Читать книгу Ein N**** darf nicht neben mir sitzen - David Mayonga - Страница 9

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PROLOG – ZU BESUCH BEIM AFD-INFOTREFFENDES KREISVERBANDES MÜNCHEN-SÜD

Es ist ein kalter Dienstagabend Ende November, als ich in meiner Wohnung in Neuperlach stehe und zu meiner Winterjacke greife. Die Kälte ist in den letzten Wochen in die bayerische Landeshauptstadt eingezogen, und ich verweigere mich dem allseits um sich greifenden Frieren.

Ich ziehe die Tür hinter mir zu, laufe die sechs Stockwerke meines Hauses hinunter und mache mich auf den Weg zur nahe gelegenen U-Bahn-Station. Die Blätter der Bäume, die den Pfad säumen, sind bereits komplett gefallen, und das Jahr hat den Herbst schon seit Längerem hinter sich gelassen. Ich steige in die U5 Richtung München Hauptbahnhof. Vom Gewusel am Hauptbahnhof laufe ich einige Hundert Meter zur Hackerbrücke und mache mich von hier auf weiter zu einer Gaststätte in den Münchener Westen. Sicher hätte ich vom Hauptbahnhof auch einfach einige Stationen weiter mit der S-Bahn fahren können, aber manchmal mag ich es einfach, zu Fuß zu gehen und in aller Ruhe nachzudenken. Ich bin von Haus aus ein nachdenklicher Mensch und grübele ständig über die verschiedensten Dinge, die mich beschäftigen. Heute ist aber ein Tag, an dem es nicht die Gewohnheit ist, die mich so viel nachdenken lässt.

Es ist dem Ort geschuldet, den ich im Begriff bin, aufzusuchen. Tausende Gedanken schwirren mir durch den Kopf, mein Atem gefriert in der dunklen Nacht, und ich bin froh, dass ich mir geistesgegenwärtig noch meine Goodbois-Mütze mitgenommen habe. Deren Slogan ist »Stand for something«, und genau darum wird es heute für mich gehen. Von der Hackerbrücke aus biege ich in eine spärlich beleuchtete Seitenstraße ein. Scheinwerferlichter von vorbeifahrenden Autos leuchten mir den Weg.

Nach wenigen Minuten habe ich mein Ziel erreicht und stehe inmitten einer kaum befahrenen Kreuzung vor einem großen beigen Gebäude. Durch die weißen Gardinen sehe ich bereits einige ältere Männer, die an massiven Holztischen sitzen und halb leere Weißbiergläser vor sich stehen haben. Bis hierhin wirkt die Szenerie altbekannt, »Boazn-Atmosphäre« halt. Der Name der Wirtschaft steht in Frakturschrift über dem Gebäude, daneben hängt ein Paulaner-Schild. Tegernseer wär mir lieber. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr: 19:45 Uhr. 15 Minuten noch, bis es losgeht. Ich bin nicht aufgeregt, sondern stelle mir eher vor, jetzt gleich eine teilnehmende Beobachtung durchzuführen, wie damals im Pädagogikstudium. Ist es komisch, dass ich keine Aufregung oder Angst verspüre? Sollte ich nicht eigentlich sogar Angst haben?

Ich denke zurück an vergangenen Freitag und an das Turnier, auf dem ich gekämpft habe, die »Bavarian Open« im Brazilian Jiu-Jiutsu. Meine Leidenschaft. Ich bin ein Blaugurt, und in meiner Gewichtsklasse, den »Ultra Heavyweights +94 Kilogramm« gab es nur einen einzigen anderen Teilnehmer. Jemanden mit einem Braungurt, der also zwei Gürtelklassen über mir war. Für mich ein sogenannter »Superfight«. Ich gewann den Kampf nach Punkten, obwohl ich eigentlich unterlegen hätte sein sollen. Was soll mir also hier noch passieren?

Ich stehe vor dem Gasthof und bin gerade wahrscheinlich am falschesten Ort zum falschesten Zeitpunkt in ganz München, aber ich habe keine Angst. Ich möchte den Menschen, die sich hier alle zwei Wochen in einem Hinterzimmer treffen, mit Ruhe begegnen. Ich will zuhören. Ich will wissen, was in meinem München und in meinem Bayern vor sich geht, worüber bei diesen obskuren, halb öffentlichen Treffen geredet wird und wie die Menschen vor ihren halb leeren Weizengläsern auf mich, den »Schwarzen«, reagieren werden. Ich denke kurz an meine Mutter, von der ich so viel gelernt habe und die mich vor allem zum Frieden und zum gesellschaftlichen Miteinander erzogen hat. Sie würde nicht wollen, dass ich jetzt umdrehe. Jetzt, wo ich schon einmal hier bin. Und ich will das auch nicht. Ein einzelnes Auto fährt die sonst unbefahrene Straße entlang, ansonsten ist es ganz still. Ich genieße die Ruhe des Moments. Dann betrete ich die Gaststätte.

Der Vorderraum der Wirtschaft ist menschenleer und sieht relativ uneinladend aus. Einige rustikale dunkle Holztische stehen im Raum verteilt – mit dazu passenden, hölzernen Stühlen. An der Ecke blinken zwei Spielautomaten und trüben das sonst so klare Bild einer 80er-Jahre-Boazn. Einige Krüge mit dem Logo des TSV 1860, dem Verein der Münchener Löwen, stehen ordentlich platziert hinter mehreren Glasvitrinen, ein unscheinbares, kleines eingerahmtes Gemälde von Ludwig II. hängt schief an der Wand, und ein Deutschland-Sombrero liegt auf einer Ablage. Der Geruch von Malz und Holz liegt in der Luft, und aus dem vom Vorraum aus einsehbaren Hinterzimmer höre ich ein Stimmengewirr der Männer, die ich von draußen bereits gesehen habe. Dass ich mit Überschreiten der Türschwelle vor wenigen Sekunden eine Parallelwelt betreten habe, wird mir erst später klar. Ich blicke noch mal durch den leeren Gastraum. Alles wirkt unwirklich wie ein Filmset, als wolle man die Fassade einer urbayerischen Gaststätte aufrechterhalten. Alles hier wirkt gekünstelt und unecht, als hätte man das Bild des Originals hier hineingetragen und akkurat danach ausgebaut. Mich stören vor allem die vielen 1860er-Maßkrüge und Wimpel. Es wirkt, als hätten sie hier den Traditionsverein nur deshalb so überrepräsentiert, damit klar wird: Wir sind die Bewahrer der echten bayerischen Lebensart. Aber ich fühle, dass sie sich »unseren Verein« genommen haben, »unsere Tradition«, um Leute wie mich auszuschließen. Ich habe ein paar Jahre beim TSV 1860 Boxen trainiert. Daher kommt auch mein Bezug zum Verein. Einmal Löwe immer Löwe, sagt man dort. Aber zu diesen Löwen, die hier zu verkehren scheinen, fühle ich mich ganz und gar nicht zugehörig.

»Ah, Herr Mayonga.« Der Mann vor mir trägt ein weißes Hemd und darüber einen blauen Pullover. Lächelnd reicht er mir die Hand.

»Servus«, antworte ich fast schon übertrieben freundlich. Ich schätze ihn auf Mitte fünfzig, und er ist ganz offensichtlich der Leiter des heutigen AfD-Infoabends vom Kreisverband München-Süd, für den ich mich vor einigen Tagen per E-Mail angemeldet habe. Diese Treffen finden immer im zweiwöchentlichen Turnus statt, Adresse und Zeitpunkt werden vorab per E-Mail mitgeteilt, sind also nicht öffentlich einsehbar. Neben meinem vollen Namen musste ich auch meine Telefonnummer angeben. Um mich herum sitzen bereits ungefähr 20 Personen, größtenteils Männer ab 50. Nicht unbedingt eine sehr jugendliche Veranstaltung. Vereinzelt sehe ich auch Frauen und einige jüngere Männer, die aus der Münchener Kälte nach und nach in die Gaststätte drängen. Ich spüre die Blicke der Umhersitzenden, die an mir hängen, als hätte ich ein Fadenkreuz auf dem Körper, aber das kenne ich ja schon, seit ich ein Kind bin.

»Ach, setzen Sie sich doch hier hin«, sagt der Mann im blauen Pullover und bietet mir mit einer einladenden Handbewegung den Stuhl direkt vor ihm an. Hier stehen sein Laptop und der Beamer, der die Worte »Herzlich willkommen beim Info-Abend des Kreisverbandes München-Süd« auf eine Leinwand projiziert. Ein AfD-Wimpel mit der Aufschrift »Wir lieben Deutschland« steht in der Mitte unseres Tisches. Mir schräg gegenüber sitzen drei Frauen mittleren Alters, die mich etwas irritiert und abschätzig anstarren.

