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München

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Als Josef Mengele seine Heimatstadt Günzburg verließ, um das Studium an der Ludwig-Maximilians-Universität in München aufzunehmen, begann er eine Entdeckungsreise und eine Karriere. Er wählte die Medizin und ihre Nachbarfächer Humangenetik und Anthropologie. Seine Wahl war überaus zeitgemäß, denn diese Disziplinen sollten mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus an Bedeutung gewinnen und gingen nach den Worten einer Historikerin „eine symbiotische Beziehung“ mit dem NS-Staat ein,15 die schließlich eine entscheidende Rolle für das Schicksal von Millionen Menschen spielen sollte.


Mengeles Studentenausweis der Universität München, 1930-36.

Universitätsarchiv München, Stud-Kart II, Mengele, Josef

Sein Biologielehrer im Günzburger Gymnasium hatte sein Interesse für die Naturwissenschaft geweckt, und er fand die Anthropologie am aufregendsten. Nach dem Abitur dachte er aber an Zahnmedizin als Studienfach, weil er glaubte, damit viel Geld zu verdienen, denn in seiner Heimatstadt gab es keinen einzigen Zahnarzt.16 Als er an der Universität eingetroffen war, unterhielt er sich mit dem ein Jahr älteren Julius Diesbach, der ebenfalls vom Günzburger Gymnasium kam und schon eingeschrieben war. Diesbach meinte, Zahnmedizin sei ein zu spezialisiertes Feld, und plädierte überzeugend für Allgemeinmedizin. Für Mengele lag die besondere Anziehung der Medizin in ihrem breiten Spektrum: „Da auch Anthropologie und Humangenetik zum weiten Feld der Medizin gehörten, entschloß ich mich zu diesem Studium.“17 Trotz der Umstände – ein zwangloses Gespräch – war Mengeles Wahl nicht zufällig; er behauptete, sie habe eine „Leidenschaft“ in ihm geweckt:

Von der Vielseitigkeit der Medizin hatte ich damals keine Ahnung, aber die entfachte Flamme der Begeisterung sollte für immer, wenn auch nicht ihre zündende Leuchtkraft, so doch ihre Wärme behalten. Wie aber war es möglich, in so kurzer Zeit aus einem – man könnte fast sagen – „Resignierten“ einen „Begeisterten“ zu machen?18

Mengele beantwortete die Frage selbst, indem er suggerierte, sein Freund habe ein Potenzial freigelegt, das bereits in ihm schlummerte. Diesbach war ein „Zauberer“, voll von den „Schönheiten, Erhabenheiten und hohen Werten seiner Wissenschaft und Kunst“, der nicht von den praktischen Möglichkeiten der Medizin oder ihrem Karrierewert sprach. Er „verstand es nur – wohl ganz unbewußt – meine naturwissenschaftliche Neugier aufzustacheln und in Begeisterung für ein so vielseitiges Studium umzumünzen. Er brauchte mir ja nur aufzuzählen, welche Fächer ich im ersten Semester zu belegen hätte und meine Wahl stand so felsenfest, als ob ich nie an etwas anderes zu studieren gedacht hätte.“19 Mengele erhob das Eingreifen seines Freundes – „gerade im richtigen Moment“ – zu mythischer Größe und verglich die Begegnung mit dem Erscheinen Athenes in Gestalt eines Hirsches vor Odysseus. Die unheimliche Tatsache, dass er seinen Freund nie wiedersah, ließ ihn spekulieren, er sei vielleicht in Wirklichkeit Athene in anderer Gestalt gewesen.20

Adolf Hitler verstand die Bedeutung der Medizin und hatte genaue Vorstellungen, wie sie im neuen Deutschland praktiziert werden solle. In einer frühen Rede vor dem Nationalsozialistischen Deutschen Ärztebund (NSDÄB) sagte er: „Ich kann euch alle entbehren: Juristen, Baumeister, Ingenieure und was es sei. ... Euch aber, Euch nationalsozialistische Ärzte kann ich nicht einen Tag, nicht eine Stunde entbehren. Wenn Ihr nicht seid, wenn Ihr versagt, ist alles umsonst.“21 Wenn Hitler von Volksgesundheit sprach, meinte er nicht in erster Linie das Wohlbefinden von Individuen. Im Mittelpunkt seines Konzepts der deutschen Medizin stand die Vorstellung, die größte Verantwortung des Arztes gelte nicht dem Einzelnen, sondern dem Volk.22 Dieser entscheidende Fokuswechsel erlaubte es deutschen Ärzten, Patienten auf eine Weise zu behandeln, die ihnen zuvor undenkbar schien, ohne aus ihrer Sicht den hippokratischen Eid zu verletzen, der nun in einem ganz neuen Licht erschien. Der NSDÄB forderte eine neue medizinische Ethik:

