vollblut-General war, sah Hussein einen sehr viel geeigneteren Lotsen, um das Land durch die bewegten Wasser der Zukunft zu steuern.

Wenn die Monarchie die bestimmende Staatsform Jordaniens ist, hängt das Fortbestehen des Landes von seiner Armee ab. Es ist eine Stammesarmee, bestehend aus Bewohnern des Westjordanlands (sprich einheimischen Jordaniern), und das in einem Land, wo gut zwei Drittel der Bevölkerung ursprünglich Palästinenser sind, die nach der Staatsgründung Israels 1948 und der israelischen Besetzung der Westbank und Ostjerusalems 1967 in das heutige Jordanien übersiedelten. Diese Armee aus beduinischen Loyalisten bildet das Fundament der haschemitischen Herrschaft.

Die Armee hat ihren Ursprung in der Arabischen Legion (al-Jaish al-Arabi), die von den Briten im Jahr 1920 ins Leben gerufen wurde, um das damalige Emirat Transjordanien gegen die marodierenden saudischen Wahhabiten zu verteidigen, und formte sich dann in einem dreißigjährigen Dschihad. Für den jungen König Hussein, der mit 17 Jahren den Thron bestieg, wurde sie zu einem wichtigen Mittel, die politisch unsichere Lage des Landes in den Griff zu bekommen.

Endgültig festigen konnte Hussein seine Machtposition aber erst 1956, als er die Arabische Legion „arabisierte“, indem er schwelende nationalistische Tendenzen innerhalb des Offizierskorps dadurch ausmerzte, dass er den legendären Oberbefehlshaber der Armee John Bagot Glubb (genannt Glubb Pascha) sowie sämtliche britischen Generäle entließ. „Husseins Grund dafür, Glubb zu entlassen, war seine Furcht, von der nationalistischen Bewegung überrannt zu werden, wenn er sich nicht selbst an ihre Spitze stellte“, schreibt Avi Shlaim in seiner brillanten Biographie des Königs. Und weiter: „Die Arabische Legion war die stärkste nationalistische Einrichtung in Jordanien, doch sie stand unter Führung altgedienter Offiziere, die ihre Loyalität gegenüber Großbritannien nicht aufgeben konnten.“2

Von diesem wagemutigen Schritt in jungen Jahren – Hussein war damals gerade 21 – gegen die britische Kolonialmacht bis zu der auf dem Totenbett getroffenenen Entscheidung, seinen Bruder Hassan von der Thronfolge auszuschließen, waren solche Aktionen kennzeichnend für Husseins Herrschaft: ein geschickter Autoritarismus, der letztlich von seiner Armee getragen wurde.

Obgleich sichtlich erbost über die Palastintrigen in Amman, die er aus den USA verfolgte, wo er sich einer Krebsbehandlung unterzog, war König Husseins Entscheidung hinsichtlich seiner Nachfolge rein strategisches Kalkül. Er hatte auf einen regionalen Frieden gesetzt, in dem sich Jordanien, gemeinsam mit Israel und den Palästinensern, zu einem florierenden Wirtschaftsstaat mit gesunder Mittelschicht entwickeln würde. Doch diese Rechnung ging nicht auf, und auch der Friedensprozess geriet ins Stocken. Hauptgründe waren die Ermordung des israelischen Premierministers und Friedensarchitekten Jitzchak Rabin 1995 durch einen jüdischen Fanatiker, die nachfolgende Wahl Benjamin Netanjahus zum Ministerpräsidenten – an der Spitze einer hochgradig nationalistisch orientierten Regierung – sowie eine überwältigende Ablehnung des Friedensvertrags mit Israel von 1994 im eigenen Land.

Mit am unglücklichsten über den Vertrag waren die einheimischen Jordanier, weniger die palästinensische Mehrheit, die den Haschemiten gemeinhin als das größte inländische Sicherheitsrisiko galt. Prinz Abdullah, der an der Spitze seiner Elitetruppen 1996 die Brotaufstände im loyalistischen Süden des Landes unterdrückt hatte, war eher zuzutrauen, die Probleme energisch anzupacken, als dem bedächtigen Prinz Hassan.

Wie ein jordanischer Historiker formulierte, erkannte König Hussein schon sehr früh „die Besonderheiten seiner eigenen Vorzüge und Verpflichtungen“ und „achtete stets darauf, nur innerhalb seiner Grenzen zu operieren“.3

1989 hatte Hussein – abgesehen von einem kurzen Zwischenspiel 1962/63 – die ersten jordanischen Parlamentswahlen seit 1957 abgehalten; damals war jeder Anschein von Demokratie aufgegeben worden, als der junge König mit seiner Beduinenarmee Nasseristische Unruhen sowie eine Reihe von Putschversuchen niederschlug. Damit ging er ein sorgfältig kalkuliertes Risiko ein.

Gewinner dieses Experiments einer gelenkten Demokratie waren die Islamisten, die sich vorwiegend innerhalb des jordanischen Ablegers der pan-islamistischen Muslimischen Bruderschaft (al-Ikhwan al-Muslimeen) sammelten, der später formell die Bezeichnung Islamische Aktionsfront (IAF) erhielt. Mit 34 von 80 Sitzen stellten die Islamisten den größten und einzigen ideologisch zusammenhängenden Block. 1990/91 ging der König noch einen Schritt weiter und holte vier Muslimbrüder in das Kabinett.

Doch zunächst verpflichtete er die Führerschaft der Islamisten mittels einer Nationalcharta zum konstitutionellen Konsens. Mit dieser Nationalcharta war der Kurs in Richtung gelenkte Demokratie abgesteckt. Darüber hinaus stellte sie den Islam als nur eine Quelle politischer Legitimität neben die Rechtsansprüche des jordanischen Patriotismus und arabischen Nationalismus sowie universelle Werte.4 Bis heute gilt die Jordanische Nationalcharta, die den Entwicklungen anderswo in der Region entgegenlief, als eines der wichtigsten politischen Dokumente der modernen arabischen Welt.

Ein paar Beispiele dazu: 1982 brach in der syrischen Stadt Hama ein Aufruhr der Muslimischen Bruderschaft aus, woraufhin das dortige Militär die halbe Stadt niederwalzte und schätzungsweise 20 000 Menschen tötete. In Ägypten, wo die Bruderschaft 1928 gegründet worden war, schlugen die Militärs kurz darauf einen radikalislamischen Aufstand nieder und nutzten diesen fortan als Vorwand für ihr weiteres brutales und rigoroses Vorgehen gegen die (in Ägypten illegale) Bruderschaft. Jordanien hingegen agierte nach der Devise, dass die breite Masse der Islamisten eine politische Kraft sei, an der man nicht vorbeikomme und die es deshalb in das demokratische Rahmenwerk einzubinden gelte.

König Hussein selbst sah seine demokratischen Ambitionen stets eng an die tribalen und militärischen Wurzeln seiner Herrschaft geknüpft. Seine freundschaftliche Beziehung zur Bruderschaft geht auf die 1950er-Jahre zurück, als er aus verschiedenen Gründen eine Gegenkraft zur Nasseristischen Linken brauchte. Während alle sonstigen politischen Aktivitäten ab 1957 ausgesetzt wurden, erhielt die Bruderschaft, deren Führungsschicht sich traditionell aus angesehenen Familien aus dem Ostjordanland rekrutiert, einen Rechtsstatus knapp unterhalb einer politischen Partei, was ihr für drei Jahrzehnte ein informelles politisches Monopol sicherte.

1990/91 erlebte Jordanien eine Phase internationaler und regionaler Isolation. In dieser Situation traf der König eine strategische Entscheidung, die vor allem bei der Bevölkerung großen Anklang fand: Er verweigerte der US-geführten und arabisch-unterstützten Koalition im ersten Golfkrieg seine Hilfe, Saddam Hussein gewaltsam aus Kuwait zu vertreiben. Dafür zahlte er freilich einen hohen Preis. Um das System zu stabilisieren, unterstützte König Hussein die Bruderschaft. Als diese und die IAF jedoch begannen, eine eigene, vom Palast unabhängige Agenda zu verfolgen, änderte er kurzerhand die Spielregeln und erließ neue Wahlgesetze, um auch künftig die Mehrheit der beduinischen Loyalisten und Stammesfürsten im Parlament zu garantieren. Und als der Frieden mit Israel auf zunehmend mehr Unmut stieß, ruderte der König mit seinen demokratischen Reformen wieder zurück und beschränkte den politischen Wandel auf jährliche, aber weitgehend bedeutungslose Regierungswechsel (in 46 Jahren gab es 56 Ministerpräsidenten).