Ruhig bleiben, denke ich mir. Ruhig bleiben. Du hast einen Braungurt besiegt, keiner der Braunen hier kann es mit dir aufnehmen, spreche ich mir mantramäßig zu. Ich fahre meinen Puls hinunter. Eine der Frauen spricht mich an, kurz nachdem ich mich gesetzt und der Runde zugenickt habe.

»Sag amal, bist du sicher, dass du hier bei der richtigen Veranstaltung bist?«

Die Umhersitzenden lachen ein dumpfes, ausschließendes Lachen. Der Mann im blauen Pullover bittet um Ruhe und versucht, mich vorzustellen: »Das ist der Herr Mayonga, der ist Rapper.«

»Ah, wie heißt er denn?«, fragt die Frau, die sich wundert, dass ich hier bin, geheuchelt-interessiert nach.

»Rekless heißt er«, kommt vom Blaupullover, als säße ich nicht mit am Tisch.

»Roger Rekless«, ergänze ich und kann sehen, wie die Frau ganz offensichtlich ihr Handy hervorholt und nach meinem Namen im Internet sucht. Etwas, was der Sitzungsleiter ziemlich sicher vorher auch schon getan hat, denn seine Anschlussfragen implizieren, dass er mich kennt.

»Und also, Sie machen ja … Dinge, oder?«, fragt er nach, und ich muss grinsen.

Ja. Genau das ist mein Motto. Roger Rekless tut Dinge. Er muss meinen Instagram-Account entdeckt haben. »Ja, so alles Mögliche. Eigentlich mache ich alles, was mit Wort zu tun hat, Musik, Moderation, Rap, Diverses«, steige ich auf seine Frage ein.

»Ach, das ist ja interessant. Und beim Bayerischen Rundfunk sind Sie ja auch, oder?«

Ich verstehe, worauf er hinauswill und antworte ganz offen und ehrlich: »Ja genau. Ich habe da eine Sendung. Aber ich bin jetzt nicht für den BR hier. Wissen Sie, ich wollte mir das Ganze einfach mal anschauen.« Der Raum füllt sich, Stühle werden hin- und hergeschoben, und aus dem Vorderraum drängen immer mehr Interessierte ins Hinterzimmer. »Ich glaube, es ist eine ganz gute Idee, einfach mal miteinander zu reden, und da das hier ja ein Infoabend ist, dachte ich, komme ich als gebürtiger Münchener und Lokalpatriot einfach mal vorbei.«

Mein Gegenüber wirkt mit der Information etwas überfordert. »Recht hamse«, nuschelt er.

Ich erzähle von meinem Besuch beim politischen Gillamoos in Abensberg einige Monate zuvor. Im Rahmen einer Reportage für die Sendung von Hannes Ringlstetter war ich mit einem Kamerateam vom BR unterwegs und habe die Reden der Parteivorsitzenden angehört und kommentiert. Auch die der AfD. Abgesehen davon, dass Jörg Meuthen ziemlich schlechte politische Comedy abgeliefert hat, stach mir vor allem das Publikum ins Auge. Auf den Bierbänken saßen Bürger, die nach keiner besonderen politischen Agenda aussahen, neben Menschen mit Thor-Steinar-T-Shirts, die man eindeutig dem rechten Spektrum zuordnen konnte. Hinter den Bierbänken standen Vertreter der Identitären Bewegung, die das Publikum und uns Journalisten beobachteten. Wir wurden eingekreist. Einer machte heimlich Fotos von den Aufzeichnungen des Redakteurs, andere filmten uns auffällig, und sie kamen uns unangenehm nah. Damals hatte ich mit unserem Tonmann, einem ehemaligen russischen Boxer, ausgemacht, dass wir Rücken an Rücken kämpfen würden, falls uns jemand ans Leder wollen sollte. Deshalb war ich auch in dieser Situation nicht so angespannt, wie es die uns Einkreisenden gern gehabt hätten.

Ob der AfD eigentlich bewusst sei, wie nah die Identitäre Bewegung und ein rechtsextremes Spektrum ihnen ist, möchte ich von meinem Gegenüber wissen? Der Infoleiter weicht aus: »Ja, so Leute gibt es halt immer, das ist ja schwierig. Also wir sind hier ja keine Nazis, sonst wäre ich ja nicht hier, weil ich bin ja kein Nazi. Also hier sind ja keine Nazis jetzt, aber ich kann natürlich auch nicht für jeden im Raum sprechen.«

What? Checkst du eigentlich, was du da gerade gesagt hast, Oida? Denk ich mir. Aber der Leiter hatte sich selbst wohl nicht zugehört.

»LEBERKAAS!« Die gellende Stimme der untersetzten Wirtin, die sich von hinten an mir vorbeigeschoben hat, lässt mich zusammenzucken, während sie Gerichte verteilt und neue Bestellungen entgegennimmt. Der Hinterraum füllt sich immer mehr, die Veranstaltung hat noch nicht angefangen, und schon jetzt gibt es hier keine freien Plätze mehr.

»Machen wir den Vorderraum mit auf«, ruft der Mann im blauen Pullover quer über den Tisch dem Ehemann der Wirtin zu, der murrend die Tür öffnet. Es sind jetzt schon mehr als 30 Leute da. Bis zum Ende des Abends werden es weit über 50 sein.

»Was mogstn drinnga?« Die Wirtin ist ihren Leberkäse losgeworden und beugt sich mit ihren krausen Haaren zu mir herüber. Ich bestelle ein alkoholfreies Weißbier. »Und du?« Sie wendet sich an einem Gast am Nebentisch.

»I hätt gern an Russn!«

»Russn derf ma nimmer mehr sonng«, plärrt die Wirtin los. Dann fügt sie hinzu. »Neger derf ma ah nimmer sonng, nix derf ma mehr sonng.« Sie sagt das nicht zum Gast, sondern eher in den nahezu vollen Raum hinein und schaut mich dabei gackernd an.

Der Leiter macht eine abweisende Handbewegung und lacht hell auf: »Mei, die Sissi.«

Alles nur Spaß. Na klar, was sonst. Ich erinnere mich kurz an meine Jugend zurück. Ich bin 15 Jahre alt und will mir über den Sommer in Markt Schwaben Geld verdienen, um mir einen Plattenspieler zu kaufen. Der Sommer 1996 ist heiß und schwül, und mein Kumpel Bowdee und ich arbeiten den kompletten August im Bauhof unseres Ortes. Wir machen gerade Brotzeit und sitzen mit vier anderen Arbeitern an einem runden Tisch in einer Ecke des Café Seidl. Die anderen tragen orange Latzhosen, wir haben keine richtigen Arbeitsklamotten, sind ja auch schließlich nur für ein paar Wochen hier. Die Arbeiter unterhalten sich. Das Wort »Neger« fällt. Relativ zusammenhangslos. »Der ist ah a so a Neger«, ist der ungefähre Wortlaut. Ich verschlucke mich etwas an meiner Weißwurst, und mein Magen zieht sich zusammen. Mein Kumpel Bowdee, der neben mir sitzt, gibt einen Laut von sich. Ein dumpfes »He«. Die anderen schauen kurz ihn an und dann mich, den schwarzen Jungen, der ihnen gegenübersitzt. »Ja, net du …«, sagt einer von ihnen in meine Richtung, dann reden sie weiter. Ich bin Bowdee dankbar. Er hat nicht mal wirklich etwas gesagt, sondern den anderen nur durch ein Geräusch zu verstehen gegeben, dass dieses Wort nichts an diesem Tisch verloren hat.

Und jetzt, 22 Jahre später, sitze ich in dieser Wirtschaft, und jemand wie Bowdee ist nicht hier. Ich bin ein erwachsener Mann, aber habe hier keine Lobby. Niemanden, der Dinge geraderückt oder korrigiert. Niemanden, der etwas sagt, sich äußert oder wenigstens ein Geräusch macht. Niemanden, der die Wirtin aus ihrem Film herausholt und ihr irgendwie zu verstehen gibt, dass ich durch den inflationären Gebrauch dieses Wortes verletzt werde. Ich bin erst seit vier Minuten hier, und schon ist das Wort gefallen, das mich mein ganzes Leben lang begleitet hat. Dieses Wort, das mich verletzt, das so viele Menschen verletzt und das man aus vielen Gründen nicht mehr sagen sollte. Vor allem weil ich in erster Linie ein Mensch bin. Ein Mensch mit Gefühlen und Eigenschaften, mit Witz und Charisma, mit Emotionen, mit Freunden und einer wunderbaren Frau. Ein Mensch, der in Bayern geboren ist und hier seine kulturelle Identität gefunden hat. Ein Mensch, der mit Renate Maier gstanzelt hat, der im Radio live Facebook-Kommentare freestylt, der in der offenen Jugendarbeit beim Kreisjugendring München gearbeitet hat, Pädagoge ist und seit er 16 ist auf Bühnen steht. Ein Mensch mit Fehlern, Hoffnungen, Träumen und Wünschen. Ein Mensch wie du, der dieses Buch in seinen Händen hält. Aber all das, was mich zum Menschen macht, all das wird ausradiert von dem Wort Neger.

