Читать книгу Ein N**** darf nicht neben mir sitzen - David Mayonga - Страница 10
ОглавлениеKINDHEIT IN MARKT SCHWABEN
Meine Geschichte beginnt ungefähr 25 Kilometer östlich von München im beschaulichen Markt Schwaben. Markt Schwaben ist eine sehr ruhige Ortschaft. Am Marktplatz gibt es ein großes Schwarzes Brett, an dem die Bürger vom örtlichen Finanzamt gebeten werden, ihre Steuererklärung rechtzeitig einzureichen. Daneben hängen die aktuellen Todesanzeigen des Ortes. Markt Schwaben ist, um ehrlich zu sein, ein klassischer Durchfahr-Ort. Allerdings möchte ich an dieser Stelle betonen, dass es sicherlich der visuell einladendste Ort zum Durchfahren ist. In der Nähe des Hochhauses, in dem ich großgeworden bin, haben die Bauern ihre Zuckerrüben-Felder gehabt, und als wir Kinder waren, gab es regelmäßig Zuckerrüben für uns, wenn gerade Ernte war. Es ist nicht so, dass Markt Schwaben in irgendeiner Weise »verschlafen« ist; es ist einfach eine dieser typischen kleinen bayerischen Märkte. Ein Ort, der auf eine lange Historie zurückblickt und dessen Innenstadt sich schön herrichtet. Das Leben hier ist angenehm und ruhig, der nahe liegende Münchener Flughafen ist ein stabiler Arbeitgeber, ansonsten sind viele Arbeitnehmer im östlich angrenzenden Gewerbegebiet beschäftigt – oder eben in München. Die Ortschaft ist klein und beschaulich, aber man kennt und schätzt sich, und ich freue mich immer wieder, wenn ich merke, dass sich Institutionen wie der Metzger Gantner, den ich seit Kindertagen kenne, immer noch halten. Durch Markt Schwaben fließt der Henningbach, der in den vergangenen Jahren groß renaturiert wurde. An der Wittelsbacher Höhe, dem, wenn man so will, einzigen und damit auch größten Berg von ganz Markt Schwaben, hat man einen fast malerischen Ausblick über den ganzen Ort. Am Kreppmeier Berg rodeln im Winter die Dorfkinder und lernen Ski fahren. Das Dorfwappen ist ein golden bewehrter silberner Falke auf schwarzem Grund, nach dessen Motiv benannte sich unser lokaler Fußballverein: der FC Falke. Und auch ich habe mir das Wappen selbstverständlich auf den Arm tätowiert.
Ich wuchs hier bei meiner alleinerziehenden Mutter auf. In einer Vierzimmerwohnung im Dr.-Hartlaub-Ring, eine von zwei Hochhaus-Siedlungen, die in den 1960er-Jahren als Folge eines Baubooms im Münchener Einzugsgebiet entstanden. Auf Postkarten aus dieser Zeit werden der Ort und die Siedlungen als »Wohngebiet im Münchener Osten« betitelt, was schon ganz lustig ist, weil es immerhin doch einigermaßen außerhalb von München liegt. Neben dem Dr.-Hartlaub-Ring gibt es noch die Von-Kobell-Straße, diese Siedlung liegt allerdings auf der anderen Seite der Bahnstation. Denke ich an meine Kindheit zurück, erinnere ich mich vor allem an den Geruch von nassem Asphalt auf den Straßen unserer Siedlung im Sommer, wenn wir im Siedlungsblock saßen und darauf warteten, dass der Regen nachließ, um wieder herauszurennen. Meine Mutter arbeitete als Lehrerin in Altenerding, einer Ortschaft etwa 14 Kilometer nördlich von Markt Schwaben. Mein Vater stammt aus dem Kongo und kam 1968 über ein Stipendium nach Deutschland und studierte hier VWL. Später arbeitete er unter anderem für BMW, wurde später mittlere Führungskraft im Inhouse Consulting und promovierte in Wirtschaft. Meine Mum lernte er über eine gemeinsame Freundin kennen, während beide im Studium waren. Sie verliebten sich und zogen in eine gemeinsame Wohnung nach Markt Schwaben.
