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Bonn

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Nach zwei Semestern in München wechselte Mengele nach Bonn. Es war in Deutschland üblich, dass Studenten an mehreren Orten studierten, und Mengele besuchte bis zum Abschluss fünf Universitäten. Vielleicht war sein Wechsel dadurch bestimmt, dass an der kleineren Universität am Rhein eine ruhigere Atmosphäre herrschte, mit kaum zwei Dritteln der Zahl an Medizinstudenten gegenüber München.40 In Bonn begann auch sein politisches Engagement, möglicherweise als Versuch, mehr Kontakt zu anderen zu finden. In seiner Autobiografie deutete Mengele an, er und seine Kommilitonen seien zunächst „parteipolitisch … in keiner Form gebunden“ gewesen, obwohl er „nationalgesinnt“ war, was die Schule bestärkt hatte. Er behauptete, das „Unglück“ zu fühlen, das Deutschland durch das „Diktat“ von Versailles angetan worden war. In der Parteienlandschaft stand er aber der traditionellen deutschnationalen Haltung seiner Eltern näher als den Nationalsozialisten, die eine überraschende Zahl von Anhängern anzogen, darunter „die älteren [s]einer Studienkollegen“, die bei den „denkwürdigen“ Septemberwahlen 1930 wählen durften, als die NSDAP zur zweitstärksten Fraktion im Reichstag wurde und ihr Anteil von zwölf auf 107 der 577 Sitze stieg. Mengele gab zu, das Programm der Nazis habe „einen starken Reiz“ auf ihn ausgeübt, aber im Mai 1931 (dem Monat seiner Immatrikulation in Bonn) trat er nicht der NSDAP bei, sondern dem Stahlhelm, der 1918 gegründeten nationalkonservativen Organisation mit Bindungen an die DNVP, der sein Vater und mehrere Lehrer des Günzburger Gymnasiums angehörten.41

Der Auslöser für sein wachsendes politisches Engagement kam kurz nach der Ankunft in Bonn. Während er mit einem Kommilitonen und früheren Mitschüler auf dem Alten Zoll stand, einem Teil der Stadtbefestigung mit weitem Blick über den Rhein, beobachtete er eine Demonstration im Arbeiterviertel Beuel auf der anderen Rheinseite. Eine Kolonne von Demonstranten überquerte die Brücke in Richtung Stadtzentrum und trug eine „blutig rote“ Fahne mit fünfzackigem Stern. Sie marschierten in der „wohleingeübte[n] Marschordnung“ der Roten Armee und trugen „Russenkittel, Schirmmütze, Koppel mit Wehrgehänge“. Mengele und sein Freund waren zutiefst erschüttert von diesem bedrohlichen Anblick des kommunistischen Aktivismus, und beim Abschied sagte Mengele: „Nun wissen wir wohl, was wir zu tun haben.“ Das bedeutete, es genügte nicht, an die Nation zu glauben; man musste etwas tun, um die Gefahr des Bolschewismus zu bekämpfen.42

Obwohl Mengele einen Schritt zu größerem politischem Engagement gemacht hatte, war er noch nicht auf dem Weg zum überzeugten Nationalsozialisten; er hätte der Partei oder einer ihrer Organisationen beitreten können, tat es aber nicht, sondern blieb dem konservativen Nationalismus seines Vaters verbunden. Das heißt nicht, dass Mengeles späterer Eintritt in NSDAP und SS von Opportunismus oder Karrierestreben motiviert gewesen wäre, wie bei so vielen. Mengeles Hingabe an nationalsozialistische Ideen und die rückhaltlose Unterstützung der Bewegung erwuchsen aus der Wissenschaft, die ihn in den folgenden Jahren so intensiv beschäftigte.

Mengele blieb drei Semester in Bonn und hatte damit fünf Semerster Medizin studiert, was ihm die Teilnahme am Physikum, der Zwischenprüfung, erlaubte.43 Er bestand die Prüfung, die Anatomie, Physiologie, Physik, Chemie, Zoologie und Botanik umfasste,44 am 12. August 1932 mit „genügend“.45 Im September kehrte Mengele für das sechste Semester nach München zurück, einem Semester, das von der Weimarer Republik zum Beginn der NS-Herrschaft führte. In den Wahlen vom 6. November verlor die NSDAP Stimmen, und auch wenn viele glaubten, der Rückgang werde sich fortsetzen, wurde Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler ernannt. Binnen eines Monats, nur eine Woche vor Semesterende, brannte der Reichstag, was den Vorwand zur Beendigung der parlamentarischen Demokratie und zum Beginn der Diktatur lieferte.