Ich schaue mich weiter um. Meine Anfangstendenz bestätigt sich: Es sind fast nur Männer anwesend und wenige Frauen, alle um die 40 aufwärts. Alle weiß. Niemand hier ist dunkelhäutig. Einige haben rote Biertrinker-Nasen und sehen etwas verbrauchter aus, wieder andere tragen weiße Hemden und haben Gel in den Haaren. Es scheint so, als sei hier jede Bevölkerungsschicht vertreten. Ein Mann wischt die Schweißperlen auf seiner Stirn an seinem roten Over-size-Shirt ab und hustet auf den Holztisch. Ich werfe einen Blick auf die handschriftlich verfasste Speisekarte. Drei der fünf aufgelisteten Gerichte kosten 8,80 Euro. 8,8. Heil Hitler! Ein Neonazi-Code. Das ist kein Zufall.

Mein alkoholfreies Weißbier kommt. »Neger!«, gellt es neben meinem Ohr.

»Na, an Russ hab i bstellt«, sagt der Gast, der zuvor bei der Wirtin, die »Nix derf ma mehr sonng«-Leier angetriggert hatte.

»Koan Neger? Mei jetzad hamma so vui vom Neger gredt, dass i ganz … Ja, was moch ma jetzt?«

Verwirrt steht die Wirtin mit ihrem Cola-Weizen, das sie »Neger« nennt, in der vollen Wirtschaft. Dann dreht sie sich zu mir, ihre Augen funkeln. »Na, da stell i den Neger amoi do her.« Sie nimmt einen großen Schluck von dem »Neger« und stellt das Getränk neben mein alkoholfreies Weißbier. Sie geht.

Der Neger am Tisch bleibt. Und ich auch. Es ist kurz nach sieben, und mir ist jetzt schon schlecht. Die Blicke fühlen sich wie Nadelstiche auf meiner Haut an. Zwar bin ich es gewohnt, besonders beobachtet zu werden, aber ich spüre eine passive Aggressivität, die sich mir gegenüber breitmacht. Meine Hautfarbe findet hier keinen Anklang. Ich könnte der Oberbürgermeister der Stadt München sein oder der Bundeskanzler, aber das zählt hier in diesem Raum und in dieser Umgebung nicht. Alles, was ich hier bin, ist der andere, der schwarze Mann. Und damit fehl am Platz. Ich nehme einen großen Schluck von meinem Weißbier.

Der Mann im blauen Pullover greift zu einer vergoldeten Klingel und bittet um Ruhe. Es ist ein bisschen wie damals in der Schule meines bayerischen Heimatortes Markt Schwaben. Die Wirtschaft platzt mittlerweile aus allen Nähten. Zwischendrin läuft die Wirtin umher, und ihr abwechselnd gellendes »Leberkas«, »Gulasch«, »A Russ?!«, »Neger?« wird zum Soundtrack eines Abends, den ich nie vergessen werde.

»Also gut, dann fangen wir mal an, zuerst einmal freue ich mich, dass ihr alle so zahlreich erschienen seid!«

Mein Gegenüber erhebt sich. Mir fällt auf, dass er sich mir gar nicht vorgestellt hat und das auch jetzt nicht tut, mich aber mit meinem Nachnamen begrüßt hat.

»Jeder bestellt, jeder versorgt? Dann können wir ja anfangen. Erst mal herzlich willkommen.« Gönnerhaft breitet er die Arme aus. »Wir haben heute ein buntes Programm vor uns.« Seine Stimme wabert durch die überfüllte Gaststätte, Ruhe kehrt ein. Dann beginnt es.

Die nächsten zwei Stunden werden mit die härtesten, die ich in einem Raum mit fremden Menschen verbracht habe. Es ist nicht so, dass ich in den kommenden Stunden angegriffen oder angefeindet werde. Niemand beleidigt mich hier offensichtlich (außer die Wirtin, die mir »aus Spaß« einen Neger hinstellt). Im Gegenteil: Derjenige, der den Abend moderiert, versucht, mir von Beginn an das Gefühl zu geben, ich sei nicht nur geduldet, sondern auch willkommen. Aber seine Freundlichkeit wirkt aufgesetzt wie eine Maske.

Ich kann bis hierhin eigentlich nichts Schlechtes über ihn berichten, aber ich erkenne seine Masche. Klar, er verharmlost erst einmal, dass Neonazis oder die Identitären der AfD nahestehen (»Schwarze Schafe gibt’s überall!«) und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Staat (»Der Verfassungsschutz ist ja eher unser Feind«). Und er bietet mir sogar an, nachdem ich bei ihm nachhorche, ob ich hier mit EC-Karte zahlen kann, mir das Geld auszulegen. Das ist schon etwas perfide, denn nur, weil er ja anderer Meinung ist als ich, kann ich ihm ja nicht böse sein, oder? Das ist die Taktik, die er und die AfD fahren: freundlich im direkten Umgang miteinander, menschenverachtend im Parteiprogramm.

Was war das für eine einfache Zeit, als Neonazis noch mit Springerstiefeln und Glatze umherliefen – wie damals die Typen aus Hohenlinden, die uns bei der Kramperljagd hinterhergelaufen sind – und sich eine Gesinnung nicht hinter einem blauen Pullover und einem netten Handschlag versteckt hatte. Seine Informationen, die er über mich hat und mir auch direkt vorhält, wirken zwar nicht direkt einschüchternd, erwecken aber sofort ein ungutes Gefühl in mir. Er teilt mir so sehr direkt mit: Dich, dich kenne ich. Wir alle hier kennen dich. Es ist dieses subversive Gefühl von Überwachung und Kontrolle, das schon in seinen Begrüßungsworten mitgeschwungen ist. Dieses laute Aussprechen meines Künstlernamens, gefolgt vom offensichtlichen Griff an das Handy der brünetten Frau, die mir schräg gegenübersitzt, gepaart mit den Worten »Aha, ein Rapper. Na dann schauen wir mal«.

Unsicherheit ist ein Gefühl, das nicht messbar ist, aber die AfD und die Repräsentativen des Kreisverbandes München-Süd wissen es sehr gut zu vermitteln. Wie der Blaue-Pullover-Mann mir so gegenübersitzt und etwas tapsig nach Eröffnungsworten ringt, merke ich bereits, dass er heute eine interessante Sonderrolle einnimmt. Ich bin mir sicher, dass zumindest er, der heute repräsentativ für diese Veranstaltung und somit auch für die Partei steht, einen Drahtseilakt vollführen muss. Zum einen muss er mir, dem dunkelhäutigen Gast, der für den Bayerischen Rundfunk auch schon mal verschiedene Parteien besucht und von deren Wahlkampf-Partys berichtet hat, das Gefühl geben, dass er hier willkommen wäre. Er kann mich nicht einfach wegignorieren oder mich mit in sein Feindbild einbeziehen, denn die AfD ist ja eine, zumindest auf dem Papier, demokratische Partei, und ich bin ein waschechter Bayer, wahrscheinlich bayerischer als die meisten anderen hier im Raum. Es ist also nicht nur mein gutes Recht, hier zu sein, sondern eigentlich demokratische Bürgerpflicht, um mir ein gesamtdeutsches Parteienspektrum einmal anzuschauen.

Auf der anderen Seite leitet er diesen Infoabend, den man retroperspektiv auch einfach nur als Stammtisch bezeichnen könnte. Seine Aufgabe ist es also, und das spüre ich im Verlauf des Abends, dafür zu sorgen, dass die Redebeiträge etwas gemäßigter als sonst vonstatten gehen, einfach weil die Partei und diese Versammlung sich nicht vor mir als offen rechts äußern können. Denn für mich, der ja sowieso scheinbar mit Presse und Medien zu tun hat, wäre das ein gefundenes Fressen. Der Blaue-Pullover-Mann muss also den Schein seiner demokratischen Partei waren, gleichzeitig aber auch die Stammgäste zufriedenstellen, die hier sind, um Dinge auszusprechen, von denen ich nicht gedacht hätte, dass diese in einem demokratischen Land im Jahr 2018 ausgesprochen werden. Gar keine leichte Aufgabe.