Dieses Vorgehen führte zu umfangreichen Veränderungen im Land. Das Verhalten König Husseins – sei es aufgrund mangelnder Nervenstärke oder purem Machterhaltungstrieb – machte die Chance zunichte, neue Formen der (demokratischen) Legitimität zu entwickeln.

So sehr König Hussein seinen politischen Opportunismus den anderen arabischen Herrschern auch als Modell anpries, konnten diese doch hinlänglich erkennen, was er damit bezwecken wollte. Im Grunde spielte er kein anderes Spiel als die deutlich weniger „milden“ Despoten der Region.

***

Wie in Kapitel I erwähnt, gibt es drei Merkmale, die die arabischen Regierungssysteme kennzeichnen: Sie alle sind autokratisch geführt, sie basieren auf der Macht des Militärs und des Mukhabarat, und ihre Führer befinden sich in einer Legitimitätskrise. Selbst ein Regent wie König Hussein, der scheinbar alle politische und religiöse Legitimität besaß, konnte oder wollte seine Macht nicht allein darauf bauen, und auf ein demokratisches Lotteriespiel schon gleich gar nicht. Er ging auf Nummer sicher und setzte auf die Armee. Von einer solchen Legitimitätskrise sind alle arabischen Herrscher betroffen, manche mehr, manche weniger – sie ist der Kern des Dramas in der arabischen Region: ideologisch, politisch und religiös.

In ideologischer Hinsicht entstand ein Vakuum, da Programme wie der Panarabische Nationalismus (unter Nasser in Ägypten, in den Baath-Parteien in Syrien und dem Irak oder in der „Nationalen Befreiungsfront“, FLN, der algerischen Einheitspartei) und der „Arabische Sozialismus“ (Staatskapitalismus mit sozialistischem Duktus und einigen Landreformen) es nicht schafften, den wirtschaftlichen Fortschritt oder die Rechte der Araber in Palästina voranzubringen.

Der Panarabische Nationalismus, das sollten wir uns an dieser Stelle ins Gedächtnis rufen, erlangte in den rund drei Jahrzehnten zwischen Zweitem Weltkrieg und dem arabisch-israelischen Krieg 1967 in der gesamten arabischen Welt politische Vorrangstellung. Viele seiner Theoretiker und etliche seiner Führer – wie Michel Aflaq, syrischer Mitbegründer der Baath-Partei (Arabische Sozialistische Partei der Wiedererweckung) – waren Christen, die Missionarsschulen und westliche Universitäten besucht hatten. Zwei prominente PLO-Führer, George Habash und Nayef Hawatmeh, waren Christen. Und auch George Antonius, der erste arabische Historiker des arabischen Nationalismus und Autor des bahnbrechenden Werkes The Arab Awakening (1938), war Christ.

Der Westen – wir befinden uns im Kalten Krieg! – sah im Panarabismus ein nützliches Gegengewicht zum Einfluss des Kommunismus, der im Irak (dort vor allem bei den Schiiten) große Bedeutung hatte und zeitweise auch in Syrien und Ägypten eine gewichtige Rolle spielte. In geringerem Maße galt dies auch für das Jordanien König Husseins, wo man es für vorteilhaft erachtete, ihn zu einer Bedrohung für die gesamte Region aufzubauschen. Gleichzeitig wurde der Panarabismus von islamischen Erneuerern als ausländischer Versuch begriffen, in Nachahmung westlicher Aufklärungstradition und europäischer Nationalstaatsgedanken des 19. Jahrhunderts die islamische Identität zu unterminieren. Die Islamistische Dawa-Bewegung im Irak etwa wurde teils als Reaktion auf den Kommunismus gesehen, teils als Replik auf den säkularen republikanischen Nationalismus. Die panarabischen ‚Revolutionen‘ in Ägypten, Syrien und dem Irak (in Wirklichkeit Putschversuche, die von gelenkten sozialen Unruhen begleitet wurden) reichten freilich aus, um diese Länder von ihren Eliten zu befreien und die Entstehung einer nationalen Bourgeoisie und deren normale Begleiterscheinung, die bourgeoise Demokratie, im Keim zu ersticken. An ihre Stelle trat vorrangig die Armee.

Diese neuen, angeblich ur-islamischen panarabischen Ideologien und ihre visionären Führer traten mit dem Anspruch auf, die Araber ein für allemal aus der Kolonialherrschaft zu befreien und sie zu befähigen, ihre Geschicke selbst in die Hand zu nehmen. Ihren Höhepunkt erreichten sie mit der Suezkrise 1956, als Großbritannien und Frankreich in Reaktion auf Nassers Verstaatlichung des Suezkanals nach geheimen Absprachen mit Israel ägyptisches Staatsgebiet besetzten, auf massiven Druck der USA hin jedoch wieder abziehen mussten. Für einen kurzen Moment schien es, als hätte ein selbstbestimmter, moderner und republikanischer Nationalismus die arabische Welt erfasst; ein kolonialer Vorstoß der Europäer in die Region war erfolgreich abgewehrt, und zwar in Abstimmung, wenn nicht gar in Allianz mit den USA.

Was folgte, waren zehn Jahre großer Worte und politischer Improvisationen, in denen arabische Führer immer wieder aneinandergerieten, ihre Völker gegeneinander aufstachelten, wobei die Konflikte sich im Rahmen des Kalten Kriegs zwischen dem Westen und der Sowjetunion hochschaukelten. Und letzlich fackelte das panarabische Gebäude in der vernichtenden Niederlage des Sechstagekriegs mit Israel 1967 buchstäblich ab. Der Panarabismus, der nationale Agenden und den Machtwillen der islamisch verwurzelten neuen Eliten verschleierte, erwies sich als ein grausames Blendwerk.5

Die Araber, für die ihre riesigen Erdölvorkommen Fluch und Segen zugleich sind, sehen sich permanenten Einmischungen von außen – sowie wiederholten Niederlagen vonseiten der Israelis – ausgesetzt, denen sie aufgrund ihrer wirtschaftlichen und politischen Rückständigkeit kaum etwas entgegenhalten können. Die Arabische Liga hat es nicht geschafft, echten Zusammenhalt, eine konstruktive und souveräne Identität zu fördern oder den Arabern eine geachtete Stimme auf der weltpolitischen Bühne zu verleihen. Überdies gibt es keinen Führer, der über die moralische Autorität verfügte, für alle Araber zu sprechen. Die groteske Inszenierung Saddam Husseins, der sich in den 1980er- und 1990er-Jahren als „Schwert der Araber“ stilisierte, eine direkte Abstammungslinie zum Propheten Mohammed konstruierte und sich zum Erben Saladins und Nebukadnezars, der Eroberer von Jerusalem, erklärte, zeigt die Bodenlosigkeit dieses Vakuums, dieses politischen Nichts.

Anfangs sah es ganz danach aus, als könnten die feudalen Monarchien am Golf, in Jordanien und Marokko von der Hohlheit der Nassers und Saddams profitieren. Langfristigere Gewinner dürften jedoch die islamistischen Erneuerer sein, die in dieses Vakuum vorstießen, die gefallenen Banner des Nationalismus aufgriffen und ihre eigene amorphe Ideologie als Befreiungstheologie verkauften.

Paradoxon dieser Legitimationskrise ist, dass die Islamisten dabei von eben jenen arabischen Regimes Unterstützung erfuhren, die sie rigoros unterdrückten. Warum? Weil die vom Westen gehätschelten arabischen Herrscher es zumeist versäumten, Einrichtungen aufzubauen, die erfolgreiche moderne Gesellschaften zum Leben brauchen, und weil sie die Bürger nicht mit einbezogen. Damit leisteten sie dem Sirenengesang der Fundamentalisten Vorschub. Der Slogan der Muslimbruderschaft bringt es auf den Punkt: „Der Islam ist die Lösung“. Überdies war die Unterdrückung sämtlicher Oppositionsgruppen quer durch das politische Spektrum derart radikal, dass ihren Gegnern nur Moscheen als Rückzugs- und Versammlungsorte blieben. Ägypten beispielsweise konnte zwar in den 1990er-Jahren einen islamistischen Aufstand niederschlagen, gleichzeitig jedoch entstanden bis Mitte des gleichen Jahrzehnts schätzungsweise 40 000 nicht genehmigte Moscheen.6

Gewiss, kein arabischer Führer kann im Kommunikationszeitalter die öffentliche Meinung ignorieren. Aber es stimmt auch, dass die Art und Weise, in der die arabischen Machthaber die politische Mehrheitsmeinung unterbanden, den gewaltbereiten Strömungen Auftrieb gab, die, durch die Moscheen kanalisiert, den Islamisten letztlich das Monopol auf abweichende Meinungen verliehen. Ein Minister aus Bahrain formulierte es mit Bezug auf die muslimischen Gebetszeiten so: „Keine andere Partei hat die Möglichkeit, mit den Massen derart in Berührung zu kommen – fünfmal am Tag, Tag für Tag, Jahr für Jahr.“7

Hinzu kommt, dass arabische Herrscher durch opportunistische Allianzen mit Islamisten den politisch-religiösen Extremismus unterstützten – ein Problem, das man seit einem guten halben Jahrhundert im gesamten Nahen und Mittleren Osten findet.