Wir haben vom ersten Tage an darauf hingewiesen, daß die große weltanschauliche Umstellung unserer Tage, die zu einem wesentlichen Teil die Überwindung des Individuums durch das Erlebnis „Volk“ ist, auch Moral und Ethik des ärztlichen Berufes entscheidend beeinflussen muß.23

Hans Reiter, der Präsident des Reichsgesundheitsamts, betonte die Verantwortung der Ärzte im Nationalsozialismus, als er 1939 schrieb: „Der Arzt kämpft als biologischer Soldat seines Standes um die Gesundheit seines Volkes“,24 und „das Schicksal des deutschen Volkes liegt in der Hand des deutschen Arztes.“25

Die Verantwortung des deutschen Arztes gegenüber dem Volk statt gegenüber dem Einzelnen ermöglichte eine andere Form der Sorge um den Einzelpatienten. Die französischen Medizinhistoriker Yves Ternon und Socrate Helman haben dazu geschrieben:

[Der Arzt] muss seine alten humanitären Überzeugungen ablegen. Er hat nur einen Patienten: das deutsche Volk. Der Einzelne ist nicht mehr als eine Zelle des ganzen Volkes. Das Volk ist transzendent: es ist der einzige Körper. Dieser Volkskörper muss erhalten und behandelt werden. Um ihn gesund zu erhalten, ist kein Opfer zu groß. Ebenso wie ein Arzt nicht zögern wird, einen Finger zu amputieren, um einen Arm zu retten, oder einen Arm, um ein Leben zu retten, ist der NS-Arzt bereit, jede Aggression gegen den Einzelnen durchzuführen, der das Volk bedroht, gegen einzelne Deutsche und mit noch größerem Recht gegen Fremde.26

In Fällen, in denen die Existenz eines Einzelnen das Wohl des Volkes beeinträchtigte, war die Verantwortung des Arztes klar. Am 5. April 1933 forderte Hitler die deutsche Ärzteschaft auf, sich mit aller Kraft der Rassenfrage zu widmen.27

Hitlers Forderung nach Rassenhygiene als Hauptverantwortung des Arztes im neuen Deutschland spiegelte sich bald in den medizinischen Lehrplänen und der Infrastruktur dieser Berufsgruppe. Das Interesse an diesen neuen Themen war schon vor dem Machtantritt der Nationalsozialisten gewachsen, sodass Ende der 1920er- und Anfang der 1930er-Jahre die Zahl der Kurse in Genetik, Anthropologie und Rassenhygiene zunahm.28 Die Gründung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927 mit Eugen Fischer als Direktor war „eines der wichtigsten Ereignisse in der Institutionalisierung der Rassenhygiene in der Weimarer Republik“.29

Mengeles Wahl des Studienfachs wurde dramatisch bestätigt, als er am ersten Tag eine Vorlesung des österreichischen Verhaltensforschers Karl von Frisch besuchte. Frisch, der 1973 den Nobelpreis für Medizin erhielt,30 leitete damals das Institut für Zoologie der Universität München und war in den 1920er-Jahren durch seine Studie über Honigbienen bekannt geworden. Der von den Studenten „Bienen-Frisch“ genannte Forscher hielt eine Einführungsvorlesung für alle Studenten der Naturwissenschaften und Medizin. Er war gerade von einer Vortragsreise durch die USA zurückgekehrt,31 und als er vor der großen Schar der Zuhörer stand, schien er direkt zu Mengele zu sprechen, wie dieser sich Jahre später erinnerte:

Er begann mit einem ganz flüchtigen Hinweis auf die Systematik gleich von den Protozoen zu erzählen und seine fast trocken zu nennenden Worte vermochten durch einfache, aber treffende Skizzen an der Tafel unterstützt, ein so anschauliches Bild der vorgetragenen Materie zu vermitteln, wie ich es selten in meinem Leben erfuhr. … War es schon an sich nicht schwer, in mir die „zoologische Flamme“ zu entzünden, so vermochte dies Frisch nicht nur für den Augenblick …, sondern so nachhaltig, daß ich dieses Feuer mein ganzes Leben unterhalten und [mich] auch nur allzu oft daran gewärmt habe.32

In anderen Vorlesungen beschrieb Frisch

das Sehen, Riechen und Schmecken der Insekten oder den Tast- und Gehörsinn der Fische oder die Gleichgewichtsorgane der Krebse. Alles hörte sich so leicht, ja fast spielerisch an und es waren doch die Resultate grundlegend wichtiger und richtungweisender Forschertätigkeit.33

Während Frisch den jungen Mengele mitriss und inspirierte, war sein Chemieprofessor Heinrich Otto Wieland das Gegenteil, denn er betrachtete „diese Vorlesung mehr als unangenehme Unterbrechung seiner wissenschaftlichen Forschertätigkeit …, denn als Gestaltungsmöglichkeit eines pädagogischen Bedürfnisses“.34 Diese pädagogischen Schwächen glich Wieland aber im Labor aus, denn 1927 hatte er für seine Arbeiten zur Gallensäure den Nobelpreis erhalten.35 Später deckte er jüdische Studenten, die an seinem Institut studierten, indem er sie unter seinen persönlichen Schutz stellte.