Zuallererst beginnt der Blaue-Pullover-Mann damit, der im weiteren Verlauf dieses Kapitels auch einfach nur noch so genannt wird, darum zu bitten, Flyer gegen das »Global Compact for Migration« mitzunehmen und zu verteilen. Das Programm soll die erste globale und zwischen Regierungen unter der Ägide der Vereinten Nationen ausgehandelte Übereinkunft zur Abdeckung aller Aspekte internationaler Migration werden, was die AfD verhindern möchte.

Als Nächstes ergreift »Gerd« das Wort, der ähnlich wie der Blaue-Pullover-Mann den Eindruck von Seriosität erweckt. Er ist vermutlich Mitte 50, hat eine hohe Stirn und einen weißen Bart und trägt ebenfalls einen Pulli über seinem weißen Hemd. Allerdings einen grauen. Er wirkt … nett. Gerd soll von der vergangenen Europa-Wahlversammlung der AfD in Magdeburg berichten, und es klingt ein wenig so, als würde er Rapport erstatten. Als er sich unter lautem Applaus von seinem Stuhl erhebt, geht er einige Schritte auf meinen Tisch – dem Tisch, an dem sich auch Beamer, Laptop und der »Wir lieben Deutschland«-AfD-Wimpel befinden – zu und spricht den Blauen-Pullover-Mann an. Zwischendurch dreht er sich um und rotiert im Kreis, damit seine Worte auch bei jedem Anwesenden Gehör finden. Nach wenigen Sekunden spricht er bereits von einer »permanenten Berieselung durch die Medien«. Und er beginnt, seinen abwertenden Bericht über die Versammlung mit einer persönlichen Geschichte zu würzen, wie er mit dem Auto nach Hause fuhr und im Radio nichts anderes als »linke Indoktrination« lief. Gerd sieht darin eine große Gefahr, denn seine 16-jährige Tochter sagt, was im Radio liefe, das müsse ja stimmen. Und der Rest, »der kommt von den Lehrern«. Ein empörtes Raunen setzt ein, ein paar bejahende »Stimmt!«-Rufe von dem Tisch hinter mir erklingen. »Das Nächste ist vielleicht ein bisschen rassistisch«, erhebt Gerd erneut die Stimme, und ich schaue in das von der Wirtin angetrunkene »Neger«-Glas.

Ein bisschen rassistisch. What in a thousand fucks soll das denn sein? Gibt es das überhaupt? So »ein bisschen« rassistisch? Gibt es ein »bisschen« tot? Ein »bisschen gebrochene« Knochen? Ist etwas Rassistisches nicht immer rassistisch, oder gibt es da ein Barometer, von dem ich nichts weiß und das den Grad an Rassismus für den Gerd misst? Er lässt sich darüber aus, dass bei der eigenen Wahlvollversammlung, »überall da, wo Deutsche angetreten sind, destruktiv nachgefragt wurde«.

Aha, ich verstehe, Fragen mag man also nur, wenn sie nichts kaputt machen. Ich nehme mir vor, dem netten Gerd im Lauf des Abends noch eine Frage zu stellen. Sein Kopf errötet, und Zornesfalten legen sich auf seine hohe Stirn. Ich nehme einen Schluck von meinem alkoholfreiem Weißbier und lausche weiter. Gerd gestikuliert nun etwas mehr und geht quer durch den Raum, er spricht von der Gefahr einer Zerphaserung der AfD und von verschiedenen Interessengruppe, die in der Partei heranwachsen würden. Namentlich: Frauen, Schwule, Katholische. So was halt. Als Gerd abtritt, folgt ein lautes Klatschen, der Blaue-Pullover-Mann hebt noch mal Gerds besonderes Engagement hervor, und Gerd erntet erneut Applaus.

»NÜRNBERGER!« Die Wirtin ist hinter mir aufgetaucht und verteilt Nürnberger für 8,80 Euro. Dann nippt sie wieder an dem unbestellten Cola-Weizen und stützt sich demonstrativ auf mir ab. Gott, ist das unangenehm. Was mir noch an dem ersten Redebeitrag auffällt: Gerd, der als Delegierter zu einer Europa-Vollversammlung der AfD nach Magdeburg fuhr, scheint überhaupt kein Interesse an politischen Prozessen zu haben. Er wirkte völlig gelangweilt und genervt von diesem Wochenende, alles, woran ihm gelegen scheint, war, den Zuhörenden zu beweisen, wie viel er für die Partei gemacht hat. Wie er sich für sie aufgeopfert hat – im selben Atemzug holt er zu einem rhetorischen Rundumschlag aus und spricht von einer Indoktrinierung durch die linken Medien.

Der nächste Programmpunkt steht an. Der Blaue-Pullover-Mann klickt sich an seinem Laptop durch die schlicht gehaltene PowerPoint-Präsentation. Es geht um die rechten Ausschreitungen in Chemnitz vom 27. August 2018. Zumindest denke ich das kurz. Tatsächlich geht es allerdings um das vorangegangene Tötungsdelikt des 23-jährigen Yousif A. an dem Deutschkubaner Daniel H., aber eigentlich geht es auch gar nicht um dieses Tötungsdelikt, sondern um, wie sollte es anders sein, viel mehr. Vorrangig um die Medien, die bei den anschließenden Ausschreitungen eine Hetzjagd hineininterpretiert hätten. Aufgrund einer einzelnen Aufzeichnung, des »Hase du bleibst hier«-Videos, das zeigt, wie mehrere gewaltbereite Männer zwei junge ausländisch aussehende Männer jagen, wäre man von einer Hetzjagd ausgegangen. »Ich hab sofort danach im Internet gesurft, um Sachen zu verifizieren, weil jeder weiß, dass Fake News im Internet von allen Seiten massenweise vorhanden sind und man selbst wirklich filtern muss, was ist jetzt glaubhaft und was nicht. Für mich war das nie glaubhaft, das ein einzelnes Video so etwas beweisen soll.« Der Blau-Pullover-Mann schaut nach diesen Worten aufmerksam in die Runde und erntet breite Zustimmung.

Wow, das geht hier alles sehr schnell. Es wird davon ausgegangen, dass alle hier auf demselben Informationslevel sind. Und dieser ist nicht derselbe, auf dem ich mich bewege. Ich habe die Bilder von Chemnitz gesehen und war erschüttert, dass es in Deutschland möglich ist, dass 6000 Rechte und Sympathisanten wenige Meter von einem Tatort »Ausländer raus!« rufen und Hitlergrüße zeigen können. Ich saß zu Hause mit meiner Frau auf dem Sofa und sah, wie Jungs, die ausländisch aussahen, am helllichten Tag durch eine Straße gejagt wurden. Ich sah meine Frau an und wusste, dass genauso gut ich hätte gejagt werden können. Diese Jungs mussten Todesangst gehabt haben. Was da passierte, war offen ausgelebter Rechtsextremismus. Punkt.

Und angenommen, es wäre wirklich nur dieser einzige Übergriff gewesen, wäre das denn wirklich weniger schlimm? Ab wie vielen Übergriffen gestehen sich diese Leute um mich herum denn ein, dass dort eine rechtsextreme Straftat begangen wurde? Zwei Übergriffe? Drei Hitlergrüße? Vier Wohnheimbrände? Dafür kann es keinen Maßstab geben.

Ich schaue mich abermals um und blicke in die Gesichter, die so viel Zorn und Verzweiflung in sich tragen. Ich bin der einzige Schwarze hier, dem auch noch ein »Neger« hingestellt und der gefragt wurde, »ob er hier richtig sei«. Niemand hier versteht, dass ich – wenn ich dort gewesen wäre, ich mit meinen bayerischen Wurzeln, ich, der eigentlich ihr kultureller feuchter Traum bin – derjenige gewesen wäre, den sie gejagt hätten, derjenige, der um sein Leben hätte bangen müssen. Dass sie das nicht verstehen können, ist mir klar, auch dass sie mir, ihrem Landsmann, in so einer Situation niemals zu Hilfe eilen würden, aber sie versperren sich auch den Weg in eine Welt, in der sie es täten. Sie gehen einen unempathischeren einfacheren Weg der Verdrängung und haken alles als Fake News und einen geplanten Regierungscoup ab. Das Ziel der »Hetzjagd«-Verschwörung soll angeblich gewesen sein, den damaligen Innenminister Hans-Georg Maaßen zu entlassen.

Ich blicke zu der Frau mir schräg gegenüber und schaue ihr tief in die Augen. Ich frage mich, ob sie mir helfen würde, wenn die Wirtin mir hier ein Messer in den Rücken rammte. Einfach so, weil ich ein Neger bin. Dann schaue ich zum Blau-Pullover-Mann. Dann zu dem Mann neben ihm. Dann zu seiner Frau. Dann zu allen anderen. Nein, niemand würde mir helfen.