Zu dieser Zeit war es mehr als ungewöhnlich, einen Afrikaner als Partner zu haben, und ich glaube, meine Eltern und vor allem mein Vater mussten sich damals bereits mehr als nur seltsame Blicke von argwöhnischen Nachbarn gefallen lassen. Doch das änderte sich 1976 mit dem Eintritt meines Vaters in den lokalen Fußballverein. Kein Witz. Mein Vater war ein ziemlich guter Fußballspieler, so gut, dass der Aufstieg in die Kreisliga zu großem Teil sein Verdienst war. Durch seine Schnelligkeit und seine präzise Technik kickte er den Verein fast im Alleingang hoch, und aus »Paul, dem Afrikaner, der im Verein spielte« wurde »die schwarze Perle«. Bis heute erinnern sich noch alt eingesessene Markt Schwabener Fußballfans daran, wie es zum Aufstieg kam: »Mei, der Pauli, die schwarze Perle, des war scho was.« Ich fand das später schon ziemlich krass, dass es für die Markt Schwabener einfach normal war, meinen Vater in aller Öffentlichkeit »schwarze Perle« zu nennen, als wäre seine Hautfarbe das einzige Merkmal, das irgendwie ausschlaggebend war.
1980 heirateten meine Eltern dann, und ein Jahr später kam ich auf die Welt. Drei Jahre nach meiner Geburt trennten sie sich allerdings, und ich zog mit meiner Mutter allein in die Wohnung, die wir eigentlich zu dritt beziehen wollten. Ich habe noch drei Halb-Geschwister, meine Schwester, die 1989 und meine Brüder, die 1990 und 1996 geboren sind. Der Kontakt zu meinem Vater war nie sehr einfach für mich, und es dauerte viele Jahre, bis wir uns trafen und offen miteinander sprachen. Die Scheidung meiner Eltern setzte mir, obwohl ich noch ein kleines Kind war, ziemlich zu, auch wenn ich damals natürlich den langwierigen und nervenaufreibenden Prozess der Trennung nicht verstehen konnte. Trotz allem habe ich frühe Kindheitserinnerungen daran, wie ich in meinem Gitterbett liege und mit anhöre, wie meine Eltern im Flur unserer Wohnung auf Französisch streiten. Bis heute assoziiere ich diese eigentlich so schöne und liebevolle Sprache mit der Trennung meiner Eltern und dem anschließenden Verlust meines Vaters. Es ist schon seltsam, wie viel kleine Kinder, die sich noch nicht gut ausdrücken können, von ihrer Umwelt mitbekommen. Ohne Vater aufzuwachsen ist sicherlich für kein Kind auf der Welt leicht, sondern immer eine Herausforderung. Nun war ich auch noch ein Mischlingskind, das einzige dunkelhäutige in ganz Markt Schwaben. Das mag jetzt vielleicht so klingen, als wäre es direkt eine Bürde, die mir mitgegeben wurde – war es natürlich erst mal nicht, aber über die Jahre wurde es zu einer.
Ich glaube, mein Leben wäre anders verlaufen, wenn ich eine schwarze Vaterfigur um mich herumgehabt hätte, die mich etwas angeleitet hätte, mit dieser seltsamen Situation, der einzige, der »anders« aussieht, umzugehen. Später habe ich mich oft gefragt, wie mein Vater es geschafft hatte, Ende der 80er-Jahre allein in eine bayerische Provinz zu ziehen. Später erzählte er mir von rassistischen Anfeindungen, beispielsweise auf dem Fußballplatz. Während Kreisligaspielen war er auch schon mal »Neger« genannt worden – bei Sonntagsnachmittagsspielen um 16 Uhr bei Weißwurst und Bier. Mein Vater hatte die Antwort auf solche rassistischen Sprüche immer auf dem Platz gegeben und während der Partie so viele Tore, wie er nur konnte, versenkt. Ähnlich hatte er es auch in seiner beruflichen Karriere gehandhabt. Wann immer er mitbekommen hatte, dass er aufgrund seiner Hautfarbe benachteiligt wurde, hatte er härter gearbeitet als alle anderen. Später war er in München Ausländerbeirat geworden.