Mengele verbrachte das Sommersemester 1933, sein siebentes, in Wien. Er mietete ein Zimmer bei einem Apotheker in einem ansehnlichen Mietshaus am Bennoplatz, nahe dem Stadtzentrum und nicht weit vom Universitätskrankenhaus. Allerdings gab es in seinem Zimmer Wanzen.46 Während also sein Quartier zu wünschen übrig ließ, galt das nicht für die Qualität der Lehrveranstaltungen. Zu seinen Lehrern zählten Dr. Nikolaus von Jagić, der Direktor der Universitätsklinik, und Dr. Wolfgang Denk, der Leiter der chirurgischen Abteilung. Denk genoss einen internationalen Ruf als Chirurg und Lehrer,47 war aber später an Tests mit einem Blutgerinnungsmittel beteiligt, das Sigmund Rascher und Robert Feix in Dachau entwickelt hatten.48 Mengele studierte zudem bei Dr. Leopold Arzt, dem Leiter der Abteilung für Dermatologie und Geschlechtskrankheiten, der 1939 wegen seiner Unterstützung der NS-feindlichen Regierungen Dollfuss und Schuschnigg entlassen wurde.

Schließlich hörte er auch beim Leiter der Kinderklinik, Dr. Franz Hamburger, einem „standhaften Vetreter des rechten, völkischen Lagers“ und Anhänger des Nationalsozialismus. Ab 1934 war Hamburger in der NSDAP aktiv, die damals in Österreich verboten war.49 In einem Lehrbuch, das er gemeinsam mit einem Kollegen schrieb, stand in den Auflagen von 1940 und 1943:

Du sollst Dir die Pflichten des nationalsozialistischen Arztes immer gegenwärtig halten, der nicht nur das einzelne Individuum im Auge hat, sondern den gesamten Volkskörper, in dem das Einzelindividuum nur ein Baustein, nur eine Zelle des gesamten Volkes ist.50

Hamburgers Klinik empfahl nicht nur Euthanasie für Säuglinge mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, sie schickte auch regelmäßig Kinder in die berüchtigte Wiener Fürsorgeanstalt Am Spiegelgrund, wo Hunderte unter dem NS-Euthanasieprogramm ermordet wurden.51

Dr. Bertha Aichinger, eine Ärztin aus Linz, wohnte mit ihren Zwillingen Ilse und Helga in einer Wohnung an der Gumpendorffer Straße, etwa 25 Minuten zu Fuß von Mengeles Quartier entfernt. In ihren Memoiren schrieb Ilse Aichinger, inzwischen eine anerkannte Autorin, über einen seltsamen Besuch in ihrer Kindheit. Ihre Mutter verkündete, ein „freundlicher Herr“, den sie aus dem Krankenhaus kenne, werde Ilse und Helga besuchen.

Was wollen Sie von ihnen wissen, fragte sie, als er in der Tür stand. Ich habe nur einige Fragen, sagte der Herr. Sie sind eher schüchtern, sagte unsere Mutter, ich werde dabei sein. Dann fragte er, wie es denn so wäre, wenn man immer jemanden neben sich hätte, der genauso aussähe wie man selbst. Und noch einige wenig spektakuläre Fragen. Dazwischen musterte er meine Schwester und mich mit einer großen Neugier. Er ging zögernd, aber er ging bald wieder. Schade, sagten wir, als er draußen war, was macht der Herr den ganzen Tag? Er ist Zwillingsforscher. Ach schon wieder nur deshalb, sagten wir enttäuscht. Und wie heißt der Herr? Er heißt Dr. Mengele.52

Als ich Helgas Tochter, die Malerin Ruth Rix, fragte, ob Helga je über die Begegnung gesprochen habe, bestätigte sie, der Besuch habe stattgefunden und ihre Mutter habe sich „eindeutig“ daran erinnert.53 Obwohl Mengele in seiner Wiener Zeit noch kein Zwillingsforscher oder Arzt war, studierte er doch Medizin und interessierte sich vielleicht schon für Zwillingsforschung.54

In dieser Zeit erlebte Mengele einen „Wendepunkt“ in seiner Gesundheit. In seiner Autobiografie beschreibt er, dass er die Einschränkungen der körperlichen Aktivität, die sein Nierenschaden erzwang, ignorierte und an einem 10 000-Meter-Lauf teilnahm, worauf er Blut in seinem Urin feststellte. Er behauptet, keine ärztliche Hilfe gesucht und eine Woche später das Deutsche Sportabzeichen gemacht zu haben. Im Lauf des nächsten Jahres ging sein Leiden so weit zurück, dass er bei einer gründlichen Untersuchung 1937, als er eine Lebensversicherung beantragte, erfuhr, er sei völlig genesen.55