In den 1970er-Jahren benutzte Anwar as-Sadat, der 1981 von Islamisten aus seiner eigenen Armee ermordet wurde und im Westen und Israel als Musterbeispiel arabischer Mäßigung galt, die Islamisten (darunter die damals noch in den Kinderschuhen steckende militante ägyptisch-islamistische Bewegung al-Dschamaa al-Islamiyya, die später die Aufstände der 1990er-Jahre anzetteln sollte) dazu, Linke und Nasseristen an den Universitäten des Landes auszumerzen. Auch König Hussein paktierte, wie erwähnt, schon in den 1950ern mit der Muslimbruderschaft, um die Nasseristen in Schach zu halten. Und Israel, das viele der politischen Gewohnheiten seiner arabischen Nachbarn übernommen hat, verfuhr nicht anders und erteilte in den 1980er-Jahren der Muslimbruderschaft in den besetzten Gebieten einen Freibrief, um ein Erstarken von Jassir Arafats PLO zu vereiteln. Eine kurzsichtige Politik freilich, wie sich bald herausstellte, da die Palästinensische Bruderschaft die Hamas ins Leben rief, bis heute Israels unerbittlichster Feind.8

Die saudische Herrscherfamilie, die jegliche islamistische (oder anderweitige) Anfechtung ihres Machtmonopols rigoros unterdrückt, versucht seit fast vierzig Jahren, außerhalb des Landes Einfluss und innerhalb des Landes Legitimation zu gewinnen, indem sie Moscheen und Einrichtungen der Wahhabiten finanziert. Allein während der Herrschaft König Fahds, so ließ Riad verlauten, habe man 1359 Moscheen im Ausland gegründet, dazu 202 Hochschulen, 210 islamische Zentren und mehr als 200 Schulen.

Die Saudis unterstützten auch islamistische Gruppierungen (darunter die Muslimbruderschaft) quer durch die muslimische und die westliche Welt. So wurde der Anschlag auf die Große Moschee in Mekka 1979 (der zu einer blutigen Belagerung führte, die das gesamte Königreich und die Dynastie al-Saud tief erschütterte) von religiösen Extremisten ausgeführt, die unter dem Einfluss der Muslimbruderschaft standen.9

Etwas weiter entfernt paktierte die Regierung Tansu Cillers, die Anfang der 1990er-Jahre als Ministerpräsidentin einer selbstsicheren und weltlich orientierten Türkei zum Liebling des Westens avancierte, mit islamistischen Paramilitärs im erbitterten Kampf gegen kurdische Separatisten im Südosten des Landes – ein Zweckbündnis, das sich später, im November 2003, mit den Al-Qaida-Bombenanschlägen in Istanbul rächen sollte.

In Pakistan investierten Militärkommandanten, selbst die liberalen unter ihnen, aus zwingenden taktischen Gründen in den Dschihadismus. Militante islamistische Truppen, die selten mehr als ein paar tausend Köpfe zählten und die Selbstbestimmung Kaschmirs forderten, schafften es gar, eine 500 000 Mann starke indische Armee im Tal von Kaschmir festzunageln, die zuvor pakistanische Truppen geschlagen hatte. In Afghanistan und entlang der pakistanischen Grenze führten die gleichen dschihadistischen Netzwerke bis zu den Taliban in Afghanistan – ein Gebiet, das viele pakistanische Generäle für unabdingbar erachten, um „strategische Tiefe“ gegenüber Indien zu erlangen.

Das folgenschwerste Beispiel des Schmusekurses mit dem Fundamentalismus war natürlich die Unterstützung (u. a. durch Waffenlieferungen) des Dschihads gegen die Sowjetunion in den Jahren 1979–89 durch die USA. Saudi-Arabien steuerte Freiwillige bei, Pakistan die Logistik. Washington zögerte nicht, seine im Kalten Krieg begründeten Ziele unter dem Deckmäntelchen des Heiligen Kriegs der Mudschaheddin fortzusetzen. Ergebnis dieses Abenteuers waren jene Zehntausende kampferprobten „arabisch-afghanischen“ Freiwilligen – viele von Osama bin Laden rekrutiert –, die heute weltweit als al-Qaida bekannt sind: eine überall und nirgends ansässige Internationale von Gotteskriegern, für die zum großen Teil die USA mitverantwortlich sind.10

Auch das ist freilich nicht wirklich neu. Als Großbritannien und die USA die nationalistische Regierung Mohammad Mossadeghs im Iran 1953 erfolgreich stürzten und den Schah wiedereinsetzten, holte die CIA mehrere Ayatollahs aus der heiligen Stadt Qom, um in einem gemeinsamen Dschihad gegen den gottlosen Kommunismus anzutreten. Der Rest ist Geschichte. Nach dem Triumph der Ayatollahs in Teheran 1979 wandten sich der Westen und seine arabischen Verbündeten dem mächtigsten aller Machthaber, Saddam Hussein, zu und boten ihm finanzielle und militärische Unterstützung für seinen Krieg gegen den Iran 1980–88 an. Saddam sah sich damit in seinen Unternehmungen bestärkt, marschierte in Kuwait ein und bedrohte Saudi-Arabien.

Der Weg des Opportunismus im Nahen und Mittleren Osten hat sich nicht immer als ein glücklicher erwiesen.

Vielleicht nicht weniger heimtückisch im sozialen und politischen Kontext der arabischen Welt ist eine andere Form von Opportunismus, die von den Machthabern der Region praktiziert wird. Sie hängen ihr Fähnchen in den Wind, indem sie landesübliche, selten jedoch glaubwürdige Frömmigkeitsbezeugungen zur Schau stellen. Die Häufigkeit, mit der beispielsweise Bilder des ägyptischen Präsidenten Husni Mubarak samt Gefolge und des jordanischen Königs Abdullah samt Familie auf Pilgerreise in Mekka erscheinen, hat neue Maßstäbe gesetzt. Sich gemäß islamischer Vorschriften zu kleiden und körperlich zu reinigen ist die Regel geworden, und islamische Fernsehprediger sind die neuen Medienstars. Vorbei die Tage, als Mubarak den Abriss eines Minaretts anordnen konnte, weil dieses die Sicht auf die Pyramiden von Gizeh versperrte. Der „Pharao“ musste lernen, sich dem Großscheich der Al-Azhar-Universität zu beugen. Denn auf solche geistlichen Führer verlassen sich die arabischen Herrscher von heute, um den Islamisten den Rang abzulaufen – und zwar von rechts.

Ein rundes Bild ergibt dies freilich nicht. So sprach sich beispielsweise der im März 2010 verstorbene, sunnitische Großscheich von al-Azhar, der ehemalige Großmufti Muhammad Sayyid Tantawi, sehr entschieden gegen die vorislamische afrikanische Sitte der Beschneidung von Frauen aus, stellte sich öffentlich hinter das staatlich verordnete (und weithin ignorierte) Schleierverbot an Mädchengrundschulen und schrieb eine ausführliche Abhandlung darüber, wie der Islam von Anfang an die Familienplanung unterstützt habe.

Andererseits legt die Leitung der tausend Jahre alten Al-Azhar-Universität – einst ein Fanal der Toleranz in der Region – und insbesondere die wahabitische Geistlichkeit Saudi-Arabiens den Koran weit konservativer aus als die Fundamentalisten; sie verbannen Bücher und Filme, verbieten den Umgang mit Nichtgläubigen und schreiben soziale Verhaltensweisen, insbesondere hinsichtlich des Kontakts zwischen den Geschlechtern, bis ins kleinste Detail vor.

In ihrer zunehmend verzweifelten Suche nach einem Hauch von Legitimität mehren viele moderne arabische Herrscher die Anhängerschaft einiger besonders engstirnigen Tendenzen des Islamismus sogar. Bestenfalls begünstigen sie damit eine schleichende Theokratie und ersticken das Aufkommen einer selbstbewussten bürgerlichen Gesellschaft, die in vielen arabischen Ländern um Längen zurückliegt. Schlimmstenfalls bestärken sie damit den Dschihadismus.