Dazu muss ich erzählen, dass mein Vater einem großen Fischerstamm, den Yakoma aus dem Kongo, angehört und mir, nachdem wir uns wiedergetroffen hatten, erzählte, dass er schon mit zehn Jahren vier Meter hatte tauchen und nachts bei völliger Dunkelheit ausgelegte Netze von heruntergefallenen Baumstämmen hatte befreien müssen. Ich glaube, er hatte diese Kämpfer-Attitüde mit nach Deutschland genommen und selten Schwäche gezeigt. Außerdem hatte er das Privileg genossen, aus einer angesehenen Familie zu stammen. Für ihn war Rassismus wie Teflon gewesen, er hatte sich daran nicht verbrannt. Er hatte den Hass absorbiert, der ihm zuweilen entgegengekommen war, und ihn in etwas Produktives umgewandelt. Ich glaube schon, dass ihn die rassistischen Anfeindungen sehr gestört haben, aber er hatte sich nie etwas anmerken lassen. Es war einfach an ihm abgeperlt, und er hatte sich nicht weiter damit beschäftigt.
In meinen ersten Kinderjahren war ich gezeichnet von der Trennung meiner Eltern. Ich möchte das an dieser Stelle nicht überdramatisieren. Für meine Mutter standen, nachdem mein Vater uns verlassen hatte, vor allem ich und meine Zukunft im Vordergrund. Trotzdem kam ich ziemlich früh in eine Trotzphase und wurde ein ungestümes Kind. Ich erinnere mich noch daran, wie ich mir recht schnell den Ruf eines kleinen Wirbelwinds erarbeitete und am nahe gelegenen Spielplatz schon in diesen sehr jungen Jahren Angst und Schrecken verbreitete. »Der David kommt, der David kommt«, war so ein Rufwort, das ich kannte, wenn ich am Klettergerüst hinter unserer Siedlung auftauchte, und ich konnte mit meinem frühen Image eigentlich ganz gut leben.
DER ERSTE TAG IM KINDERGARTEN
Dieser Tag sollte ein besonderer für mich werden. Ich erinnere mich noch erschreckend genau an die Szenerie. Der Kindergarten war ein wunderschönes »altes« Schulhaus. Auf dem Dach nisteten Störche, die wir kleinen Kinder bewundernd und mit offenen Mündern anstarrten. An meinem ersten Tag im Kindergarten versammelten sich die ungefähr 20 Kinder im Gruppenraum. Ich glaube, wir waren die »Igel-Gruppe«, auf der Holztür prangte ein kleiner Comic-Igel, der breit lächelte und an dem wir erkannten, dass wir hier richtig waren. In der Mitte waren kleine bunte Holzstühle in einem Kreis aufgestellt, und wir Kinder lungerten etwas planlos im Raum herum. Eine unserer beiden Erzieherinnen, die uns immer im Wechsel bespaßten, klatschte in die Hände und verlangte nach unserer Aufmerksamkeit. Ehrfürchtig sahen wir an ihr hoch. Sie bat uns darum, sich einen Platz zu suchen, und wie das bei Kindern nun mal so ist, war diese Aufforderung der Startschuss für ein heilloses Durcheinander. Unter lautem Getöse und Geplärre liefen alle Kinder aufgeregt durch den Raum, schmissen sich auf die freien Stühle und hielten Plätze frei, indem sie ihre Hände und ihren halben Oberkörper auf einen freien Stuhl neben sich warfen. Ich stand etwas verdattert herum, an den Wänden hingen ausgemalte bunte Mandalas, und die Window-Color-Bilder an den Fenstern warfen viele kleine Igel-Silhouetten auf den Boden, die ich interessiert beobachtete. Der Tumult um mich herum weckte mich aus meinen Tagträumen. Viele freie Plätze gab es nicht mehr. Nur vorn neben einem kleinen Jungen mit Pilzkopfhaarschnitt und Latzhose. Also eilte ich durch den Raum zu ihm. Der Junge sah wirklich nett aus. In dem Moment sah er mich an, legte seine Hände auf den Stuhl, auf den ich mich setzen wollte, und sagte dann den Satz, den ich, einmal gehört, nie vergessen habe. Den Satz, der mir schon zu Anfang meines Lebens gezeigt hat, dass ich anders bin und vielleicht nicht nur keinen Platz im Kindergarten habe, sondern vielleicht auch keinen Platz in der Mitte der Gesellschaft. Er sah mich an und sagte: »Ein Neger darf nicht neben mir sitzen.«
Ich war verwirrt und baff und blickte mich irritiert um. Ich fand, der Junge hatte recht. Neben mir sollte ein Neger auch nicht sitzen, was auch immer das war. Ich sah mich also um und suchte nach einem »Neger« im Raum, fand aber keinen. Ich wusste ja auch nicht, wonach ich hätte Ausschau halten sollen. Der Junge starrte mich bösartig an und sagte dann: »Du, du bist ein Neger.« Dieser kleine unschuldige Junge wollte einfach nicht, dass ich neben ihm sitze. Aber warum nicht? Ich verstand es nicht. Ich checkte einfach nicht, was los war. Irgendwie war er gegen mich.