»CHILI CON CARN!«

»Also, jetzt gibt es hier eine Untersuchung von Tichys Einblick!« Der Blau-Pullover-Mann öffnet mit einem Doppelklick ein Video.

Was ich in den kommenden sieben Minuten sehe, ist so absurd, dass ich fast lachen muss. Es öffnet sich ein Vorhang zu einer Geisterbahn. »Tichys Einblick«, die Online-Zeitung des Publizisten Roland Tichy, die sich selbst als »Das liberal-konservative Meinungsmagazin« bezeichnet. Er hat ein Video über Chemnitz erstellt und berichtet von »neuen Erkenntnissen« zum viralen »Hase du bleibst hier«-Video. Demnach, so erklärt es Tichy, habe man die Frau, die das Video erstellt hat, ausfindig gemacht. »Eine Frau, die jeden Morgen früh um fünf aufsteht, um zur Arbeit zu gehen.« Was für ein Anfang. Was für ein Bild. Natürlich steht sie jeden Tag um fünf Uhr auf, um zur Arbeit zu gehen. Das soll wohl suggerieren, dass die Frau bereits von Anfang an von jeder Schuld befreit ist, da sie ganz offensichtlich hart und ehrlich arbeitet – und wer um fünf zur Arbeit geht, um zu arbeiten, ist ja schon per definitionem ein unbescholtener Bürger. Diese Frau behauptet nun also das Gegenteilige. Die vermeintlichen Opfer hätten die Deutschen provoziert. Es ist unklar, ob die beiden Männer im Video die Frau zitieren oder selbst interpretieren, sie sprechen davon, dass die beiden »arabisch aussehenden Jugendlichen Bier über die Demonstranten geschüttet hätten«. Die Begrifflichkeiten ändern sich hier ständig. Mal sind die gejagten Männer »ausländisch aussehend«, dann »arabisch aussehend«, dann schlichtweg »Ausländer«. Die Männer und die Frau, die um fünf Uhr zur Arbeit geht, sind zuerst Besucher eines »Schweigemarsches«, dann eines »Protestmarsches« und schließlich Teilnehmer eines »immigrationskritischen Demonstrationszugs«. Ja, was denn nun? Und warum trinkt man bei einem Trauerzug eigentlich Bier?

»GULASCH!«

Alles ziemlich verworren und vor allem überhaupt nicht faktenbasiert. Zwei weiße alte Männer unterhalten sich sieben Minuten lang über ein 19-sekündiges Video und sagen einzig und allein, dass das Gezeigte nicht stimmt und künstlich »von den Medien« hochstilisiert wurde. Wäre das Video ein Rapsong zum Thema gewesen, würde ich sagen, er ist unfassbar »whack«, weil er mir nix Neues erzählt. Ich hatte ja wenigstens gehofft, dass die Frau zu Wort kommt oder es irgendwie so etwas wie einen Faktencheck gibt, aber das Gezeigte hätte ehrlich gesagt auch jeder x-beliebige Mensch selbst produzieren können.

Das Video ist vorbei. Eine kurze Stille tritt ein. Ich hoffe insgeheim, dass alle Anwesenden kollektiv lachen und sich das Ganze hier als hanebüchener Scherz entpuppt, quasi als Parteigag. Nope.

»Bravo«, ruft jemand, in der vorderen Reihe grummelt einer »ziemlich starkes Video« in seinen Bart hinein. Ich bin fassungslos. Das Video war einfach nur eine plumpe Umdeutung. Die hart arbeitende deutsche Frau wurde in den Vordergrund gerückt und die Angegriffenen als Provokateure bezeichnet. Mehr nicht. Das muss doch jemand anderem als mir auch noch auffallen, denke ich. Aber vielleicht ist der Inhalt des gezeigten Videos auch gar nicht so wichtig. Denn nachdem der Applaus für Tichys Einblick verhallt ist, entpuppt sich der wahre Kern dieser Versammlung. Nach diesem Video gibt es keine vernünftige Sachgrundlage mehr. Jetzt kann jeder sagen, was er will, frei von Fakten. Eine stille Übereinkunft, legitimiert durch dieses abstruse Video, das sagt: Es gibt nur eine Wahrheit, und das ist die Wahrheit, die wir gern sehen wollen.

Es wäre ein Leichtes gewesen, die wirren Argumente im Video zu entkräften, vor allem den lapidaren Umgang mit Sprache und Begriffen, aber das will niemand mehr hören.

Let the games begin!

Jemand schräg links hinter mir erhebt die Hand und meldet sich zu Wort. Er ist etwas jünger als viele andere hier und wirkt eher wie jemand, der direkt einer Hornbach-Werbung entsprungen ist. Er trägt ein rotes Karohemd und benutzt auf jeden Fall Bartöl. Er räuspert sich. Seine Stimme hallt durch die Kneipe: »Die zwei Syrer, die das gemacht haben, die haben ja Sandhandschuhe getragen.«

»Quarzhandschuhe«, korrigiert der Mann im blauen Pullover.

»Ja genau. Anscheinend etwas, was auch bei der Antifa gern mal getragen wird. Nur mal so als Fakt.«

»CHILI CON CARN!«

Die Wirtin ist wieder da, verteilt das klumpige Chili, das sie auf einem Teller transportiert, und trinkt wieder von dem Cola-Weizen, das immer noch vor mir steht. Langsam verstehe ich, wie das hier läuft. Jeder darf einfach sagen, was er will, das dahintergestellte »nur mal so als Fakt« des Karohemdträgers legitimiert natürlich überhaupt nichts und hat schon fast etwas Komödiantenhaftes. Ich überlege kurz, mich zu melden und zu sagen: »Sie, ’tschuldigens, des is ma jetzt fast a weng peinlich, aber des war i aufm Video drauf. I und mei Bruader, mir homm des Ganze ogfangt. I woitt immer scho amoi am Nazi as Bier ausschütten aufm Naziaufmarsch, aah Trauermarsch, aah Demo, aaah, es wissts scho, wos i moan. Jetzad wollt i einfach sorry sonng und das des nimmer vorkimmt, oiso kanntats ihr a aufhern, an so an Schmarrn zum glamm, wos es do eich eineziagts!« (»Jo, Leute. Es wird euch wundern … Aber das auf dem Video bin ich. Und ja, ich und mein Bruder haben angefangen! Sorry for that! Wir hatten einfach Bock, die Besucher dieser Trauerdemo mit ihrem eigenen Bier zu überschütten. Aber ich bin hier, um mich zu entschuldigen. Sorry!«) Aber ich lass es doch lieber bleiben.

Von dem Blau-Pullover-Mann wird jetzt Chris aufgerufen, der mir bisher noch nicht aufgefallen war, weil er ganz hinten saß und wohl etwas später kam. Sonst hätte ich ihn sicher bemerkt. Chris ist mit Abstand der Jüngste hier. Ich schätze ihn auf Ende zwanzig bis Mitte dreißig. Er trägt eine blau verspiegelte Brille, wie sie Techno- und Gabba-Fans tragen, eine weiße Hose und eine weiße Jacke. Um seinen Hals baumelt ein übergroßes Kreuz, sein langes hell coloriertes Haar trägt er zu einem Zopf gebunden, die Seiten sind abrasiert – er sieht für mich aus wie der Prototyp des Neonazis. Ich sehe ihn an und habe Bilder vom Rudolf-Heß-Gedenkmarsch im Kopf. Er sieht genauso aus, wie jemand, der dort in der ersten Reihe mitmarschiert.

Als er mit Namen aufgerufen wird, wird mir sofort klar, dass mir keiner hier zu erzählen braucht, es gebe keine Verbindung zwischen rechten Aktivisten und denen, die hier im Hintergrund ihre rechten Reden schwingen. Von seiner Statur ist er überhaupt nicht bedrohlich, er ist eher dünn und schmächtig, aber was Chris durch sein Aussehen verkörpert, lässt bei mir alle Alarmglocken angehen. Er versucht, seinen Worten mehr Ausdruck zu verleihen, indem er zwischendurch kurze Pause einbaut. Er benennt »zwei Dinge«, die ihm »aufgefallen« seien. Zum einen hätten die Syrer aus dem Video angefangen, und die Deutschen hätten denen lediglich »einen Arschtritt gegeben«. Es folgt eine kurze Pause, und Chris tänzelt ein wenig in der Mitte des Raumes umher, außerdem hätte der Innenminister Maaßen vorgehabt, einen Bericht über das Verhältnis von linksextremistischen Parteien zu veröffentlichen. Das sollte verhindert werden. Hätte es das Video nicht gegeben, hätte es nach Chris »eben einen anderen Grund gegeben, ihn zu entfernen«.