***

Nach den Anschlägen des 11. September 2001 vertrat eine überraschende Vielzahl von Kommentatoren die These, der militante Islamismus habe seine Wurzeln in wirtschaftlichen Missständen und Entbehrungen. Als Gegenmittel zu diesem fast schon allgemein anerkannten Grundsatz galt: „Bauen wir die Mittelschicht auf, dann haben wir auch ein paar Liberale, mit denen wir den Liberalismus praktizieren können.“11 Dabei ist es weniger die Wirtschaft, die es anzusprechen gilt, als vielmehr die Politik der arabischen Welt.

Gewiss, es gibt gewaltige sozio-ökonomische Probleme. Demographisch etwa haben die arabischen Länder mit der destabilisierenden Wirkung eines „jungen Bauches“ zu kämpfen – grob gerechnet sind zwischen der Hälfte und zwei Dritteln der Bevölkerung unter 25 Jahre alt und haben wenig oder gar keine Aussicht auf einen angemessenen Arbeitsplatz. Analysten der Weltbank schätzten 2003, dass die arabische Wirtschaft bis zum Jahr 2020 rund einhundert Millionen neue Arbeitsplätze schaffen müsste, um die nachrückende Generation in Arbeit zu bringen.

Natürlich brauchen die arabischen Länder ein besseres wirtschaftliches Management und transparentere Führungen. Natürlich brauchen sie dringend eine moderne Infrastruktur. Natürlich müssen größere Summen in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen investiert werden. Und natürlich braucht es eine Revision des Bildungswesens, um kritisches, freies Denken und Problemlösungskompetenzen zu fördern. Dennoch: Die Vorstellung, dass sich alles andere schon fügen wird, wenn die Wirtschaft erst einmal läuft, ist deterministisch, wenn nicht gar blinde Schönfärberei.

Einerseits werden Organisationen wie al-Qaida und deren ägyptischer Verbündeter, der Dschihad, sowie die Muslimbruderschaft von der Mittelschicht entstammenden, bisweilen sehr reichen Einzelpersonen geführt und setzen sich zum größten Teil auch aus solchen zusammen. Viele der Flugzeugentführer des 11. September kamen aus privilegierten Verhältnissen, und neuere Studien über Selbstmordattentäter betonen deren gewöhnlich sehr hohen Bildungsstand. Die Islamisten schlichtweg als die „Verdammten dieser Erde“ zu sehen, als ein Problem, das man durch ausgefeilte wirtschaftliche Entwicklungsstrategien wieder loswürde, wäre falsch.

Doch das „wirtschaftliche Argument“ ist noch in vielen weiteren Hinsichten brüchig. So liefert es nicht nur den arabischen Gewaltherrschern das perfekte Alibi, politische Freiheiten bis in alle Ewigkeit aufzuschieben. Es gibt auch, wie wir im Verlauf dieses Buches noch sehen werden, so gut wie keinerlei Anzeichen dafür, dass wirtschaftliche Reformen in Staaten, die mehr oder minder von sich selbst erhaltenden nationalen Sicherheitskadern geführt werden, überhaupt funktionieren können.

Das Argument ist in erster Linie deshalb brüchig und irreführend, weil der schwelende und sich immer wieder entladende islamistische Zorn eine hochexplosive Mischung aus Erniedrigung und politischer Verzweiflung ist. Politischer Verzweiflung über fünf Hauptpunkte:

 Verzweiflung darüber, wie deutlich die islamische Welt – einst die führende Zivilisation sowie langjährige Weltmacht und Schöpferin großer Reiche – gegenüber dem Westen den Kürzeren gezogen hat.

 Verzweiflung über das Vermächtnis der europäischen Kolonialherren, die die arabische Welt in oft künstliche Staaten zerstückelt haben (Palästina etwa, das in den Augen vieler Araber und Islamisten von „modernen Kreuzrittern“ besetzt gehalten wird).

 Verzweiflung über die Unfähigkeit panarabischer Nationalisten, ihre berauschende Rhetorik mit Taten und Erfolgen zu unterfüttern (schnell vergessen ist heute, wie Nasser einst mit propagandistischem Elan über die „Stimme der Araber“, den damals wichtigsten Rundfunksender in Kairo, die arabische Welt in seinen Bann zog).

 Verzweiflung über die Unterstützung tyrannischer arabischer Herrscher durch die USA und westeuropäische Staaten – ein besonders schlimmer Verrat in den Augen all jener, die die Kultur und die politischen Errungenschaften Großbritanniens, Frankreichs und Amerikas bewundert hatten.

 Verzweiflung über die Doppelmoral Washingtons, d. h. dessen scheinbar bedingungs- und vorbehaltlose Unterstützung Israels (was viel schwerer ins Gewicht fällt als die leeren Ausflüchte Europas).

Dass das israelisch-amerikanische Verhältnis hier als letzter Punkt angeführt ist, heißt nicht, dass es letztrangig wäre. Die Wunde der Araber ist noch immer frisch. Über Satellitenfernsehen verfolgen sie seit mehr als einem Jahrzehnt tagtäglich die Belagerung palästinensischer Städte, Dörfer und Flüchtlingscamps durch die Israelis, die unter Einsatz schwerer Waffen eine unverhältnismäßig hohe Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung fordern (darunter auch viele Kinder); tagtäglich erleben sie den Abriss palästinensischer Häuser, die Zerstörung angestammter palästinensischer Landstriche durch unrechtmäßige jüdische Siedlungen, durch den Bau von Umgehungsstraßen für die Siedler, durch die Errichtung sogenannter Sicherheitsmauern und Pufferzonen oder gar die regelrechte Erosion palästinensischer Plantagen und Ackerländer durch Vernichtung von Getreide und Bäumen und Abtragung des Oberbodens. Ja, die arabische Wunde ist noch weit offen. Und die US-Regierung streut allem Anschein nach weiter Salz hinein, indem sie ein Ende der palästinensischen Gewalt fordert anstatt ein Ende der israelischen Besatzung, die Erstere ja verursacht.

Stellt sich die Frage, inwieweit die anderen Missstände überhaupt weiterhin existieren würden, sollte der israelisch-palästinensische Konflikt – durch ein Wunder staatsmännischer Führungskunst – plötzlich gelöst sein. Das ist die Frage, die die Araber sich selbst stellen müssen. Das ist die Frage, mit der sich jedwede ernstgemeinte Politik im Nahen und Mittleren Osten auseinandersetzen muss.

Es steht außer Zweifel und ist durch zahlreiche Umfragen belegt, dass ein aufrichtiger, unparteiischer politischer Kurs der USA und ihrer Bündnispartner, der auf Gerechtigkeit für Palästina verbunden mit Sicherheit für Israel zielt, das Ansehen der USA in der arabischen und muslimischen Welt langfristig wiederherstellen könnte.

Ebenso steht außer Zweifel, dass die Ursache des Widerstands islamistischer Gruppen wie der Hamas im Westjordanland und im Gazastreifen oder der Hisbollah im Libanon in der israelischen Besatzung arabischer Gebiete zu suchen ist. „Als wir in den Libanon eindrangen“, sagte der ehemalige israelische Premier Ehud Barak, „gab es keine Hisbollah.“ Jitzchak Rabin, der ermordete Ministerpräsident Israels, formulierte in ähnlicher Weise, dass beim israelischen Einmarsch in den Libanon 1982 „der Flaschengeist aus der Flasche entwich“. Obwohl die wesentlichen Bestandteile der Hamas bereits in den islamistischen sozialen und religiösen Einrichtungen präsent waren, entstand sie erst 1987, als sich der Zorn der Palästinenser nach zwanzig Jahren israelischer Besatzung im Westjordanland, im arabischen Ostjerusalem und dem Gazastreifen entlud – in einer blutigen Intifada, wie sie weder die Palästinenser selbst noch die Fatah vorgehabt hatten. Israel war der Akteur, die Palästinenser reagierten nur darauf. Der Kontakt zwischen der (sunnitischen) Hamas und der (schiitischen) Hisbollah, die heute von Israel im Nachhinein als Teil eines iranischen Großplans dargestellt wird, ergab sich als Folge davon, dass Israel Ende 1992 rund 450 Intifada-Aktivisten an die Grenze zum Libanon deportierte, der, wie ein israelischer Amtsträger mit Bedauern ausdrückte, zu einer „Hisbollah-Universität“ wurde.

