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Ärztliche Pflichten

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Obwohl Auschwitz nach Größe und Aufgaben einzigartig unter den Konzentrationslagern war, war die Sanitätsabteilung (Abteilung V) ebenso aufgebaut wie bei den übrigen. Mengeles direkter Vorgesetzter war der Standortarzt, SS-Sturmbannführer Dr. Eduard Wirths, die höchste medizinische Autorität im Lager. Wirths war nicht dem Lagerkommandanten verantwortlich, sondern SS-Standartenführer Dr. Enno Lolling, dem „Leitenden Arzt KL“ (Konzentrationslager). Lolling führte das Amt D III (Sanitätswesen und Lagerhygiene) des SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamts (SS-WVHA), dem das Lagersystem unterstand. Wirths sandte auch Berichte an SS-Obergruppenführer Dr. Ernst-Robert Grawitz, den Reichsarzt SS und Polizei.7

Als Standortarzt war Wirths für die medizinische Versorgung aller Angehörigen der SS-Garnison in Auschwitz zuständig und leitete ein gut ausgestattetes SS-Lazarett mit Zahnärzten, Apothekern, deutschen Rotkreuzschwestern und Sanitätern. Ein „Desinfektionskommando“ aus Sanitätern war für die Desinfektionseinrichtungen zuständig, die legitimen gesundheitlichen Bedürfnissen dienten, aber auch für den Umgang mit dem Gas Zyklon-B, das in den Gaskammern verwendet wurde. Außerdem leitete Wirths die medizinische Versorgung der Häftlinge des Lagers durch die Lagerärzte. Das Leben einzelner Gefangener besaß für die SS wenig Interesse, bis im Kriegsverlauf, als ihre Arbeitskraft immer wertvoller wurde, die Sorge um ihre Arbeitsfähigkeit wuchs. Dagegen war die allgemeine Gesundheit der Häftlinge – soweit sie das SS- und Zivilpersonal im Lager beeinträchtigte – vom Standpunkt der Volksgesundheit sehr wichtig. Wegen der schlechten Ernährung und sanitären Bedingungen bestand stets die Gefahr von Krankheiten und Seuchen, und die Lagerärzte der SS standen bei ihrer Bekämpfung in vorderster Reihe.

Mengele machte sich einen Namen als wirksamer Krankheitsbekämpfer, als er Ende 1943 eine Technik entwickelte, die ebenso effizient wie radikal war. Die nicht jüdische Gefangene Ella Lingens aus Österreich, die wegen ihrer Hilfe für Wiener Juden inhaftiert war, schilderte in ihren 1948 geschriebenen Memoiren, wie hart Mengele vorging, um den Typhus auszurotten:

Tatsächlich wurde das Fleckfieber erst besiegt, als der grausamste Mensch auftauchte, den ich je erlebt habe. Hauptsturmführer Josef Mengele löste Rhode als Lagerarzt ab und fand den Weg zur lückenlosen Desinfektion: Er ließ sämtliche 1500 kranken jüdischen Frauen in einem Revierblock sammeln und auf einen Schub ins Gas abtransportieren. Damit hatte er einen leeren Krankenblock, den er drei Tage hindurch gründlich desinfizieren und mit neuen Strohsäcken und sauberen Decken versehen ließ. Dann erst wurden die Patientinnen des benachbarten Blocks gebadet, kontrolliert und nackt in den läusefreien Block gebracht, der gesperrt wurde. Danach geschah mit dem nächsten Block das gleiche, bis alle Blocks lausfrei waren. An sich war dies die einzig mögliche Form der Seuchenbekämpfung, aber dass man sich nicht entschließen konnte, zu diesem Zweck eine neue Baracke zu bauen, sondern dass man mit dem Mord an 1500 Jüdinnen begann, das was das Fürchterliche in dieser Situation, wo alles widersinnig war, das Böse gut und das Gute böse.8

Mengele wandte dieselbe Technik auch in anderen Sektoren von Auschwitz an, „bei der Bekämpfung der Scharlachepidemie im Lager BIIc für ungarische Jüdinnen, der Masern im Block IIa im Block für jüdische Kinder sowie im Zigeunerfamilienlager“.9 Die Außenstelle des Hygieneinstituts der Waffen-SS im nahen Rajsko, die nicht unter Wirths direkter Leitung stand, war eine wichtige Institution für Krankheitserkennung und -bekämpfung. Es war vor allem ein medizinisches Labor und machte Tests und Untersuchungen von Blut und anderen Körperflüssigkeiten sowie anderen Proben von SS-Angehörigen und Häftlingen aus dem Lager.

