Читать книгу Ein N**** darf nicht neben mir sitzen - David Mayonga - Страница 7
ОглавлениеVORWORT DER NEUEN AUFLAGE NACH DEM MORD AN GEORGE FLOYD
Ich liege um sechs Uhr auf meiner Couch und sehe, wie sich der Himmel in diesem morgendlichen Grau immer weiter erhellt. Ich beobachte dieses Schauspiel seit zwei Stunden. Nebenbei.
Ich muss arbeiten. Ich muss schreiben. Ich mache keine Überstunden und werde für diese Arbeit nicht bezahlt. Und doch MUSS ich sie tun.
Das ist meine fünfte Nacht ohne Schlaf. Zum einen, weil ich in den ersten Nächten zu aufgewühlt war von den Ereignissen rund um den Mord an George Floyd. Zum anderen, weil ich in den letzten Nächten arbeiten musste. Ich musste die Nächte durcharbeiten, weil ich meinen Tag dem Kampf gegen Rassismus gewidmet habe. Ich habe tagsüber neben dem Kümmern um meine kleine Familie und den notwendigen Tätigkeiten in unserer frisch bezogenen Wohnung in jeder freien Minute versucht, Menschen in den sozialen Medien zu erreichen. Ich musste mit weißen privilegierten Menschen diskutieren, die mir Rassismus vorwarfen, weil ich sie öffentlich kritisiert hatte. Ich habe versucht, über öffentliche Talks und Interviews für Aufklärung zu sorgen, damit mir und allen anderen Menschen diese zermürbenden und vor allem immer wieder gleichen Diskussionen erspart bleiben. Ich habe alles an Kraft in den letzten Tagen aktiviert, was in mir noch zu finden war. Warum?
Weil ich nicht anders kann. Ich kann es mir nicht aussuchen, kann den Geist nicht abwenden von dem, was momentan passiert. Denn es passiert mir. Der Tod von George Floyd schmerzt mich, als wäre jemand gestorben, den ich kenne. Warum? Ich bin schwarz. Ich bin schwarz und in den 80er- und 90er-Jahren in Bayern aufgewachsen. Ich war in meinem Ort der einzige schwarze Mensch. Ich gehörte nirgendwo richtig dazu. Ich wurde so oft auf meine Hautfarbe reduziert und deshalb diskriminiert, dass ich als Kind unter Tränen zu meiner Mutter gesagt habe: »Ich will nicht mehr so braun sein. Ich will weiß sein wie die anderen. Ich will nicht mehr, dass mich die Menschen ärgern und verletzen.« Bis Rap in mein Leben kam. Durch meine Mutter hatte ich erste Einblicke in die Musik der afroamerikanischen Community. Von den popaffinen Songs wie I Need Love von LL Cool J oder Push It von Salt ’n’ Pepa führte mich meine Audioreise bald zu politischer Rap-Musik. Paris, Public Enemy, Ice Cube, KRS-One. Black Power. Zum ersten Mal hatte meine Hautfarbe eine positiv besetzte Komponente. Ich sah mich selbst in den Bewegungen von The Prodigy, Q-Tip und Lil Fame. Ich hörte meine Worte aus den Mündern von Chuck D, Jay-Z und Method Man. Meine komplette Jugend hindurch bis heute lebe ich diese Kultur, atme ich diese Kultur, brauche ich diese Kultur.
Mein ganzes Leben kämpfe ich hier in Deutschland gegen Rassismus. Mein bloße Existenz ist ein Fight dagegen. Immer an meiner Seite sind meine Brüder und Schwestern aus den USA, die mich stärken mit ihrer Musik, ihren Speeches, ihren Büchern. Und seit meiner Jugend erlebe ich deren Kampf gegen Rassismus und Polizeibrutalität. Für mich ist George Floyd nicht nur irgendein schwarzer Mensch, der von einem rassistischen Polizisten umgebracht wurde, während niemand der Umherstehenden etwas dagegen tun konnte und keiner der anderen Beamten eingeschritten ist. Für mich ist George Floyd einer von den Leuten, die mir geholfen haben, mein Leben hier in Deutschland leben zu können. Da es seine Community ist, die mir zur Seite stand. Der Schmerz, den ich fühle, den fühle ich aber auch, weil ich mich der Situation so verbunden fühle. Die Selbstsicherheit in den Augen des Polizeibeamten, als er auf dem wehrlosen Mann kniet, ist die gleiche, mit der mir der weiße Polizist, als ich zwölf Jahre alt war, die Hände auf ein Metallgeländer legte und mit einer Maglite draufschlug. Hier in Deutschland. In meiner Heimat. Nur ein paar Hundert Meter von meinem Zuhause entfernt. Es ist die Sicherheit des Beamten zu wissen, dass das Gegenüber sich nicht gegen diese Ungerechtigkeiten wehren kann. Es ist die Sicherheit, dass die Passanten sich nicht fragen: Oh, mein Gott, wie kann man einen kleinen Jungen so behandeln? Es ist die Sicherheit, dass sie sich fragen: Was der wohl angestellt hat?