Osama bin Laden und seine Anhänger jedoch, die von einigen arabischen Berichterstattern als „universelle Islamisten“ bezeichnet werden, haben seit jeher eine politische Agenda, die sich von der Sache der Palästinenser ganz wesentlich unterscheidet.

Solange die Dschihadisten darauf setzen können, dass die USA ihre diktatorischen arabischen Verbündeten (das saudische Königshaus etwa oder Präsident Mubarak) unterstützen und grobe strategische Schnitzer (wie die Invasion des Irak) begehen, weist alles darauf hin, dass sie vorwiegend hohle Phrasen dreschen. Das ungeheuerliche Vorhaben der Terrorgruppen um bin Laden, einen Zusammenprall der Kulturen heraufzubeschwören, mag in den Augen des Westens durchaus ‚böse‘ erscheinen. Gänzlich absurd ist es nicht.

Um Einblick in die Gedankenwelt der Muslime zu erhalten, führte das Gallup Center für Islamstudien kurz nach dem 11. September, als das Mitgefühl für die USA auf dem Höhepunkt war, eine große Umfrage durch: Befragt wurden rund 50 000 Menschen in neun islamischen Ländern, fünf davon in der arabischen Welt. Heraus kam, dass zwei von drei Befragten den USA feindselig gegenüberstanden, ein Zahlenverhältnis, das im verbündeten Saudi-Arabien und Ägypten auf vier von fünf anstieg. Seither ist die US-amerikanische Unterstützung in diesen Ländern (wie im letzten Kapitel dargelegt) entweder in den Untergrund verschwunden oder statistisch so gut wie nicht mehr feststellbar.

Die Eigenarten der arabischen Autokratie spielen hierbei natürlich eine Rolle. Die autokratischen Machthaber, die ihre Herrschaftsgrundlage keineswegs infrage gestellt sehen wollen, trennen inzwischen klar zwischen Kritik und Höflichkeitsfloskeln. Regierungsamtliche Zeitungen (wobei es kaum andere, sprich unabhängige, gibt) ergehen sich in anti-westlichen Hetztiraden, desgleichen die Moscheen, das „Massenmedium“, das am weitesten in die zunehmend frommen Gesellschaften hineinreicht. Auf dieselbe Art und Weise, in der diese Herrscher sich mittels der reaktionären Geistlichkeit einen Anstrich von Legimitität zu geben suchen, vertuschen sie die Kritik ihrer Blätter mit scheinbarer Unabhängigkeit – eine Taktik, die eine Alternative zu jedwedem ernstzunehmenden demokratischen Denken aufzeigt und gleichzeitig als populistischer Köder einem kontrollierten ‚Dampfablassen‘ dient.

Um nur ein Beispiel anzuführen: Die ägyptische Zeitung Al Ahram beschuldigte die US-Luftwaffe wiederholt, über Afghanistan genetisch veränderte Nahrungsmittel abgeworfen zu haben, und zwar sowohl im Winter 2001/02 als auch im Afghanistankrieg, um die afghanische Bevölkerung zu vergiften. Al Ahram ist die größte Zeitung in Ägypten, dem wichtigsten Verbündeten der USA in der Region. Ihr Herausgeber ist ein enger Vertrauter des Präsidenten Husni Mubarak. Weder die Regierung noch die Zeitung hatten sich ernsthaft mit dem Afghanistankrieg auseinandergesetzt, seit das Land zu einem Rückzugsgebiet nicht nur der Drahtzieher der Anschläge des 11. September, sondern auch der des versuchten Mordanschlags auf Mubarak in Addis Abeba wurde.

Eine weitere Form der Lizensierung antidemokratischer Kritik (und ein scheinbar sicheres Ventil für öffentliche Missbilligung) besteht darin, das offizielle Zeitungs- und Rundfunkwesen darin zu bestärken, zum Angriff gegen Israel zu blasen. Ein Großteil davon ist vollkommen berechtigte Kritik an den militaristischen Taktiken Israels und dessen Besetzung der arabischen Gebiete. Ein anderer Teil jedoch predigt einen bösartigen und ansteckenden Antisemitismus, den wenige arabische Machthaber stillschweigend dulden, noch weniger jedoch öffentlich verurteilen würden.12

Der ungelöste Konflikt mit Israel ist eine der vielen Krücken, auf die sich arabische Machthaber stützen, um ihr unrechtmäßiges und gesetzwidriges Verhalten zu rechtfertigen. Angesichts der heillosen Wirren der Politik im Nahen und Mittleren Osten wäre es vielleicht zu viel erwartet, dass ein arabischer Herrscher von sich aus uneigennützig für die Rechte der Palästinenser eintritt und diese nicht zum eigenen Vorteil nutzt. Dabei käme vielen arabischen Machtträgern ein Patt oder Stillstand im israelisch-palästinensischen Konflikt durchaus gelegen. Auch wenn heute kein arabisches Land mehr die offene Konfrontation mit Israel erwägt, liegt es in der Natur der Sache, dass in der gesamten Region ständige Alarmbereitschaft herrscht. Das ist militärisch gesehen Unsinn, rechtfertigt aber eine strenge politische Kontrolle. Es ist ein angeschlagener Panarabismus, der freilich dazu taugt, Gegner zu erpressen und Kritiker als Verräter darzustellen – die Art von Patriotismus, die der englische Gelehrte Samuel Johnson bereits im 18. Jahrhundert als „letzten Schutz eines Schurken“ beschrieb.13

Sollen wir also annehmen, dass diesen autokratischen Herrschern mehr oder weniger bewusst ist, dass es ihnen an Legitimität mangelt? Und ist es dieses Wissen – und Angst –, was sie dazu treibt, konstant die öffentliche Meinung zu manipulieren und zu dirigieren? Ist das der Grund, warum arabische Machthaber geradezu zwanghaft fast einstimmige Wahlergebnisse fabrizieren (bei Volksentscheiden und parlamentarischen Abstimmungen erreichen sie gewöhnlich 95 bis 99 Prozent) – eine Art Tribut des Lasters an die Tugend?

***

Im arabischen nationalen Sicherheitsstaat wird von der Bevölkerung vor allem eines verlangt – Ruhe geben. Anders als in einem ideologisch ausgerichteten, faschistischen oder kommunistischen Staat stellen arabische Autokratien – mit Ausnahme Saudi-Arabiens, das wir in Kapitel V betrachten werden – wenig Forderungen an den Durchschnittsbürger. Er soll sich nur aus politischen Dingen heraushalten. Der äußere Schein könnte freilich auch das Gegenteil vermuten lassen: eine politische Kultur, die von Übertreibung, einer übertrieben blumigbildhaften Sprache und den jeweiligen Machthaber ekstatisch verherrlichenden Inszenierungen lebt, die satte Mehrheiten an den Wahlurnen erbringt und sich in höfischer Speichelleckerei ergeht. All das kann natürlich leicht missverstanden werden als eine Form von Totalitarismus. Doch gerade in der arabischen Welt darf man die äußere Form nicht mit dem Inhalt verwechseln. Arabische Machthaber verlangen den Anschein absoluter Macht. Was der Einzelne denkt, interessiert nicht – solange insgesamt Ruhe herrscht.

Genauso wichtig – und ganz anders als in anderen, bekannteren Formen von Militärherrschaft (beispielsweise in Mittel- und Südamerika) – ist, dass der Geheimdienst und nicht die reguläre Armee das Sagen hat.

Besonders deutlich wird das bei Ländern wie Jordanien und Syrien, wo der junge König Abdullah und sein scheinbar republikanisches Pendant, der syrische Präsident Baschar al-Assad, das Szepter in einer Zeit übersteigerter Hoffnungen auf Freiheit und Wandel übernahmen. In beiden Ländern wurden die Zügel merklich straffer angezogen. Die Geheimdienste bestimmen den Kurs. In älteren arabischen Regimes ist das zwar nicht anders, meist jedoch weniger offensichtlich. Wie ein erfahrener Islamforscher mit Bezug auf alle arabischen Autokratien formulierte: „Der Mukhabarat lenkt den Informationsfluss zwischen Regierung und Regierten, um beide Seiten besser manipulieren zu können.“

Dies gilt sogar für Ägypten, das Land, auf das arabische wie westliche Politiker hinsichtlich Reformen große Hoffnung gesetzt hatten. Günstigstenfalls lässt sich sagen, dass Ägypten, das auf fünftausend Jahre Zentralismus und autoritäre Herrschaft zurückblickt, zwar Zeichen des Wandels erkennen lässt, aber nichts, was auf echte Erneuerung hindeutet. Die Regierung Präsident Husni Mubaraks, der Ende 2005 seine fünfte sechsjährige Amtsperiode antrat, duldet keinerlei Anfechtungen.