Im Herbst 1933 kehrte Mengele nach München zurück, wo er neben Medizin auch Anthropologie unter dem prominenten Forscher Theodor Mollison zu studieren begann, der sein Doktorvater wurde. Mollison, „einer der fruchtbarsten methodischen und technischen Innovatoren auf dem Gebiet der Messung und Fotografie“,56 wurde 1876 als Sohn eines schottischen Vaters und einer deutschen Mutter geboren und studierte in Freiburg. Er entwickelte oder perfektionierte eine Reihe von Mess- und Aufzeichnungstechniken, die dazu beitrugen, die Präzision der Messungen, auf denen die physische Anthropologie beruhte, zu standardisieren und zu steigern. Seine Standards und Richtlinien zum Gebrauch der Fotografie bei anthropologischen Studien sollten „eindeutige und vergleichbare Resultate“ garantieren,57 und er erfand eine neue Technik zur Darstellung und Analyse von Daten, die seine Disziplin weithin beeinflusste. Neben seinen methodologischen Beiträgen beschäftigte er sich mit dem Studium des Blutserums als Mittel der Unterscheidung von Rassen.

Mollison half dabei, die Anthropologie aus einer „epistemologischen, methodologischen und theoretischen Sackgasse“58 herauszuführen, die „den grundlegendsten Baustein dieser Disziplin … das Verständnis der Rasse an sich zu untergraben drohte.“59 Laut Amir Teicher mussten die Anthropologen für die Lösung dieses Problems „den Werkzeugkasten ihres Fachs modernisieren … praktische Verwendungszwecke für ihre Disziplin finden und … sich den politischen Zielen des deutschen Staats unterordnen“. Dadurch wurde „physische Anthropologie allmählich zur ‚Rassenkunde‘, übernahm populäre rassische Klassifikationen und fügte den bisherigen, rein deskriptiven anatomischen Darstellungen kulturelle und geistige Bestandteile hinzu.“60 1934 schrieb Mengeles neuer Mentor Mollison:

Die neue weltanschauliche Einstellung unseres Volkes hat dazu geführt, daß Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung genützt werden, die einer früheren Regierung entweder gleichgültig oder ein Ärgernis waren. Die unwahre Behauptung von der Gleichwertigkeit der Menschen, die man uns Jahrhunderte lang vorredete, und an die in Wirklichkeit kein Mensch glaubte, gab den Vorwand dafür ab, das Minderwertige zu stützen und das Hochwertige herabzuziehen.61

Die Wissenschaft, die Mengele zu studieren begann, sollte ein wichtiges Hilfsmittel der neuen Politik werden. Otto Aichel, der stellvertretende Vorsitzende der Gesellschaft für physische Anthropologie, schrieb 1934:

Der Führer Adolf Hitler setzt zum ersten Male in der Weltgeschichte die Erkenntnisse über die biologischen Grundlagen der Entwicklung der Völker – Rasse, Erbe, Auslese – in die Tat um. Es ist kein Zufall, daß Deutschland der Ort dieses Geschehens ist: Die deutsche Wissenschaft legt dem Politiker das Werkzeug in die Hand.62

Im selben Jahr schrieb der Kieler Anthropologieprofessor Hans Weinert: „Heute ist also die Biologie als ‚ein Kernstück der nationalsozialistischen Weltanschauung‘ erkannt und festgestellt“, und er fuhr fort, „unter allen Wissenschaften … steht die Anthropologie … mit den praktischen Ausnützungen der Rassenkunde und Rassenhygiene im Mittelpunkt der gesamten Biologie.“63 Schon 1931 hatte der führende deutsche Forscher Fritz Lenz den Nationalsozialismus als „angewandte Wissenschaft“ und „in erster Linie [als] angewandte Biologie, angewandte Rassenkunde“ bezeichnet.64 Diese Symbiose von Wissenschaft und Politik gab Mengeles akademischer Betätigung eine zusätzliche Dimension und rüstete ihn dafür, in vorderster Front des Rassenkampfs zu dienen, der im Zentrum der NS-Weltanschauung stand.