In einem latent rassistischen System wird der eigene internalisierte Rassismus nicht unbedingt durch rassistische Handlungen sichtbar. Er wird durch das Gewährenlassen von Rassismen sichtbar, die man nicht als solche erkennt, weil man sie als »Normalität« erlebt. »Black Lives Matter« ist keine USA-spezifische Bewegung. Es ist eine globale Bewegung. Es ist auch eine Bewegung in Deutschland. Und ich schlafe nicht und arbeite, so, wie es momentan unzählige schwarze Menschen tun, damit es in Zukunft auch eine deutsche Bewegung wird.
In dem Jahr, in dem ich mit meinem Buch unterwegs war, habe ich so viel erfahren. Ich habe das Feedback in den Gesprächen am Büchertisch aufgesogen, ich habe mich mit schwarzen Menschen und POCs deutschlandweit über unsere Erfahrungen ausgetauscht, und ich war so froh zu merken, dass viele schwarze Menschen mit diesem Buch eine Möglichkeit haben zu spüren, dass sie nicht allein sind mit den Erfahrungen und dem Schmerz. Dass wir afrodeutsche, wir schwarze Menschen, wir schwarze POCs weitaus mehr sind als die Summe der rassistischen Diskriminierungen. Wir sind mehr als nur die Klischees, die jahrzehntelang über uns verbreitet wurden, und ich habe das Gefühl, genau jetzt ist die Zeit gekommen, wo immer mehr Menschen das begreifen. Und aus diesem Verständnis wächst auch hierzulande der Wunsch nach Veränderung, nach dem Aufbrechen alter Strukturen und vor allem nach der Auseinandersetzung mit den eigenen rassistischen Strukturen im Denken und Handeln.
Viele Menschen haben mir nach Lesungen gesagt: »Ja, und schau mal, was für ein toller Mensch du geworden bist, trotz all der schlimmen Erfahrungen, die du machen musstest.« Ich habe genau diese Problematik eingebaut in meine Lesung und gesagt: »Ich hatte das Glück, durch meine Mutter ein starkes Supportsystem zu haben. Ohne das wäre ich vielleicht an den Erfahrungen zerbrochen. Ohne dieses Supportsystem hätte ich vielleicht nach dem Prinzip des ›Labeling Approach‹ genau das Klischee erfüllt, das mir immer und immer wieder übergestülpt wurde. Ich wäre wütend und verbittert geworden, vielleicht sogar kriminell. Wir müssen deshalb auf die schwarzen Menschen achtgeben, die kein solches Supportsystem haben.«
Erst durch ein Gespräch mit einer schwarzen Psychologin habe ich das anders zu sehen gelernt. Sie sagte: »Das ist eine brutale Formulierung zu sagen, ›ist doch toll, was aus dir geworden ist … trotz all dem‹!«
Ich habe verdutzt gefragt: »Warum?«
Sie sagte: »Weil so der Einfluss auf deine Entwicklung komplett außen vor gelassen wird. Die Traumata, die du bewältigt hast, der ständige Stress durch rassistische Diskriminierung. Hast du dir denn jemals die Frage gestellt, was du für ein Mensch hättest werden können, wenn das alles nicht passiert wäre?«
»Nein«, antwortete ich, »denn ich war schon froh, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben.«
Das hat mich gelehrt, dass wir hier oft weit unter unserem Potenzial performen. Nicht nur, weil wir wenige Chance bekommen, sondern auch, weil der stetige Kampf gegen rassistische Anfeindungen unfassbar ermüdend ist.