2001 und dann noch einmal 2002, um nur ein Beispiel zu nennen, verurteilte Ägypten den liberalen Sozialwissenschaftler und Menschenrechtler Saad Eddin Ibrahim zu mehrjährigen Haftstrafen. Man warf ihm vor, illegal Gelder von der Europäischen Union für das von ihm gegründete Ibn-Khaldun-Zentrum für demokratische Reformen und Entwicklungsstudien angenommen zu haben – und das, wo die Regierung pro Jahr durchschnittlich drei Milliarden US-Dollar soziale und wirtschaftliche Hilfe aus dem Westen bezieht, darunter 1,3 Milliarden US-Dollar Militärhilfe pro Jahr aus den USA. Sein wahres Vergehen bestand darin, den Wahlbetrug des Regimes zu untersuchen, auf die gefährliche Lage der Minderheit der koptischen Christen im Land hinzuweisen sowie – welche Dreistigkeit! – zu behaupten, Mubarak ebne seinem Sohn Gamal den Weg zum Präsidentenamt.

Ist Ägypten also letztlich anders als das baathistische Syrien, wo zur gleichen Zeit zwei Parlamentsmitglieder vor Gericht standen, weil sie versucht hatten, „die Verfassung zu ändern“ –, die doch gerade erst geändert worden war, um nach dem Tod Hafez al-Assads im Jahr 2000 dessen Sohn Baschar zum Präsidenten wählen zu können, obwohl er nicht das dafür nötige Alter besaß?

In der politischen Arena der arabischen Welt sind derlei Machenschaften fast die Norm. Sehr viel aufschlussreicher sind Beispiele aus dem politischen Tagesgeschäft, die sich reichlich finden. Betrachten wir nur einmal die Versuche, die Ägypten im Laufe des vergangenen Jahrzehnts unternommen hat, um mit Investitionsanreizen eine Formel für ein hohes, auf Export orientiertes Wirtschaftswachstum zu finden. Dann wird klar, warum die Vorstellung, dass wirtschaftliche Reformen auch politische Reformen in Gang bringen – wovon westliche wie auch arabische Regierungen ohne Weiteres ausgehen –, für den arabischen Kontext schlichtweg falsch ist.

Ein Kernstück der ägyptischen Anstrengungen, die Wirtschaft des Landes zu öffnen, das fähige Technokraten und Juristen mit aller Sorgfalt und Umsicht im Laufe von mehr als achtzehn Monaten ausgearbeitet hatten, brachte einen scheinbar beachtlichen Durchbruch. Ägyptens verworrenes Unternehmensrecht, an dem offenbar seit Napoleons Zeiten am Nil kein Deut geändert worden war, wurde dahingehend novelliert, dass junge Unternehmen automatisch registriert würden, sofern die neu eingerichtete Unternehmensbehörde nicht binnen zehn Tagen begründeten Einspruch erhob.

Diese Neuerung, von Präsident Mubarak höchstpersönlich angeordnet, wurde nie umgesetzt. Warum? Weil sie eine Gefahr für die freie Verfügungsgewalt des Mukhabarat bedeutet hätte, der seinerseits Mubarak an der Macht hält. Für den Mukhabarat spielten die offensichtlichen Vorteile der Reform keine Rolle. Wie einer der Beteiligten damals bemerkte: „Alle Versuche, Reformen anzustrengen, werden von einem versteckten Auge der Staatssicherheit verfolgt. Dabei geht es nicht darum, jemand Bestimmten zu belangen, sondern darum, die Machtposition der Sicherheitsleute zu erhalten. Das ist die Realität.“14

Noch einmal: Den wirtschaftlichen Reformschritt vor dem politischen zu tun, führt nicht auf den Weg der Reform, sondern in eine Sackgasse. Politische Reformen sind der Schlüssel zu jeder echten Reform in der arabischen Welt. Oder anders gesagt: Es sind nicht nur die geistlichen Dunkelmänner von Al-Azhar, denen der Pharao sich beugen muss; der moderne arabische Despot ist der Gefangene seiner eigenen Leibgarde.

Mubarak ist kein Narr. Er hält seine Position nicht zufällig. Er weiß mit Sicherheit, was in der Offiziersmesse gespielt wird, was führende Unternehmer wollen, welcher Stamm oder Clan in welchem Dorf an der Spitze steht, welche geistlichen Führer es zu beschwichtigen gilt, wie viel diese oder jene oppositionelle Stimme im Parlament oder in der Presse kosten würde und was die US-Regierung von ihm hören will. Doch nur in den seltensten Fällen wird er wissen, welche Informationen ihm seine eigenen Staatssicherheitsdienste vorenthalten, und er wird nicht immer erkennen können, ob man ihm nicht getürkte Informationen zuspielt, die anderen Interessen dienen.

Von dem Kalif der Abbasiden, Harun al-Rashid, der im Persien des 8. Jahrhunderts lebte, heißt es, er habe sich verkleidet unter das Volk von Bagdad gemischt, um herauszufinden, was seine Untertanen bewegte. Der moderne Pharao Mubarak verbringt viel Zeit mit ehemaligen Kameraden aus seinen Tagen als Oberbefehlshaber der Luftwaffe oder im Badeort Scharm el-Scheich, wo seine Familie über riesigen Landbesitz verfügt.

Sehen wir uns weitere Beispiele an. In mancherlei Hinsicht ist ein Despotismus wie in Ägypten viel zu unflexibel, um im politischen Stellwerk der Moderne die Weichen und Signale auf Grün zu schalten. Einige Fälle aus jüngster Zeit: Von Immobilienhaien hochgezogene Wohnblocks stürzen ein; Fähren kentern und Flugzeuge stürzen ab; ein Parlamentsgebäude brennt nieder; durch Schwarzbauten verursachte Erdrutsche begraben ganze Siedlungen unter sich. Selten wurde jemand für diese nachbiblischen Plagen Ägyptens zur Rechenschaft gezogen. Doch auch der verscheierte Despotismus des modernen Pharao begeht mit schöner Regelmäßigkeit strategische Fehler.

Im Jahr 1994, als der islamistische Aufruhr in Ägypten spürbar wurde, veröffentlichte die Nachrichtenagentur Reuters eine Reihe von Berichten, aus denen hervorging, dass das riesige Kairoer Armenviertel Imbaba faktisch zu einem Staat-im-Staate für die militante ägyptische islamistische Bewegung al-Dschamaa al-Islamiyya geworden war. Doch nichts davon drang zu Mubarak durch, bis ein besorgter Berater ihm auf dem Rückflug von einem Staatsbesuch in Fernost Kopien der Artikel in die Hand drückte. Mubarak sprang auf, lief in den hinteren Teil des Flugzeugs, wo seine Sicherheitschefs saßen, schwenkte mit den Zeitungsberichten und rief: „Stimmt das? Gibt es so etwas bei uns?“

Es spricht Bände, dass wenige Tage später eine Streitkraft von fast 25 000 Mann Imbaba stürmte. Acht Tage erbitterter Kämpfe folgten. Ja, es hatte gestimmt. Es gab so etwas in Ägypten. Allerdings musste der Pharao durch Zufall davon erfahren.15

Die Reform der ägyptischen Wirtschaft kam vor allem deshalb in Gang, weil Modernisierer um Youssef Boutros-Ghali, den späteren Reformstrategen, im Beisein des Präsidenten immer wieder entsprechende Anspielungen machten. Einmal, es war Ende 1995, stürmte Mubarak in eine Kabinettssitzung und verlangte zu wissen, warum ausländische Investoren in jenem Jahr vierzig Milliarden US-Dollar nach Indonesien gepumpt hatten – das Hundertfache der vierhundert Millionen US-Dollar, die Ägypten als Direktkapital aus dem Ausland zugeflossen waren.

Diese Zahlen waren aufgerundet – Übertreibung macht bekanntlich anschaulich. Ein Regierungswechsel folgte. Die neue Regierung unter Ministerpräsident Kamal el-Ganzour erhielt von Mubarak die Anweisung, die Abhängigkeit von ausländischen Hilfsgeldern und Geldsendungen von im Ausland arbeitenden Ägyptern durch Auslandsinvestments und Devisen aus Exportgeschäften zu ersetzen.