Laut dem polnischen Historiker Aleksander Lasik gehörte zu den Aufgaben der Lagerärzte die „mehr oder weniger formal ausgeübte Betreuung der Häftlinge“, also „die Aufnahme von kranken Häftlingen in die Häftlingskrankenbauten bzw. ihre Entlassung, die Diagnose und Verordnung der Behandlungsmethoden“, außerdem hatten die Lagerärzte „die Qualität der in den Häftlingsküchen zubereiteten Mahlzeiten zu prüfen und die medizinische Aufsicht über die Häftlingskrankenbauten auszuüben. Sie hatten die Aufgabe, den Gesundheitszustand der neu in das Lager überstellten oder entlassenen Häftlinge zu kontrollieren. In der Endphase des Krieges musterten sie die Häftlinge deutscher Nationalität hinsichtlich ihrer Wehrfähigkeit. Bei unnatürlichen und gewaltsamen Todesfällen musste der SS-Lagerarzt eine Sektion der Leiche des toten Häftlings durchführen, die Todesursache feststellen und einen entsprechenden Bericht für die Schreibstube des SS-Standortarztes anfertigen.“10 Neben diesen Aufgaben, die mehr oder weniger den traditionellen ärztlichen Pflichten entsprachen, waren die Lagerärzte eng mit dem Massenmord verbunden. Sie führten Selektionen an der Rampe aus, wo die Gefangenen in Auschwitz eintrafen, und entschieden dort, wer sofort in der Gaskammer sterben und wer zuerst als Zwangsarbeiter ausgebeutet werden solle. Sie führten auch Selektionen unter Gefangenen auf den Krankenstationen durch, um zu bestimmen, wer noch arbeitsfähig war und wer ermordet werden sollte. Sie stellten den Tod der Opfer der Gaskammern fest und waren bei der Ausführung von körperlichen Strafen und Hinrichtungen anwesend.

Neben ihren offiziellen Pflichten führten die Lagerärzte in Auschwitz auch Experimente an Häftlingen durch. Die Forschungen in Auschwitz dienten wie die in anderen Lagern „praktischen“ Zwecken, so in Dachau der Suche nach Methoden zur Erwärmung des Körpers nach Unterkühlung, was für die Luftwaffe bei der Behandlung geretteter Piloten wichtig war, oder Medikamententests an Gefangenen, um Wirksamkeit und Nebeneffekte einzustufen. Es gab auch Forschungen wie die Mengeles, die weniger für praktische Zwecke betrieben wurden, als um Wissen und Karrieren zu befördern. Obwohl die medizinische Forschung in Auschwitz nicht unter Wirths Aufsicht durchgeführt wurde, wusste er sicherlich davon. Auch er selbst arbeitete mit seinem jüngeren Bruder, ebenfalls ein Gynäkologe, an Experimenten zum Gebärmutterhalskrebs.

Die ausführlichste Serie von Experimenten in Auschwitz betraf die Perfektionierung einer Methode zur zuverlässigen und effizienten Massensterilisation, die die Nazis für Slawen, „Mischlinge“ und andere planten. Die Experimente wurden von Himmler befohlen und von Professor Carl Clauberg ausgeführt, einem Experten für Unfruchtbarkeit, der eine nichtchirurgische Methode mit Röntgenstrahlen fand, mit der er nach seiner Schätzung bei richtigem Personal und Ausrüstung bis zu 1000 Frauen pro Tag sterilisieren konnte.11 Parallel dazu wurden Experimente zur Sterilisation von Dr. Horst Schumann ausgeführt, der die Hoden und Eierstöcke männlicher und weiblicher jüdischer Gefangener bestrahlte und die passende Dosis suchte. SS-Obersturmbannführer Dr. Johann Paul Kremer machte Experimente zur Wirkung von Unterernährung und war besonders interessiert an brauner Leberatrophie. Kremer war Anatomieprofessor an der Universität Münster und besaß wie Mengele zwei Doktortitel. Die polnische Historikerin Irena Strzelecka beschreibt Kremers Methode:

Jeden Morgen führte er im Ambulatorium von Block 28 des Stammlagers Auschwitz … eine Durchsicht der um Aufnahme in das Häftlingskrankenrevier nachsuchenden Häftlinge durch. Viele dieser Häftlinge waren bereits extrem entkräftet (die sog. Muselmänner), und diese Häftlinge bestimmte er zum überwiegenden Teil zur Tötung durch eine Phenolspritze. … Während sie bereits auf dem Sektionstisch lagen, fragte er die Häftlinge, unmittelbar bevor sie getötet wurden, über die für ihn wesentlichen Einzelheiten aus (wie etwa das Körpergewicht vor der Verhaftung oder die zuletzt eingenommenen Medikamente). … Von Kremer dazu bestimmte Häftlinge entnahmen den noch warmen Leichen Teile der Leber, der Milz und der Bauchspeicheldrüse und präparierten die Gewebeproben zur weiteren Verfügung Kremers.12