Während der nächsten vier Semester nahm der Name Mollison eine zentrale Stelle in Mengeles Liste der Lehrveranstaltungen ein. Neben seinen klinischen und theoretischen Studien in der Allgemeinmedizin (einschließlich Geburtshilfe, Orthopädie und Chirurgie) studierte Mengele intensiv Anthropologie, und die Kurse bei Mollison füllten zwei Drittel seiner Zeit aus.65 Kurz nach Hitlers Machtantritt schlug Mollison vor, die anthropologische Sammlung des von ihm geleiteten Instituts für eine Ausstellung über Rassenkunde zu organisieren.66 Eine frühere Ausstellung des Instituts war 1917 von seinem Vorgänger geschlossen worden, doch Mollison argumentierte, die Zeit sei reif, um eine neue zu zeigen, die nicht nur den Studenten, sondern auch der Öffentlichkeit dienen könne. Die anthropologische Ausstellung wolle auf die wirksamste Art das Ziel der Regierung unterstützen, ein Verständnis der Rassenfrage in der gesamten Bevölkerung zu wecken.67

Mollison betonte, die Prinzipien der Rassenkunde, die er eine unverzichtbare Grundlage der nationalsozialistischen Weltanschauung nannte, würden als Leitfaden der Ausstellung dienen und verdeutlichen, dass unterschiedliche Rassen unterschiedlichen Wert besäßen.68 In seinem Buch über die deutsche Anthropologie während des Ersten Weltkriegs kommt Andrew Evans zu dem Schluss, der Vorschlag für die Münchner Ausstellung zeige klar, dass die Anthropologie nicht nur „völlig für Staat und Volk mobilisiert worden war, sondern auch eine durchgehend rassistische und völkische Perspektive eingenommen hatte“.69 Die Jahre, die es dauerte, bis die Ausstellung genehmigt und eingerichtet war – sie eröffnete am 2. April 1938 –, waren genau die Zeit, in der Mengele bei Mollison studierte. Angesichts Mollisons intensiver Beschäftigung mit der Ausstellung und Mengeles Begeisterung für das Thema ist es mehr als wahrscheinlich, dass Mengele bei der Planung und Ausführung mithalf.

Für seine Doktorarbeit wählte Mengele ein Thema, das völlig damit übereinstimmte, wie Anthropologie im Dritten Reich gesehen und praktiziert wurde. In „Rassenmorphologische Untersuchung des vorderen Unterkieferabschnittes bei vier rassischen Gruppen“ wollte er „ein Gesamtbild der rassischen Verschiedenheiten des vorderen Kieferabschnittes“ geben.70 Dies muss im größeren Zusammenhang von Versuchen gesehen werden, Unterschiede bei körperlichen Merkmalen mit der Zugehörigkeit zu einer Rasse zu verbinden und letztlich eine „Rassendiagnose“ zu entwickeln. Mengele setzte sich mit früheren Versuchen von Anthropologen auseinander, rassisch begründete Unterschiede in der Form des vorderen Unterkiefers zu finden, und kritisierte sie als methodisch unzulänglich.71

Mengeles Arbeit basierte auf der sorgfältigen Untersuchung von 122 Unterkiefern aus sechs rassischen Gruppen, die zur anthropologischen Sammlung der Universität gehörten. Mengele betrachtete nur den vordersten Teil des Unterkiefers – einen Bereich, dessen horizontale Begrenzungen die Foramina mentale (zwei Knochenöffnungen) waren und der vertikal bis zum Rand der Zahnalveolen und der Schädelbasis reichte – und bestimmte dabei 32 lineare und fünf Winkelbestimmungen in Bezug auf wichtige Punkte in diesem Bereich, aus denen er neun Größenverhältnisse und andere relative Funktionen ableitete. Er wandte diese Analytik an und untersuchte dabei ihren Wert als Anzeichen der Rasse, indem er einen Wertigkeitsindex erstellte, der durch Vergleich der Variationen eines Merkmals innerhalb rassischer Gruppen und zwischen ihnen entstand. Je höher der Wertigkeitsindex, desto wichtiger war dieses Merkmal für die Bestimmung. Mengele analysierte die Daten auch statistisch in Hinsicht auf die Präzision und Zuverlässigkeit seiner Messungen.