Auch ich muss noch sehr viel aufarbeiten. Ich muss meine Identität neu zusammensetzen. Genau das habe ich durch das eine Gespräch und Hunderte andere Gespräche am Büchertisch mit schwarzen Menschen aus der gesamten Republik gelernt. Ihr werdet in diesem Buch Worte finden, mit denen ich mich beschreibe, die ich heute nicht mehr benutzen würde und die ich in der Neuauflage dieses Buches streichen werde. Es ist mir aber wichtig zu zeigen, wie tief diese rassistische Sozialisation in uns Deutschen sitzt. Ich habe mich als »Mischling« bezeichnet, als »dunkelhäutig«, als »andersfarbig«. Das waren für mich unaufgeladene Begriffe.
Ich habe sie nie hinterfragt.
Dabei ist »Mischling« ein Begriff aus der Rassenlehre. Genau der Lehre, die den Rassismus ins Leben gerufen hat. Auch »farbig«, »andersfarbig« oder »dunkelhäutig« sind unglaublich aufgeladene Begriffe, die ich in meinem Buch noch benutzt habe, weil ich mir selbst noch nicht sicher war, was für mich persönlich die annehmbarste Bezeichnung ist. Ich habe immer wieder gewechselt in den Bezeichnungen und erst spät gemerkt, dass auch mein Wortschatz im Hinblick auf meine Selbstbezeichnung einfach limitiert war. Ich konnte mich nicht mit dem Begriff POC als Selbstbezeichnung anfreunden, weil ich mich als schwarzen Menschen begriff. Als jemand, der »Black Power« als etwas Positives sieht. Aber ich habe gelernt, dass die Bezeichnungen »People of Color«, »Women of Color«, »Black and Indigenous People of Color« wichtige Bezeichnungen sind, die nicht vorbelastet sind. Die eingeführt werden mussten, um einen Diskurs über Rassismus führen zu können, ohne rassistisch aufgeladenes Vokabular zu nutzen.
Des Weiteren hat sich durch die »Black Lives Matter«-Bewegung auch in Deutschland einiges verändert. Der Begriff »Neger«, den ich als tiefe rassistische Beleidigung empfinde, wurde noch im Jahre 2019 als »nicht rassistisch« eingestuft. Das hat mir gezeigt, wie wichtig mein Buchtitel ist. Denn man kann nicht leugnen, dass der Satz »Ein Neger darf nicht neben mir sitzen« eine rassistische Beleidigung ist. Ich wollte zeigen, dass wir solche Sätze von Kindesbeinen an hören, und jedes Mal, wenn das Wort fällt, triggert es eine dieser traumatischen Erfahrungen. Es ist gleich, ob eine Süßspeise damit bezeichnet wird oder uns das Wort wo auch immer außerhalb der Erzählung von schwarzen Menschen über rassistische Beleidigungen begegnet.
In den letzten Wochen habe ich erlebt, dass ein Shift passiert. Weiße Menschen, die sich langsam der Auswirkungen des Rassismus in Deutschland bewusst werden, eines Rassismus, der für viele bis zu diesem Jahr 2020 einfach unsichtbar und somit nicht spürbar oder nachvollziehbar war. Jetzt scheint es, als wären wir einen Schritt weiter. Als müsste ich nicht mehr das Wort ausschreiben, damit Menschen begreifen, dass wir hierzulande ein Problem mit Rassismus gegenüber Schwarzen haben. Deshalb habe ich das Wort auf dem Buchumschlag streichen lassen – von dem wunderbaren schwarzen Grafiker und unglaublichen Künstler, mit dem ich schon seit Jahrzehnten zusammenarbeite, C100. Ich bin froh, dass auch in den Gesprächen mit meinem Verlag und meinem Co-Autor Nils immer wieder die Bereitschaft da war, sich mit den eigenen Limitierungen auseinanderzusetzen. Wir haben das gemeinsam durchgearbeitet. Wir alle haben durch die Arbeit an diesem Buch gemerkt, dass genau mit dieser Arbeit, dieser Auseinandersetzung mit den eigenen Limitierungen, den eigenen blinden Flecken und dem eigenen vermeintlichen Wissen über Rassismus in Deutschland hart ins Gericht gegangen werden muss. So können wir zusammen Seite an Seite für eine zukunftsfähige Gesellschaft einstehen und Rassismus erkennen und bekämpfen. So let’s talk about all this!