Tatsächlich kam die Wirtschaftsreform eine Zeit lang gut voran. Begrenzte Privatisierung ließ innerstaatliche Investitionen rasant ansteigen. Das Pro-Kopf-Einkommen stieg (es verdoppelte sich in fünf Jahren auf fast 1500 US-Dollar), gleichzeitig aber klaffte die Schere zwischen Reich und Arm weiter auseinander. Hatten 1980 noch 39 Prozent der Ägypter unterhalb der Armutsgrenze gelebt, waren es Ende des 20. Jahrhunderts 43 Prozent. Diese Kluft hat sich mittlerweile noch vertieft, zumal der Anstieg der internationalen Treibstoff- und Lebensmittelpreise das Schreckgespenst Hunger real werden ließ.

Bei näherer Betrachtung gelangt man zu der Ansicht, dass es sich hier eher um Abwandlungen handelt als um echten Wandel. Bürokratien widersetzen sich naturgemäß jeder Veränderung. Ägypten bildet da keine Ausnahme. Fast ein halbes Jahrhundert lang hatte der riesige, schlecht bezahlte Beamtenapparat die Aufgabe gehabt, die Preise niedrig zu halten, Arbeitsplätze auf Lebenszeit zu bieten sowie Ersatzwaren für Importe zu organisieren. Jedes Abweichen von diesem Kurs war mit dem Risiko politischer Instabilität verbunden. Die blutigen Brotaufstände in Ägypten 1977 – den bereits erwähnten jordanischen Brotaufständen 1996 ähnlich – hatten die Psyche des Regimes schwer angekratzt. Allerdings liegen die Ursachen im Fall Ägypten tiefer. Die wirtschaftliche Reform veränderte die Natur der Macht im Land nicht, und trotz anderslautender Behauptungen ebnete sie auch nicht den Weg in Richtung demokratischer Wandel. Aber immerhin gab sie deutlichen Einblick in das Mächteverhältnis des Landes.

Nicht das geringste der Probleme, über die Ägyptens Reformer debattierten, war die Frage, ob das Land überhaupt fähig sein würde, echte Unternehmer hervorzubringen, da dieser Stand dank der Eigenheiten des Systems bis dato recht profitabel gelebt hatte. Youssef Boutros-Ghali beispielsweise vertrat die Ansicht, dass die meisten den Übergang zum offenen Wettbewerb nicht bewerkstelligen könnten; sie sollten sich, so seine Meinung, „zurücklehnen und diejenigen finanzieren, die das können.“16

Das setzte einen klaren, zukunftsorientierten politischen Weg voraus, den es natürlich nicht geben würde. Reformer mit westlichem Bildungshintergrund wie Youssef Boutros-Ghali gaben sich alle Mühe, einen Wandel herbeizuführen. Doch einige verkannten die Natur des Regimes und verwechselten Wirtschaftswandel mit einer Neuordnung der Eliten.

Eine Bewährungsprobe kam, als das Regime den Verkauf der vier großen Handelsbanken und der staatlichen Versicherungsunternehmen vereitelte. Sorge über etwaigen Wettbewerb von außen spielte bei dieser Entscheidung sicher mit hinein. Der Hauptgrund war indes, dass die staatlichen Banken Kredite aufgrund politischer Verbindungen vergaben, nicht auf der Basis objektiver Projektanalysen. Doch anstatt sich mit diesem Problem auseinanderzusetzen, erweiterte das Regime lieber die Riege der Insider.

Geschäftsleute, die durch die Reform und internationale Aufmerksamkeit zuversichtlich gestimmt waren, wurden in neu geschaffene Gremien berufen. Nicht weniger als 45 Unternehmer zogen nach den massiv manipulierten Wahlen von 1995 ins Parlament ein (in dem Mubaraks Nationaldemokratische Partei 94 Prozent der Sitze erhielt). Obwohl viele von ihnen in die Politik gingen, weil sie sich dadurch Regierungsaufträge und staatliche Unterstützung erhofften, markierte das Ergebnis den Beginn einer Allianz zwischen Unternehmertum und Militär. Das militärische Rückgrat des Regimes trat mit der Ausbreitung des privaten Unternehmertums, in dem pensionierte Regierungsbeamte häufig Vorstandsposten bekleideten, nur noch deutlicher hervor. Anwar al-Sadats Infitah-Politik, die Politik einer halbherzigen ‚Öffnung‘ zu freiem Handel und Kapitalismus, die auf den arabisch-israelischen Krieg von 1973 folgte, platzierte häufig hochrangige Regierungsbeamte an der Spitze lukrativer Wirtschaftszweige.

Das Regime war in der Tat dabei, seinen Einflussbereich auszuweiten. Im Grunde machte es jedoch nichts weiter, als Armee und Geheimdienste privatwirtschaftlich aufzurüsten und das Ganze als Reform zu verkaufen – eine Missachtung jedweder staatlichen Einrichtungen, von demokratischen Reformen gar nicht zu reden. Mubaraks Versuch, das Fundament seines Regimes auszubauen, stempelte Ägyptens altgediente Kapitalisten zu einem Pendant der Stammeshonoratioren in der Regierung des jordanischen Königs Hussein. Er war in jedem Fall Teil seiner Strategie, den Aufstieg seines Sohnes Gamal, eines Bankiers, in der Politik zu legitimieren.

Vorwürfe und Kritiken ließen Mubarak kalt. „Wenn ihr eine gepflasterte Straße von hier nach Hurghada [am Roten Meer] wollt“, so sagte er, „lässt sich das in ebenen Gegenden sehr rasch bewerkstelligen. Aber wenn es hügelig wird, muss ich das Tempo drosseln – denn wenn ich dort schlampe, ist die ganze Straße unbenutzbar.“ Und er beklagte, dass jene, „die in Amerika und Europa sitzen, die Realität hier nicht verstehen können“.17

All das gefährdete nicht nur den wirtschaftlichen Reformprozess und wirkte wie eine träge Form von Vettern-Kapitalismus, sondern machte es unwahrscheinlich bis unmöglich, den Reformprozess überhaupt zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Dies wiederum lag teils daran, dass der nationale Sicherheitsstaat die alles beherrschende Sorge um die Stabilität (die, wie wir gesehen haben, einzig die Privilegien der Geheimdienste sichern sollte) in die Reformdebatte einbrachte, was diese naturgemäß stark verzerrte. Ein klassisches Beispiel hierfür sind Ägyptens Devisenreserven.

Als Ergebnis der anfänglichen Erfolge der Reform, insbesondere hinsichtlich der gesamtwirtschaftlichen Stabilisierung, wurden die Hartwährungsreserven von praktisch Null auf über zwanzig Milliarden US-Dollar hochgefahren. Um Präsident Mubarak den Eindruck zu vermitteln, seine Politik sei erfolgreich, legte ihm das Reformlager wiederholt gesunde Reserven als Beweis vor. Das erwies sich freilich als überaus unglücklich.

Aus Ministerkreisen ist bekannt, dass Mubarak, dessen Miene für gewöhnlich trüb wurde, wenn es um die Mechanismen der Wirtschaftsreform ging, sofort leuchtende Augen bekam, wenn die Rede auf die Reserven kam. „Wie geht es meinen zwanzig Milliarden Dollar?“ wurde bald zum einzigen Thema bei seinen Treffen mit den Reformern. Das eigentliche Ziel und Zweck dieser Reserven – feste Wechselkurse und Sicherheit für den Außenhandel – geriet völlig ins Abseits. Mubaraks strikte Weigerung, „seine“ zwanzig Milliarden Dollar auch nur einen Cent unter diese Prestigemarke rutschen zu lassen, führte zu einer der absurdesten und unnötigsten Devaluationskrisen unserer Zeit.

Dass es im Jahr 2000 zu einer künstlichen Dollarknappheit kam, lag nicht etwa daran, dass sich die grundlegende wirtschaftliche Position Ägyptens gewandelt hätte, sondern dass Mubarak hortete, was er als sein persönliches Sparschwein zu betrachten schien. Möglicherweise dachte Mubarak, dass diese, ihm ein wenig fremden Menschen mit ihren Doktortiteln von westlichen Universitäten endlich gescheit geworden und in die Riege der Insider eingetreten wären. Doch sie waren nicht völlig blind.

Schließlich befanden sie sich in einer Position, die es ihnen ermöglichte, darauf zu achten, dass kein frisches Blut in ein System eindrang, das auf der Macht von Einzelpersonen basierte, die ausschließlich dem Präsidenten verantwortlich waren, der seinerseits abhängig war von den Geheimdiensten.