Die Betreuerin hatte mitbekommen, wie ich verdattert vor diesem Stuhl stand, kam auf mich zu, tätschelte mir nett den Kopf und bat mich, zu einem freien Sitzplatz irgendwo nach hinten zu gehen, was ich dann natürlich tat. Ich warf mir meinen kleinen Bärchenrucksack über die Schulter und trottete quer durch den Raum, während alle anderen mich ansahen.
Das war der erste Moment in meinem Leben, an dem ich merkte, dass ich aus irgendeinem Grund, den ich noch nicht kannte, anders war. Es war das erste Mal, das ich spürte, dass es in Ordnung war, wenn ich eine Sonderbehandlung erhielt. Ich hatte keine Möglichkeit herauszufinden, ob der Pilzkopfjunge nett war oder nicht (war er übrigens nicht, wie sich im späteren Verlauf meines Lebens herausstellen sollte), aber diese Ausgrenzung, die ich damals erfuhr und weder verstand noch richtig zuordnen konnte, ließ mich fragend in einem Stuhl neben irgendeinem blöden Mädchen Platz nehmen. Ich schaute aus dem Fenster, sah die tänzelnden Herbstblätter im Wind und spürte, dass ich irgendwie anders, irgendwie falsch war.
VON BAGGERN, DIE MIR NICHT GEHÖREN DÜRFEN
Von außen betrachtet war der Kindergarten natürlich eine super Zeit. Wir malten viel mit Filzstiften, und ich gab mir damals schon jede Menge Mühe, extra schöne Bilder hinzukriegen. Links neben dem Eingang des Kindergartens führte ein Weg um das Gebäude herum zu einem Holzschuppen, in dem sich die Spielsachen befanden, die wir in der Zeit draußen benutzen durften. Dieser Holzschuppen war so etwas wie unsere kleine Goldgrube. Von Bällen bis hin zu einfachem Holzspielzeug und Frisbee-Scheiben befand sich hier alles, was unsere Kinderherzen höher schlagen ließ. Absolutes Highlight des Schuppens waren kleine grüne Bagger mit gelben Schaufeln, auf die man sich draufsetzen und mit denen man den Sand im anliegenden Sandkasten umgraben konnte. Die Schaufel musste händisch bedient werden, doch das machte nichts, die grünen Bagger waren die Kronjuwelen in der Schuppen-Schatzkammer, der Hauptgewinn jeder Spielzeit. Während wir im Kindergarten in unserem Gruppenraum Mandalas ausmalten, Sonnenuhren bastelten und uns mit Flüssigkleber die Hände aneinanderklebten, dachten wir bereits die ganze Zeit an die Bagger im Schuppen und sprachen auch über nicht viel anderes. Die Bagger-Hierarchie, denn es gab nur vier für über 30 Kinder, war nach einem einfachen Prinzip geregelt: Die Kinder, die am schnellsten zum Schuppen rannten, bekamen die Bagger. Ziemlich fair. Ich hatte meine teilweise etwas verträumte Art nicht so ganz ablegen können und war nie der Schnellste. Also wirklich nie. Mehrere Pausen stand ich mit offenem Mund vor einem Kind, das auf einem Bagger saß, und beobachtete die Schaufelbewegungen des Kindes, das den Sand von einem Kasten in den nächsten Kasten beförderte und riesige monumentale Sandbauwerke errichtete. Das wollte ich auch.