Manche Lagerärzte wie Friedrich Entress, Helmuth Vetter, Eduard Wirths und in zweiter Linie Fritz Klein, Werner Rohde, Hans Wilhelm König, der Pharmazeut Viktor Capesius und der Leiter des Hygieneinstituts in Rajsko, Bruno Weber, probierten für die IG Farben an Gefangenen in Auschwitz „die Verträglichkeit und Wirksamkeit neuer Präparate und Arzneimittel aus“.13 Entress und Vetter versuchten experimentell die genaue Inkubationszeit von Typhus zu bestimmen, um herauszufinden, wann infizierte Patienten am ansteckendsten waren und wann nicht mehr. Das Experiment erforderte die bewusste Infektion von Häftlingen mit Typhus.14

Strzelecka beschreibt eine besonders seltsame und wenig bekannte Reihe von Experimenten an Gefangenen, die auf ein wachsendes Problem der Wehrmacht reagierte. Im Spätsommer 1944 wurde ein Dr. Emil Kaschub von der Wehrmacht nach Auschwitz geschickt, „um dort herauszufinden, welche Methoden deutsche Soldaten anwandten, um durch die künstliche Hervorrufung von Wunden, Geschwüren, Fieber und infektiöser Gelbsucht Krankheiten zu simulieren; dieses Simulieren von Krankheiten war insbesondere unter den an der Ostfront kämpfenden deutschen Soldaten verbreitet“.15 Kaschub versuchte bei jüdischen Häftlingen dieselben Symptome „auszulösen“ wie bei simulierenden Soldaten.

Auschwitzinsassen wurden auch Ärzten in anderen Lagern zur Verfügung gestellt. So wählte Mengele 20 jüdische Kinder in Auschwitz aus und schickte sie ins KZ Neuengamme, wo sie bei Tuberkuloseexperimenten von Dr. Kurt Heissmeyer mit der Krankheit infiziert wurden.16 Laut Strzelecka wurden die Kinder „im April 1945 in Hamburg in einer am Bullenhuser Damm gelegenen Schule an den Rohren der Heizungsanlage aufgehängt“, weil man die Beweise von Heissmeyers Experimenten beseitigen wollte.17

Der Historiker Christian Dirks beschreibt in seinem Buch über Mengeles Kollegen Dr. Horst Fischer ein Programm von Experimenten mit Elektrokrampftherapie (EKT), das dieser 1943–44 in Auschwitz III durchführte. EKT galt damals „als die am weitesten entwickelte Methode zur Behandlung von oftmals suizidal gefährdeten, schwerstkranken Patienten, die an Schizophrenie und Depressionen litten“.18 Der im Lager gefangene polnische Arzt Dr. Zenon Drohocki, der in Krakau Medizin studiert hatte, hatte in Bern, Brüssel und Paris an EKT geforscht und „in Grenoble praktische Erfahrungen in Elektroenzephalographie gewonnen“.19 Drohocki empfahl Fischer, einen EKT-Apparat zur Behandlung von Häftlingen zu bauen. Der ausgebildete Chirurg Fischer hatte keine Ahnung von EKT, war aber fasziniert, bekam die Erlaubnis Wirths und erlaubte Drohocki, weiterzuarbeiten. Mithilfe eines anderen Gefangenen konnte Drohocki die nötigen Teile aus dem Bestand der IG-Farben-Fabrik „organisieren“ und die Maschine bauen. Kleine Gruppen von angeblich geisteskranken Häftlingen wurden aus anderen Teilen des Lagers nach Auschwitz III gebracht und behandelt. Der Versuch erregte viel Aufmerksamkeit, und Mengele soll bei einem der Experimente anwesend gewesen sein. Ziel der Behandlung war es, Gefangene wieder arbeitsfähig zu machen. Einige Versuchspersonen wurden danach in Auschwitz-Birkenau vergast, zudem berichteten mehrere Zeugen, die meisten Experimente hätten zum Tod der Versuchspersonen geführt.

Im Gegensatz zu jenen Experimenten, die aus scheinbar praktischen Gründen durchgeführt wurden, betrafen Mengeles Forschungen, die er neben seinen sonstigen Pflichten in seiner Freizeit durchführte, fast ausschließlich die Wissenschaft, die ihn seit Beginn des Studiums beschäftigt hatte. Höchstwahrscheinlich wollte er seine Forschungen in Auschwitz zur Grundlage einer Habilitationsschrift machen.20 In diesem Streben nach einer akademischen Karriere stand Mengele nicht allein. Dr. Heinz Baumkötter, der Erste Lagerarzt im KZ Sachsenhausen, schloss seine Doktorarbeit erst 1942 während seines Dienstes dort ab,21 und Mengeles Kollege in Auschwitz, Dr. Hans Delmotte, ließ sich von einem jüdischen Häftling, der Medizinprofessor und ein „von breiten Kreisen anerkannter Wissenschaftler“ gewesen war, bei seiner Doktorarbeit helfen.22

Mengele

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