Ich bin völlig baff. Aber jetzt weiß ich, an was mich das alles erinnert. An YouTube-Videos von Axel Stoll, den Verschwörungstheoretiker-Nazi schlechthin, der von Nazi-Flugscheiben und den Ariern auf der dunklen Seite des Mondes erzählt. Muss man wissen. Ist bekannt. Es melden sich noch ein paar mehr AfDler oder zumindest Interessierte zu Wort, und jeder spekuliert wild drauflos. Misha, eine Transfrau, tritt nach vorn und hält eine flammende Rede über die innerparteiliche Organisation der AfD. Was genau sie sagt, kommt bei mir nicht an. Es ist die Art und Weise, wie sie redet, die mir im Gedächtnis bleibt. Hitleresque. Mit einem lauten »DANKE« setzt sie sich wieder hin, und der Raum ist ob solcher Ausdruckskraft kurz geschockt und beeindruckt. Ich starre die Transfrau an, die hier offensichtlich auch einige organisatorischen Aufgaben übernimmt. Sie ist hier ein ganz klarer Außenseiter, ich glaube, die wenigsten sind unbedingt begeistert von ihrem Erscheinungsbild, aber ihre Hingabe für die Sache scheint das Ganze wieder wettzumachen.

Die Veranstaltung scheint mir ein Sammelbecken zu sein. Ein Sammelbecken derjenigen, die das Gefühl haben, nicht mehr akzeptiert zu sein. Die AfD ist ein Treffen von Außenseitern, die voller Hass und Zorn sind und ihn hier rauslassen können.

Der Nächste, der sich meldet, spricht über die Vertuschung von vorangegangenen Mordversuchen, dann geht es um die von Berlin geplante Weiterbildung der Täter und einer Indoktrinierung von oben, die ein Typ im schlecht sitzenden dreiteiligen grauen Anzug drei Plätze neben mir in den Raum wirft und sich dabei ein bisschen wie Himmler anhört.

»Wie lange müssen wir uns das noch gefallen lassen?«, ruft jemand hinter mir. Ich drehe mich um, und Gerd hat sich erhoben, um auf den Zwischenruf zu antworten.

»Na ja«, sagt der nett aussehende Gerd von vorhin, dem die Demokratie zu anstrengend war. »So lange, bis wir hier rausgehen und mit dem Knüppel …«

»LEBERKAAS!«

Die Wirtin ist wieder da und unterbricht den doch gar nicht so netten Gerd, der sich gerade von seiner wahren Seite gezeigt hat. Der Infoleiter im blauen Pullover ist jetzt in seiner Rolle als Vermittler und versucht zu beschwichtigen: »Na, dann doch lieber Leberkas statt dem Knüppel.« Er versucht, die angespannte Stimmung durch ein künstliches Lachen zu lösen. Der Raum knistert, die Menschen hier haben keine Skrupel. Ich bin fassungslos und starre in das dunkle Bierglas neben mir, das weder ich noch jemand anders bestellt hat. An der Außenseite des Glases zieht sich ein Spuckefaden der Wirtin. Mich würden sie jagen … mit einem Knüppel. So viel steht fest. Und wenn sie mich nicht persönlich jagen würden, dann würden sie zumindest danebenstehen und klatschen, genauso, wie sie hier nach jedem einzelnem Redebeitrag, egal, wie verworren der Inhalt ist, klatschen. Das hier ist Dunkeldeutschland mitten in München, mitten in der Weltstadt mit Herz, und ich habe es ganz einfach durch die formlose Anmeldung per E-Mail und dem Überschreiten der Türschwelle einer Gastwirtschaft betreten. Ich habe das Gefühl, über dieser Gaststätte liegt eine unsichtbare Kuppel, ähnlich wie im Roman »Under The Dome« von Stephen King. Hier ist man isoliert von der Außenwelt. Es ist ein rechtsfreier Raum, in dem es keine sprachlichen oder ethischen Werte mehr gibt. Mal gibt es weniger, mal mehr Applaus. Mehr nicht. Ein ausgesprochener Aufruf zum Mord ist hier keiner kritischen Reflexion über Meinungsfreiheit würdig, sondern wird mit Beifall honoriert. Wäre ich heute nicht hier, hätte der Leiter dieses Abends wahrscheinlich nicht versucht einzugreifen und den Knüppel-Redner mit einem lockeren Halbsatz wegzukommentieren. Wobei, so richtig hat er das ja auch nicht getan, er hat den Leberkäse nur dem Knüppel vorgezogen, Applaus gab es dafür übrigens nicht.

Ich schaue mich weiter um und blicke in die Gesichter der versammelten AfDler oder zumindest Sympathisanten. Ich glaube, sie sehen diesen Abend und diese Versammlungen als eine Chance. Als eine Chance, endlich Dinge auszusprechen, von denen sie glauben, man dürfe sie in Deutschland nicht mehr äußern. Für sie ist der Rechtsstaat das Feindbild, Politiker sind Marionetten. Auch die kommenden folgenden Redebeiträge verstärken meinen Eindruck. Mir dröhnt der Schädel. Die inhaltlichen Programmpunkte, die vor allem aus einem Erfahrungsbericht der AfD-Vollversammlung und einem ziemlich lahmen Video über Chemnitz bestanden, sind lange abgehakt. Die Bühne ist offen, und jeder darf etwas sagen. Über Deutschland, über das System, über Flüchtlinge und Asylanten – einfach über alles. Der gar nicht so nette Gerd, der dazu aufgerufen hat, mit einem Knüppel loszuziehen, spricht erneut. Diesmal fragt er sich, wie viel »physischen Widerstand unser Volk« leisten kann, und schiebt ein, dass die demokratische Arbeit ermüdet. Er spricht über Revolution, Macht und Gewalt. Es fällt der Satz »Bayern wurde mit Gewalt gestaltet, ich spreche nicht der Gewalt zu, nur wir müssen wissen, wo Änderungen herkommen«. Er nennt die Pegida als ein legitimes Mittel für »Veränderungen«.

Ich möchte in mein Bierglas brechen.

Mir fällt in der Rhetorik auf, dass die Redner in ihren Beiträgen Themen nie komplett aussprechen. Der gar nicht so nette Gerd spricht der Gewalt nicht zu, aber man »müsse wissen, wo Änderungen herkommen«. Was soll das bedeuten? Er überlässt die Interpretation den anderen Anwesenden, die seine Linie allesamt verstehen. Natürlich propagiert er Gewalt, er verschleiert es nur galant. Und so trifft sich hier eine Interessengemeinschaft, die an eine gemeinsame Sache glaubt: an das Wiedererstarken eines Deutschlands, in dem ausschließlich Deutsche leben sollen (wer auch immer das jetzt genau sein soll, ich offensichtlich nicht).

Der Redebeitrag einer Frau, die eher nach Münchener Öko aussieht, ist ein Paradebeispiel für rechte Rhetorik. Sie spricht von der »Austrocknung der finanziellen Quellen, die diese linke Bande nährt«. Sie spuckt, während sie spricht, und ihr Gesicht läuft rot an. Ihr Pamphlet beendet sie mit den Worten: »Der linke Sumpf muss ausgetrocknet werden.« Die Hasstirade endet mit großem Applaus und vereinzelten »Jawohl«-Rufen.

Ich würde eigentlich gern mehr erfahren. Von welchen Linken sie jetzt eigentlich redet? Langsam reicht es mir. Mein Unbehagen ist stetig gewachsen, aber eigentlich bin ich auch ziemlich wütend. Was glauben diese Leute eigentlich, was sie hier machen? Alles, was hier passiert, ist falsch. Als ich mich für diesen Termin anmeldete und von meiner Wohnung aus loszog, hatte ich kaum eine Ahnung, was mich erwarten würde, zwar war ich etwas aufgeregt, aber ich konnte nicht ahnen, dass ich mich so unwohl hier fühlen würde, obwohl ich nicht offen bedroht werde. Aber dieses Gefühl des Nicht-willkommens-Seins, des Unerwünscht-Seins und -Bleibens zieht sich durch die gesamte Wirtschaft. Es hängt auf dem Deutschland-Sombrero am Eingang, es liegt auf dem Staub der 1860-München-Krüge und gipfelt in den Redebeiträgen der Rechten, die hier nicht das Gefühl haben, etwas Falsches zu tun, sondern einfach nur ihre kritische Meinung äußern.

Empathie ist hier ein Fremdwort. Ebenso wie Nächstenliebe. Die Menschen, die hier sitzen, sind so in ihrer Thematik festgefahren, dass sie überhaupt keine Gesichter und Geschichten mehr sehen, sondern nur noch stumpfe Parolen von sich geben. Einzelschicksale und ein friedliches Miteinander sind ihnen egal.