Eines schönen Sommertages ließ ich die Mandalas Mandalas sein und wartete auf den Gong, der anzeigte, dass das große Rennen um die Bagger beginnen würde. Wie ein kleiner Psychopath rührte ich die Mandalas nicht an, sondern horchte nur auf den Gong. Als dieser nach gefühlten Ewigkeiten ertönte, lief ich wie ein Verrückter aus dem Raum, stieß versehentlich noch einen Jungen um, der Wind fuhr durch meine dunklen Locken und – ich konnte mein Glück kaum fassen – ich war der zweite am großen Holzschuppen. Der Junge vor mir riss die hölzerne Tür mit ganzer Kraft auf, die Scharniere quietschten, und ich griff blind nach einem dieser Bagger. Hinter mir kamen langsam die anderen Kinder herangerannt, strahlend ging ich mit meinem Bagger unter dem Arm an ihnen vorbei und begann eifrig damit, Sand von einem Kasten in den anderen zu befördern. Ich war selig.
Doch mein Glück endete abrupt. Und es mag banal erscheinen, doch auch diesen Moment habe ich bis heute nicht vergessen. Ich setzte mich also auf diesen Bagger und fing an, die Schaufel zu bedienen – mittlerweile waren auch die anderen Kinder, die ich heute einmal besiegt hatte, angekommen, und auch die Erzieherin trappelte müde nach –, da passierte es. Ein kleiner Bub stellte sich neben die Erzieherin und zog an ihrem Rockzipfel. Sie beugte sich hinunter, er zeigte auf mich und sagte in ernstem Tonfall: »Der David, der David, der hat mir meinen Bagger weggenommen.« Daraufhin kam die Erzieherin im Eilschritt auf mich zu, schüttelte ihren Kopf, ihre Brille verrutschte etwas, und sie sagte: »So, David, runter von dem Bagger.« Und das war’s dann auch. Einfach so. Ich stieg völlig perplex vom Bagger ab und konnte mein Unglück nicht fassen. Ich kannte die Spielregeln im Bagger-Game und hatte sie befolgt: Der Erste kriegt einen Bagger. Obwohl ich fair gespielt und mir meinen Baggerplatz innerhalb der Spielregeln erarbeitet hatte (und dafür sogar auf die Mandalas verzichtet hatte), musste ich absteigen, nur weil ein anderes Kind behauptet hatte, ich würde auf seinem Bagger sitzen. Ich glaube, das andere Kind war auch ziemlich überrascht davon, dass das so einfach ging. Da stand ich nun ohne Bagger im Sandkasten, sah zu, wie irgend so ein Sebastian oder Korbinian auf meinem Bagger herumspielte und die mechanischen Geräusche des Baggers mit seiner Backe laut nachvertonte und sich von den anderen Kindern für seine Schaufelkünste bewundern ließ. Alles, was ich verstand, war, dass ich immer noch ein Sonderfall zu sein schien und es für die Erzieherin einfach war, jedem weißen Kind bedingungslos zu glauben, wenn ich in der Opposition war – eine Erkenntnis, die bis heute nachhallt.