„Im Austausch gegen ein pseudoparlamentarisches System haben wir sämtliche Ebenen einer echten Demokratie beseitigt, einschließlich gewählter Bürgermeister, der Wahlen in Gewerkschaften und in Berufsverbänden für etwa Ärzte, Juristen oder Ingenieure, die einmal echte Triebkräfte waren“, sagte einer der Reformer. „Dies ist die wohl schlimmste Zeit, die ägyptische Demokraten in den vergangenen vierzig bis fünfzig Jahren erlebt haben.“

***

Die beschriebenen strukturellen Hindernisse, die einem freien Informationsfluss im arabischen nationalen Sicherheitsstaat im Wege stehen, sind freilich nicht die ganze Geschichte. Hinzu kommt der Aspekt despotischen Starrsinns, der auf allen Ebenen zielsicher zum Scheitern führt – außer im Hinblick auf Machterhalt. Kein Fall zeigt dies besser als der des verstorbenen Jassir Arafat. Er ist schon deshalb ein besonders gutes Beispiel, weil es ihm nie gelang, mehr als einen Proto-Staat zu errichten. Nie gab es mehr als ein halbfertiges Labyrinth, in dem er sich verirren musste.

Sein Erfolg: Arafat gelang es, die Palästinenser als eine politische Macht zu etablieren, an der im Nahen und Mittleren Osten künftig keiner mehr vorbeikam. Beileibe kein geringer Erfolg. Doch auf der Höhe seiner Macht hatte er volle Kontrolle über gerade einmal knapp drei Prozent des Westjordanlands, dazu die administrative Kontrolle über weitere 25 Prozent in Enklaven, die Israels fortdauernde Besatzung willkürlich abschnüren konnte. Auch auf diplomatischer Ebene konnten Arafat und die PLO wenig bewegen, sofern die USA nicht bereit waren, Israel unter Druck zu setzen und zu zwingen, seinen Verpflichtungen aus den Osloer Abkommen von 1993–95 nachzukommen. Dennoch: So schwierig Arafats Position damit war, sein Machthunger, sein von Improvisation geprägter Verhandlungsstil und seine Unfähigkeit, Taktik mit Strategie zu verbinden, sowie seine Geringschätzung der Details, des „Kleingeschriebenen“, taten ein Übriges, ihn letztlich zum Verlierer zu machen.

Der verstorbene palästinensisch-amerikanische Literaturtheoretiker Edward Said, einer der schärfsten Kritiker Arafats, der das Osloer Abkommen von Anfang an als nicht umsetzbar und für derart einseitig hielt, dass es einer Kapitulation der Palästinenser gleichkäme, stellte die politische, fachliche und sprachliche Qualifikation der palästinensischen Friedensunterhändler stets infrage. „Sie hatten nicht einmal eine Übersetzung“ aus dem Englischen, der Sprache, in der sie holprig über die ursprüngliche Grundsatzerklärung verhandelten. „Die einzigen Landkarten, die dort vorlagen, waren israelische“, wetterte er. Nicht lange, nachdem Arafat eine Sammlung seiner Aufsätze verboten hatte, sagte Said, der PLO-Führer sei derart eingenommen von seinem Titel als Präsident, dass er darüber versäume, sich genau anzuschauen, worüber er eigentlich die Führung bekommen würde. „Die riefen in der ganzen Weltgeschichte an, sagten: ‚Hallo Jack‘ oder ‚Hallo Khaled‘, und fragten:, Was bedeutet eigentlich Autonomie?‘ Arafat brauchte ein volles Jahr, um zu begreifen, dass er gar keinen Staat hatte. Er besaß keinerlei echten Realitätssinn, dafür aber einen unglaublichen Überlebensinstinkt.“ Details kümmerten Arafat wenig, meinte Said aus langer Erfahrung heraus, weil er immer dachte, „irgendwer – für gewöhnlich die USA – wird es schon richten“.18

Arafats Grundhaltung, und darin sind sich Bewunderer wie Kritiker weitgehend einig, war im Grunde antidemokratisch. Wie besessen hielt er alle Macht in eigenen Händen, und zwar von den frühesten Anfängen der PLO an. Und sein Taktieren im Labyrinth der arabischen Politik verstärkte seine Ambitionen mit der Zeit noch. All dies kennzeichnete sein bisweilen fast dilettantisches Herangehen an die Verhandlungen mit Israel. Seine „Teile-und-herrsche“-Politik veranlasste Arafat etwa, in den verschiedenen Phasen des Friedensprozesses immer neue Verhandlungsteams ins Rennen zu schicken – mitunter sogar gleichzeitig. Dies erklärt eine Reihe von Kuriositäten. So glaubte beispielsweise Israel lange, Ägypten sei verantwortlich für Arafats Widerwillen, sich letztlich auf die israelischen Bedingungen einzulassen. Israelische Beamte bemerkten, durchaus richtig, dass das Rückgrat des PLO-Führers nach seinen regelmäßigen Beratungen in Kairo sichtlich steif wurde. Doch das lag daran, dass Ägyptens Experten Arafat mit dem Gesamtbild der Region konfrontierten und mittels Landkarten veranschaulichten, was seine eigenen Leute ihm nur bruchstückhaft vermitteln konnten. Und was der Palästinenserführer bei solchen Gelegenheiten erfuhr, gefiel ihm selten.

Ganz im Stil eines arabischen Proto-Despoten unterdrückte Arafat bewusst die Entwicklung potenzieller Konkurrenzorgane, etwa des gewählten Palästinensischen Legislativrats, der zu seinem Leidwesen zwei Hauptunterhändler stellte. Verhängnisvollerweise hatte er zudem die Angewohnheit, in kritischen Momenten die Verhandlungen ganz an sich zu reißen und jene außen vor zu lassen, die die vorhergehenden Einzelschritte ausgehandelt hatten. Wäre dies das Tun eines Führers gewesen, der seine politische Autorität nutzt, um den entscheidenden Kompromiss zu erzielen, es wäre ein Werk staatsmännischer Größe. So aber, in den Händen eines eitlen Arafat, endete es allzu häufig in einer Katastrophe. Und Israels gewiefte Unterhändler wussten dies auszunutzen.

Ein altgedienter Beamter des Militärgeheimdienstes und späterer führender israelischer Diplomat, der den Osloer Verhandlungen von Anfang bis Ende beigewohnt hatte, erzählte mir, die vorrangige Taktik seiner Leute sei sehr simpel gewesen: Schaut, dass ihr Arafat allein kriegt. Und zwei palästinensische Unterhändler berichteten mir, dass sie dies wussten. Doch sie hatten keinerlei Möglichkeiten einzuschreiten, als Arafat bei Abschluss des Osloer Interimsabkommens zur demokratischen Selbstbestimmung im August 1995 seinen Kartographen Khalil Toufagji eigenmächtig entließ. Die Israelis brachten postwendend ihren Kartographen und ihre Karten ins Spiel.

Palästinensischen Unterhändlern zufolge unterzeichnete Arafat daraufhin eine von Israel entworfene Karte, deren Inhalt im Wesentlichen dem entsprach, was die Palästinenser Master Plan und die Israelis Military Order Number 50 nennen. Die Karte zeigt ein Netzwerk von Straßen, die Israels wachsende Siedlungen verbinden und dabei das arabische Territorium (sowohl in als auch um das besetzte Ostjerusalem und die wichtigsten Städte im Westjordanland) zerschneiden und in teils winzige Segmente teilen. Die Landkarte stammte aus dem Jahr 1982 und war das Werk Ariel Sharons, des Erz-Falken und Helden der israelischen Siedler, der damals das Amt des Verteidigungsministers bekleidete.

Arafat war offenkundig nicht klar, welche Bedeutung den sogenannten Umgehungsstraßen zukam. Geoffrey Aronson von der Washingtoner Foundation for Middle East Peace bemerkte damals, anders als die Israelis zeige die palästinensische Führung „so gut wie kein Interesse an oder persönlicher Vertrautheit mit der Situation vor Ort“, d. h. im Westjordanland. In der Augustausgabe 1998 des Report on Israeli Settlement in the Occupied Territories schreibt Aronson: Während Sharon (damals Netanjahus Chefunterhändler in Palästinenserangelegenheiten) „sehr bewandert“ war und „detaillierte Kenntnis des Landes“ für wichtig erachtete, ließ „Arafat sich nur gelegentlich über die israelische Siedlungspolitik informieren, und wenn er die Karten betrachtet, aus denen die Dimensionen des Vorhabens hervorgehen, wirkt er im Allgemeinen bass erstaunt.“

Sämtliche Karten von Israel sind eingehend untersucht und weithin bekannt. Sie haben sich seit dreißig Jahren nicht verändert.

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