Ich hebe meine Hand und melde mich. Auch ich möchte etwas sagen. Mein Puls steigt, als der Blau-Pullover-Mann auf mich deutet und mich bittet, mich zu erheben. Ich spüre die Blicke auf mir, als ich in die Mitte des Raumes gehe. Ich sehe in die Runde. »Servus, ich bin der David.«

Die Wirtin hält zwei Weizengläser in der Hand und drängt sich an mir vorbei. »WEISSBIER!«, schreit sie.

Dann ist es ganz ruhig. Aber das ist nicht diese melancholische, diese beruhigende, sinnliche Stille, die ich in dem Moment erlebt habe, bevor ich hier hineingegangen bin. Eine unangenehme Spannung liegt in der Luft. Meine Stimme ist fest, als ich anfange zu reden. Ich will es ihnen nicht leicht machen, nicht unsicher wirken, nicht angreifbar. »Ich bin der David. Ich bin heute das erste Mal da, ich bin kein Parteimitglied, sondern wollte mir das nur mal anschauen. Ich bin der Enkel von Flüchtlingen.« Eine kurze Pause. Einzelne Augenbrauen heben sich. »Meine Großeltern kommen aus Sudetendeutschland und sind nach Bayern gekommen, also eben Vertriebene.«

Eine Reaktion bleibt aus, was mich wundert, da viele andere vorherigen Redner auch erst einmal die Geschichten ihrer Vorfahren abgehandelt und dafür (natürlich) Applaus bekommen haben.

»Na ja, und man sieht es mir ja schon an.« Ich wechsle ins Bayerische: »I bin a Bayer, des ist kloar.« Gelächter im Raum. Ich lächle. Dabei ist das natürlich kein Witz. Ich bin wahrscheinlich der bayerischste Typ in dieser Gaststätte. Ich kenne die Probleme unserer bäuerlichen Nachbarn seit meiner Kindheit. Bauern, die irgendwann aufgehört haben, ihre Felder zu bestellen und auf Maschinenverleih umgestiegen sind. Ich habe frühmorgens mit einer Milchkanne frische Milch nach Hause getragen, bin als Zwölfjähriger mit einem Moped illegalerweise durch das niederbayerische Hinterland gebraust und habe als Teenager mit alten Leuten auf der Maibaum-Wache gehockt und Bier gesoffen. »Bavarian Squad« heißt die Rap-Gruppe, mit der ich bayerischen Rap mache. All das verschwindet hinter dem Gelächter der Stammtischbesucher.

»Was ich nicht verstehe: Es wurde eben gesagt, der demokratische Prozess wird als ermüdend empfunden. Aber ihr seid doch in unserem demokratischen System gerade dabei, richtig Fahrt aufzunehmen. Ich verstehe nicht, dass hier gesagt wird, dass das demokratische System ermüdend sei. Und wenn dem so ist: Wie geht ihr jetzt damit um? Überlegt man sich etwas, oder geht man, wie eben angesprochen, mit dem Knüppel raus? Wohin geht die Reise?« Es wird ruhig.

»Dass das demokratische System ermüdend ist, habe ich so nicht gesagt«, erwidert der gar nicht so nette Gerd und verschränkt die Arme. Damit hatte ich gerechnet. Indirekt wird mir vorgeworfen, dass ich Tatsachen verdrehen würde. Fake News. Das war klar. Der nächste Gast springt ein und sagt, dass man sich bei Übergriffen auf AfDler schon wehren muss, zur Not eben auch mit Gewalt. Schon irgendwie lustig. Als wären Übergriffe auf AfDler das große Problem unserer Zeit, und vor allem in Chemnitz.

Der Blau-Pullover ergreift das Wort: »Wir müssen das alles als Katalysator nutzen und die Bürger zu einem Protestverhalten aktivieren.« Eine kurze Pause entsteht. Dann fügt er hinzu. »Natürlich zu einem friedlichen.«

Ich setze mich wieder in den knarzenden Holzstuhl. An diesem Ort herrscht eine verquere Wahrnehmung. Die AfD, deren Anhänger und Sympathisanten, sind in erster Linie Opfer und fügen sich auch dieser Opferrolle. »Die Linken«, aus deren Sicht also nahezu jede Partei – außer vielleicht dem rechten Flügel der CSU – sind das klare Feindbild, das aber nicht weiter ausdifferenziert wird. »Die Linken« sind einfach nur ein Schlagwort für alles, was nicht zur AfD zählt. Es wird darauf beharrt, dass die eigene Partei von »den Medien« kritisch beäugt wird und seitens dieser eine »Indoktrinierung« stattfindet. Eine »Berieselung«, die der AfD bewusst schaden will. Dabei sind die Begriffe so schwammig und allgemeingültig, dass jeder sich etwas darunter vorstellen kann – oder eben auch nicht.

Ich verstehe nicht, warum »der linke Sumpf ausgehoben werden muss«. Ist eine Linke in einem parlamentarischen politischen Spektrum nicht wichtig für eine funktionierende Demokratie? Aber es geht hier auch gar nicht um politische Inhalte, sondern um ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich durch die einzelnen wirren Wortbeiträge bildet. Hier sitzen keine Menschen, die wirklich an einer politischen Arbeit interessiert sind. Interessant finde ich, dass die AfD-Sympathisanten an diesem Infoabend ziemlich durcheinandergeredet haben und nicht selten inhaltlich aneinander vorbei. Um ehrlich zu sein: Wenn das hier keine politische Brisanz hätte, man könnte es auch als Freakshow oder zumindest als Selbsthilfegruppe bezeichnen, in der jeder seine kruden Theorien zu allen möglichen Themen einer nickenden und applaudierenden Masse vortragen kann.

Die Aggressivität der Beiträge stieg bis zum Schluss immer weiter an, das Eingreifen des Blau-Pullover-Manns erfolgte ziemlich halb gar und offensichtlich auch nur, weil ein Fremdkörper, in diesem Fall meine Wenigkeit, heute hier war. Wie enthemmt die Redebeiträge hier wohl vonstattengehen würden, wenn keine schwarze Person anwesend wäre, die von außen kommt und sich zwischen die Reihen setzt, kann ich mir lebhaft vorstellen. Der Sitzungsleiter erzählt noch etwas, aber ich höre ihm nicht mehr richtig zu, sondern trinke mein alkoholfreies Weißbier aus.

Die Wirtin schiebt sich vorbei und räumt mein Glas und das Cola-Weizen, »den Neger«, weg. Ich schaue in ihr alterszerfurchtes Gesicht und frage mich, in welcher Realität sie lebt. Eigentlich steht sie mit ihrer Cola-Weizen-Aktion sinnbildlich für das, was die AfD und deren Sympathisanten hier heute verkörpert haben. Sie beging einen Fehler, als sie ein Cola-Weizen gezapft hat, das nie jemand bestellt hat. Als ihr der Fehler inmitten der vollen Kneipe auffiel, wäre es ein Leichtes gewesen, sich ihren Fehler einzugestehen und das zu viel gezapfte Getränk einfach wieder zurückzunehmen. Niemandem wäre es aufgefallen, und es hätte auch niemanden wirklich interessiert. Stattdessen stand sie mit ihrem zu viel gezapften Bier da und sah sich nach jemandem um, dem sie es unterjubeln konnte, um die Schuld von sich zu weisen. Um es im Nachhinein als doch als genau richtig darstellen zu können. Und da ich in der Minderheit war und es aufgrund meiner fehlenden Lobby oder Verbindungen in diesen Reihen nicht so einfach gewesen wäre, mich mit ihr zu streiten oder ihr zu widersprechen, war ich derjenige, dem sie ihren Fehler übertragen konnte. »Den Neger stell ich amal da her.« Richtig so. Nicht mehr ihr Problem. Der außenstehende Unbeteiligte in der Minderheit muss mit dem Fehler klarkommen, den sie verschuldet hat. Das ist so schrecklich passend. Ich, der Flüchtling, der Ausländer, der Dorn im Auge. Sie, die AfD-Sympathisantin.

Die Wortbeiträge nähern sich dem Ende. Aber ich habe mittlerweile keine Kraft mehr. Die Luft ist stickig geworden, hier in der Illusion einer bayerischen Wirtschaft. Wo so getan wird, als wisse man, was bayerische Leitkultur ist, in der jemand wie ich, der sich im Ausland immer zuerst als Bayer vorstellt, unerwünscht ist. Aus den Augenwinkeln konnte ich während meines eigenen Wortbeitrags beobachten, wie mich die Frau, die mich am Anfang gegoogelt hat, fotografierte. Jetzt sitzt sie mir gegenüber und stochert seelenruhig in ihrem Gulasch herum. Was sie mit den Fotos von mir wohl vorhat? Wahrscheinlich nichts. Vielleicht wollte sie ja auch einfach, das ich mitkriege, wie sie mich fotografiert. Einfach, damit ich Bescheid weiß.