Mengeles nächste Herausforderung, die möglichst zweckmäßige Darstellung seiner Daten, war zweifellos von Mollison beeinflusst. 1907 hatte Mollison eine Technik entwickelt, die Ergebnisse anthropometrischer Forschungen zur rassischen Differenzierung darzustellen, die seine Disziplin umwälzte und die objektiven Messwerte, auf denen die physische Anthropologie beruhte, wirksam visuell ausdrückte. Traditionell wurden Daten in Tabellenform dargestellt, mit Spalten für Minimal-, Maximal- und berechnete Mittelwerte für bestimmte Messungen; eine solche Darstellung war aber wenig nützlich für die Analyse, vor allem beim Vergleich von Daten mehrerer unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen, was natürlich das Ziel jener war, die rassische Unterschiede studierten. Mollisons Methode erlaubte den Vergleich großer Mengen von Messungen auf eine solche Art, dass die einfache Beobachtung Verbindungen und Einflüsse bestimmen konnte, die keine noch so umfangreiche Untersuchung der Rohdaten ermöglichte.

Mollison nannte seine Technik Abweichungskurve, weil sie den Grad anzeigte, in dem die Merkmale eines getesteten Beispiels von den Werten der Ausgangsgruppe abwichen. Sie erreichte eine „Übersetzung von Zahlenwerten in Punkte auf einer Fläche, und indem sie diese Punkte verbanden, um eine Kurve zu bilden, verwandelten Anthropologen Zahlen in sichtbare Gebilde. Statistische Daten hatten nun eine Form, die visuell beurteilt werden konnte und vielleicht auch sollte.“72 Mengele stellte das Potenzial dieser Methode heraus: „An Hand der graphischen Darstellungen ist es ohne weiteres möglich, sich ein klares Bild zu verschaffen über die Merkmalsausprägungen bei den einzelnen rassischen Gruppen.“73

Seine Schlussfolgerungen waren unzweideutig: „Die Kiefer der untersuchten rassischen Gruppen weisen in ihren vorderen Abschnitten Unterschiede auf, die so deutlich sind, daß sie eine Rassenunterscheidung gut ermöglichen.“74 Für seine Methoden galt das aber weniger. In einer der wenigen kritischen Analysen von Mengeles Münchner Dissertation nannten Udo Benzenhöfer und seine Kollegen 2008 Mengeles Ansatz grundsätzlich fehlerhaft, da er bestimmte statistische Techniken nicht benutzt habe, die ihm damals zur Verfügung standen, und kritisierten einige seiner analytischen Entscheidungen. Mit dem scharfem Blick des Nachgeborenen kamen sie zu dem Schluss, Mengele habe kein tragfähiges Konzept der Rasse etablieren können, weil es keines gab (oder gibt), wobei sie sich auf das Buch Gene, Völker und Sprachen der Genetikers Luigi Luca Cavalli-Sforza bezogen.75 In eine ähnliche Richtung zielt die Kritik des Historikers Michael Kater:

Formal betrachtet, bewegte sich Mengeles Arbeit hier auf den exakt-naturwissenschaftlichen Gleisen, auf denen sein Lehrer Mollison geschult worden war. Dennoch gab es bereits zu Anfang von Mengeles wissenschaftlicher Tätigkeit alarmierende Anzeichen von unzulässigem Subjektivismus, der den hoffnungsvollen Akademiker frühzeitig stigmatisierte. Das eine war die von ihm postulierte Sicherheit, daß „Rassen“ sich ja voneinander unterschieden … und daß daher, als Konsequenz, qualitative Werturteile zu vertreten seien.76

Mollison hegte offenbar selbst Zweifel an der Qualität von Mengeles Arbeit: „Die Arbeit leidet unter einer etwas ungeschickten Darstellungs- und Ausdrucksweise, darf jedoch als den Anforderungen, die an eine Dissertation zu stellen sind, entsprechend bezeichnet werden.“77

Diese lauwarme Bewertung konnte Mengele bei den mündlichen Prüfungen zwei Wochen später aber ausgleichen. Am 11. November 1935 wurde er im Nebenfach Zoologie von Karl von Frisch geprüft und bestand mit 2 oder magna cum laude. Am 13. November prüfte Theodor Mollison ihn im Hauptfach Anthropologie und gab ihm die Note 1–2, also zwischen summa und magna cum laude. Im zweiten Nebenfach Physiologie78 wurde er von Philipp Broemser geprüft und erhielt ein summa cum laude.79 Durch diese Erfüllung aller Anforderungen wurde Mengele am 13. November 1935 mit summa cum laude promoviert.

Mengele setzte seine Studien fort und bestand im Sommer 1936 in München das Staatsexamen in Medizin. Als Nächstes musste er ein einjähriges Praktikum ablegen, das ihn vom September bis Dezember 1936 an die Leipziger Universitätsklinik80 und ab dem 1. Januar 1937 ans Institut für Erbbiologie und Rassenhygiene der Universität Frankfurt führte.

Mengele

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