Noch nach 30 Jahren erinnerte sich Mengele „mit der gleichen Freude“ an die Vorlesungen seines Physikprofessors Walter Gerlach,36 und mit „Ehrfurcht“ an die von Siegfried Mollier, dem Direktor des Anatomischen Instituts. Dass er als junger Medizinstudent einen solchen Lehrer mit „schöner sonorer Stimme“ und „glänzende[r] Erscheinung“ gehabt habe, empfand er als „Gnade“: „Mit einigen, wenigen Worten hatte dieser gottbegnadete Anatomieprofessor mich – und wohl auch alle die anderen – im tiefsten Grund der Seele angerührt und in ihr eine begeisterte Bereitschaft für mein Studium geschaffen.“37

Mollier lehrte seine Studenten, ein guter Arzt müsse Körper und Seele als Einheit begreifen. Er sprach von der Majestät des Todes, der sie in ihrer Arbeit begegnen würden. Über Molliers späteren Unterricht im Anatomielabor schrieb Mengele, der „große Lehrer“ habe von ihnen ein tiefes, sogar intuitives Verständnis der Anatomie verlangt, nicht bloß das Auswendiglernen von Begriffen. Er führte geschickt vor, was beim Sezieren sichtbar wurde, „den funktionellen Zusammenhang und die statische Zweckmäßigkeit“ der Teile des menschlichen Körpers. Mengele war besonders bewegt von Molliers Einführung zu den Sektionsstunden: „Mein ganzes Leben – auch in den schwersten Situationen – sind mir seine feierlichen Worte von damals gegenwärtig geblieben, mit denen er vom Recht des Toten sprach, daß wir ihm stets mit Würde und Ernst gegenüber zu treten hätten.“ Mollier bildete nicht nur eine Generation von Ärzten aus, sondern auch eine Generation von Künstlern, die seine Vorlesungen an der Münchner Akademie der Bildenden Künste hörten und ihm ihr Verständnis der Anatomie verdankten.38

In den kurzen Pausen zwischen den Lehrveranstaltungen musste Mengele weit über das ausgedehnte Universitätsgelände laufen, doch seine Gesundheitsprobleme erschwerten das. Also schenkten seine Eltern ihm ein Auto, einen kleinen Opel, was ihn von den meisten seiner Kommilitonen abhob und seine geselligen Aktivitäten steigerte. Dennoch scheinen Mengele trotz der geistigen Anregung und der Begeisterung für seine Studien die Trennung von zu Hause und die erste Erfahrung der Unabhängigkeit schwergefallen zu sein. Wir kennen seine damaligen Gedanken nur aus den nüchternen und introspektiven autobiografischen Aufzeichnungen späterer Jahre, und sie zeigen vielleicht eher seine späteren Erfahrungen als das Heranwachsen eines jungen Mannes. Er schrieb von Einsamkeit und Isolation: „Gerade dieses Gefühl des Alleinseins, des Mangels an vertrautem Anschluß an eine Familie, des Fehlens einer echten Freundschaft habe ich in den ersten Semestern sehr bitter empfunden.“ Diese Gefühle drückten sich in „Unruhe, Unbefriedigtsein, Unlust, oberflächlicher Genußsucht und seichtem Dahinleben“ aus. Er gab sich selbst die Verantwortung für diese „mehr innere als äußere Isolierung“, denn er habe weder seine Familienbeziehungen gepflegt noch sich um „eine ehrliche Freundschaft“ bemüht. Den Grund sah er „tiefer in meiner Persönlichkeit“, sie war „nichts anderes, als Hemmung“. Er behauptete, dass er beim gescheiterten Versuch, seine Isolation zu „überwinden“, „dieses innere Unvermögen in einer – leicht mißzudeutenden – Wahrung der Distanz, kühler Unpersönlichkeit und ungeselliger Arroganz“ tarnte, die dazu führte, dass er „all das abgeschreckt habe, was mir sonst an Freundschaft und Zuneigung von sich aus … zugeflogen wäre“. Mengele fasste seine Reflexion mit der Überlegung zusammen, er habe „mehr als die Hälfte [s]eines Lebens“ gebraucht, um seine Hemmungen und die „Tarnung“ zu überwinden, mit der er sich schützte, doch „ihre Relikte“ seien auf „seinem ganzen Lebensweg“ verstreut.39

Mengele

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