Es kommen noch ein paar Beiträge, aber ich kann nicht mehr so richtig zuhören. Ich bin durch. Der letzte Beitrag des Abends stammt von einem älteren Herrn, der sich noch gar nicht zu Wort gemeldet hat. Seiner Meinung nach leben wir in einem Land, in dem viele Menschen wohnen und man »einfach nichts mehr sagen darf«. Seine letzten Worte klingen aber um einiges wohlwollender. »Alle sollten mal wieder miteinander reden und ins Gespräch kommen, bevor man sich die Köpfe aneinanderhaut.«

Applaus – natürlich.

Ich glaube, hier könnte man nach vorn gehen und behaupten, die Erde wäre eine Scheibe und Angela Merkel ein Echsenwesen, und alle würden klatschen. Der Blau-Pullover-Mann beendet den Abend. Mein Weißbierglas ist leer, und ich suche Kleingeld zusammen, um zu bezahlen. Es herrscht ein wenig Aufbruchsstimmung, viele bleiben aber noch hier und sprechen Themen an, die ihnen auf dem Herzen liegen. Ich habe ehrlich gesagt keine Lust mehr zuzuhören, denn das habe ich in den letzten zwei Stunden bereits zur Genüge getan, und ich habe mittlerweile eine Ahnung davon, worum es hier im Kern wirklich geht. Diese Infotreffen sind vielmehr ein Sammelsurium verschiedener besorgter Bürger, die hier ihren wilden Theorien verbreiten. Wirkliche politisch relevante Inhalte werden nicht besprochen. Auch um das Grundsatzprogramm der AfD ging es nicht im Geringsten. Ich hätte es spannend gefunden, wenn auf die einzelnen Redebeiträge eingegangen worden wäre, wenn sich Diskussionen ergeben hätten, aber eine kritische Reflexion fand zu keinem Zeitpunkt statt. Es scheint mit zum Konzept dieser lokalen Veranstaltung zu gehören, dass hier einfach alles gesagt werden darf. Das ist das Besondere dieser Partei, zumindest wenn ich das heute Erlebte auf Bundesebene übertrage. Die Suggestion, unter dieser Kuppel fände eine exklusive Wahrheitsfindung statt, und zwar ausschließlich hier. Getragen von dem kollektiven Gedanken, der alle hier vereint: dass es Deutschland aufgrund von Überfremdung schlecht geht und eine Revolution von innen entstehen muss.

Hier treffen sich die, die einen Umbruch wollen. Sie sprechen zwar davon, dass eine Demokratie richtig und wichtig sei, aber das kommt mir genauso falsch und verlogen vor wie der freundliche Händedruck des Mannes im blauen Pullover. Wie kann es denn duldbar sein, dass Revolutionsgedanken, die das demokratische System natürlich abschaffen wollen, Hand in Hand mit Aussagen wie »bis wir mit dem Knüppel da rausgehen« einhergehen? Die AfD spielt mit Ängsten. Angst vor Ausländern, Angst vor dem Fremden und natürlich auch Angst vor mir, dem Dunkelhäutigen. Ich glaube, es war relativ egal, was ich inhaltlich zur Diskussion beigetragen habe. Mein Auftritt allein war Provokation genug. Die Tatsache, dass jemand wie ich sich in diese Kuppel hineinwagt, verwirrt. Dass ich geduldet werde, spielt dieser Veranstaltung aber in die Hände, denn so schlimm können sie ja nicht sein, wenn sie immerhin einen Schwarzen auf ihre Veranstaltung kommen lassen und der sogar auch noch etwas sagen darf, oder?

Nope.

Für die AfD bin ich ein hervorragendes Argument für überparteiliche Toleranz, das die AfD-kritischen Stimmen aus dem politisch linken Spektrum hochhalten kann, wenn es mal wieder berechtigterweise heißt, die AfD wäre eine rechtsextreme Partei. Vielleicht wurde ich deshalb fotografiert und lande später als visuelles Statement auf irgendeiner lokalen Facebook-Seite. So was wie »Wir lassen jeden aussprechen: Vielfalt bei der AfD-München-Süd« … Doch das Gedankengut der AfD ist rechter und demokratiefeindlicher denn je, auch wenn die Outfits sich vielleicht geändert haben. Es gab genau eine Person am heutigen Abend, der man ansehen konnte, dass sie patriotisch und nationalistisch tickt: der Jüngste, Chris, der an eine Maaßen-Verschwörung glaubt und für den das Chemnitz-Video (wie für alle anderen) natürlich fake ist. Er war zwar der Einzige, der gewaltbereit aussah, aber ich bin mir sicher, er ist nicht der Einzige, der es ist. Und im Zweifel kennt er genug andere Typen, die so aussehen wie er und die kein Problem damit hätten, jemanden wie mich durch die Straßen Münchens zu jagen.

»So, also schönen Dank, dass Sie hier waren!« Der Blau-Pullover-Typ streckt mir seine Hand entgegen. »Es ist wirklich gut, wenn man einfach immer miteinander redet.« Ich bin zu durcheinander, um ihm zu antworten, denn miteinander zu reden fand ich auch immer gut. Wenn es aber kein Korrektiv gibt und alles auf einmal beredenswert ist, also wirklich alles, dann hilft reden und aufeinander zugehen auch nicht mehr.

Ich habe nichts gesagt, als ich mehrmals von der Wirtin offen rassistisch angegangen wurde. Ich bin ruhig geblieben und habe es hingenommen, dieses grauenhafte schreckliche Wort, das keiner mehr sagen sollte. Ich habe es ertragen, dass niemand es für nötig hielt, hier einzuschreiten oder der Wirtin vielleicht kurz zu erklären, dass es nicht in Ordnung ist – weil es hier anscheinend in Ordnung ist.

Will ich also mit Leuten diskutieren und reden, für die es dazugehört, dass »Neger« ein gängiges Vokabular ist? Will ich mit Menschen reden und Menschen zuhören, die einen Knüppel hervorholen und auf die Straße gehen wollen? Muss ich die Meinung von Menschen anerkennen, die ein siebenminütiges Video von zwei alten weißen Männern schauen und glauben, hierin die einzige legitime Wahrheit gefunden zu haben, einfach weil es ihnen gerade praktischerweise in ihr Weltbild passt?

Nope.

Die Gaststätte leert sich allmählich, die Leute drängen an mir vorbei und nehmen einen Flyer gegen den Migrationspakt mit. Auch ich greife zu. »Wir entscheiden selbst, wen wir reinlassen!«, lautet die Überschrift. Im Bild öffnet eine weiße Hand den Türknauf zu einer malerischen grün anmutenden Landschaft. Die Menschen hinter mir drängen zu den Flyern, manche nehmen Hunderte mit, die sie in ganz München verteilen wollen. Ich will nur noch weg.

Als ich an den Tresen gehe und mein Bier bezahlen will, spricht mich die Wirtin auf Bayerisch an. »Wo kimmstn du her?«, fragt sie.

»Neuperlach«, sage ich.

»Naaa.« Sie winkt ab. »Wo kimmstn du wirklich her?«

»Geboren bin ich am Sendlinger Tor in München und großgeworden in Markt Schwaben.«

»Ah na, du versteht mi ned.« Sie winkt erneut ab und lacht.

Vielleicht denkt sie, ich bin zu dumm, um zu verstehen, was sie mit ihrer Frage herausfinden will.

»Weil meine Nachbarin, die kommt aus dem Senegal.«

Aha. Und jetzt? Will sie diese Frau irgendwie mit mir connecten? Ich verabschiede mich freudlos, verlasse die Kuppel und trete hinaus in die dunkle Münchener Nacht. Es ist 21 Uhr. Am Himmel ist keine einzige Wolke zu sehen. Ich ziehe meine Jacke enger zu, seufze und mache mich auf in Richtung Hauptbahnhof, um die U-Bahn nach Hause zu nehmen. Nach Perlach. Unweit von Markt Schwaben. Wo ich herkomme. Da und nirgends anders komm ich her. Aber, um ehrlich zu sein, dieses Gefühl der Nicht-Akzeptanz, des Fremdseins, dieses N-Wort, das ausgesprochen wird, wenn ich im Raum bin, das ist für mich nichts Neues. Im Gegenteil. Es begleitet mich eigentlich schon, seit ich ein kleiner Junge war.

Ein N**** darf nicht neben mir sitzen

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