Um dies gleich im ersten Kapitel zu sagen: Ich wurde selten offen rassistisch angegangen. Und dieses Buch soll auch nicht die Geschichte eines farbigen Menschen erzählen, der aufgrund seiner Hautfarbe in der Vergangenheit diskriminiert wurde und sich jetzt offenbart. Es ist nicht so, dass ich mit brennenden Fackeln durch Markt Schwaben gejagt wurde (auch wenn spätere Begegnungen so ähnlich verliefen) und ich in meiner späteren Arbeit als Musiker, Moderator und Pädagoge immer benachteiligt wurde. Trotzdem glaube ich auch, dass Rassismus nicht erst dann anfängt, wenn Menschen mit dunkler Hautfarbe durch Städte gejagt werden und Asylantenheime brennen. Das ist nur die hässliche, deutlich erkennbare Spitze des Eisbergs, auf den die Öffentlichkeit reagiert. Rassismus setzt viel früher ein. Rassismus ist immer individuell. In meinem Fall war Rassismus zuerst ein Gefühl im Kindergarten. Ein Gefühl des Unwohlseins und des »Anders-behandelt-Werdens«, das ich als kleiner neugieriger Junge nicht zuordnen konnte und nicht verstand, da ich ja wie alle anderen Kinder war. Zumindest dachte ich das. In Wahrheit war ich von meinem ersten Tag im Kindergarten an ein Außenseiter, ob ich wollte oder nicht. »Ein Neger darf nicht neben mir sitzen« wurde zu einem Satz, der während meines bisherigen, aufwühlenden Lebens immer über mir und meinen Handlungen schwebte wie das berüchtigte Damoklesschwert. Obwohl ich mich so vielseitig, wie ich konnte, engagierte und mir bis heute von meinem Umfeld attestiert wird, dass ich mich mit vielen, vielleicht manchmal zu vielen Dingen, befasse, blieb meine Hautfarbe etwas, worauf sich viele beschränkten. Sie sahen nicht mich mit meinen charakterlichen Eigenschaften, mit meinen Talenten oder Neigungen, sie sahen immer zuerst … einen Schwarzen. Und erst dann meine Talente und Interessen. Passte beides nicht zusammen, war ich also derjenige, der im Park ein spannendes Buch las, stimmte das Bild nicht. War ich aber Rapper auf einer Bühne, war das genau der Schwarze, den sich mein Umfeld vorstellte. Meine Schwester sagte einmal, als in den Medien eine Geschichte kursierte, in der ein schwarzes Mädchen sich gegen den Angriff eines weißen Mädchens verteidigte: »What did the one dimensional black girl do to the multidimensional white women?«
Als Schwarzer bist du (vor allem in Bayern) in der Minderheit, und du warst und bist auf diese eine Dimension, deine Hautfarbe, beschränkt. Ich musste im Folgenden also immer mehr leisten, um diese Beschränkung aufzuheben und von der Öffentlichkeit als vollständig wahrgenommen zu werden. Vielleicht ist das auch der Grund, warum ich bis heute von Dingen so besessen bin.
»Rekless tut Dinge« ist mehr als ein Instagram-Spruch. Oftmals verliere ich mich in Projekten oder will etwas Neues starten, vielleicht weil ich das Gefühl habe, immer mehr machen zu müssen und zu zeigen als andere, um möglichst vielfältig wahrgenommen zu werden.
Meine Hautfarbe führte dazu, dass ich schon früh eine Sonderstellung bezog. Ich war der einzige dunkelhäutige Junge in dieser kleinen Ortschaft in Bayern, und insgeheim spürte ich das schon an diesem ersten Tag im Kindergarten, wo es in Ordnung war, dass ein Junge nicht wollte, dass ich neben ihm sitze. Nicht etwa, weil ich unfreundlich oder gemein war, sondern einfach, weil ich für ihn beziehungsweise für seine Eltern, die ihm diesen Gedanken ja mitgegeben haben mussten, ein »Neger« war und damit weniger berechtigt, neben ihm zu sitzen als ein Junge mit weißer Haut.
Ich habe lange überlegt, was für ein Buch ich schreiben möchte. Ich glaube, es ist für dich und mich wenig spannend, auf zweihundert Seiten zu erzählen, wie ich während meines Lebens rassistisch angegangen wurde. Wenn du das Buch ausgelesen hättest, würdest du denken: Aha! Eine nette Story mit wirklich schlimmen Geschichten über das Schwarz-Sein in Deutschland. Und ein paar nette Anekdoten über Hip-Hop in den frühen 90er-Jahren. Und am nächsten Tag im Bus auf dem Weg zur Arbeit setzen sie sich in der U-Bahn dann neben einen Schwarzen und sagen »Ich weiß, was du durchmachst, Bruder«.
Deshalb möchte ich dir nicht nur mein Leben erzählen. Ich möchte aufklären und einordnen. Lass uns gemeinsam Antworten auf die großen Fragen finden: Was ist Rassismus eigentlich, wo kommt er her? Was ist Racial Profiling? Wie sicher ist die Kriminalstatistik? Gibt es überhaupt Rassismus im Alltag? Wie rassistisch sind Stereotypen in den Medien? Und woher kommt eigentlich unsere Angst vor dem Fremden? Und wie können wir ihr begegnen?
Dieses Buch ist keine Biografie, aber auch kein Ratgeber. Es ist ein Angebot.
Let’s talk about it!