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1. Kapitel: Am Ende der Zeiten

Die Welt hatte sich weiter gedreht. Doch nicht mehr lange. Die Sonne war klein und blut­rot. Die letzten Völker führten Kriege im Süden oder war­teten im Norden im uralten König­reich Atlantis auf das Ende. Niemand konnte es genau berechnen. Es mochten Jahrzehnte oder Jahrhunderte sein. Aber jeder wusste, dass es zu Ende ging. Bald würde al­les Leben auf der Erde erlöschen, bevor die Sonne und die Planeten selbst zerstört wurden und in das ewige Nichts eingingen.

Adebar erwachte und ging zum Fenster. Ein kühler Wind wehte, aber besondere Verände­rungen waren nicht zu bemerken. Seit er sein Studium der Zaube­rei in der Hauptstadt At­lantium abgeschlossen hat­te, waren drei Monate gleichförmig und eintönig vergangen. Auf dem Landsitz der Familie verlief alles wie eh und je, außer dass die Gefährten und Freun­de seiner Kindheit die Umgebung im Nord­westen des Reichs inzwischen verlassen hatten.

Der Vater begrüßte die Anwesenden im großen Speisesaal zum Frühstück. Ascolan war lange als Kommandant im Krieg im Süden gewesen, doch nachdem Atlantis sich aus den endlosen Scharmüt­zeln weitgehend zurückgezogen hatte, harrte auch er untätig auf dem Landsitz aus. Rechts von ihm saß die Mutter Adele in weißem Gewand mit lan­gen silber­grauen Haaren, links von ihm der erstge­borene Adama, hochgewachsen mit stolzen und wachen Augen und elegantem dunklen Spitzbart. Der kleinere Bruder Andron und das jüngste Kind der Familie, die Schwester Alena, saßen dabei. Au­ßerdem der alte Hofmeis­ter und die Erste Magd des Hauses. Weitgehend schweigend beendete man die gemein­same Mahlzeit.

„Wer kommt mit auf Fuchsjagd?“, fragte daraufhin Adama.

„Was haben dir die armen Füchse denn ge­tan?“, fragte Alena verärgert.

„Nichts“, entgegnete Adama. „Es macht mir ein­fach Spaß, sie zu jagen und beim Töten die eigene Macht zu spüren! Das dürfte die älteste Tradition der Welt sein und der Adel wird sie weiterführen, solange noch Füchse leben.“

„Oder solange noch Menschen leben“, fügte Adebar sarkastisch hinzu. „Vermutlich lö­schen sie sich vorher aus, wenn man dich als Paradebeispiel für die Menschheit betrach­tet.“

„Wie dem auch sei“, meinte Adama, ohne eine Verstimmung angesichts der spitzen Be­merkung des Bruders erkennen zu lassen. „Die Pferde sind bereit. Ich reite mit den Män­nern los und treffe meine Freunde an der großen Brücke.“

„Ich komme mit“, sagte Andron.

„Gut!“, rief Adama und klopfte dem kleinen Bruder auf die Schulter. „Dabei lernst du mehr als in der Schule. Du wirst heute deinen ersten Fuchs erlegen! “

„Viel Erfolg“, wünschte der Vater in tiefem Bass durch den kräftigen braunen Bart. „Und bes­ten Gruß an die Fürsten.“

„Jawohl, Vater!“, rief Adama. „Deine Söhne werden dir Ehre erweisen. Jedenfalls die muti­gen und edlen unter ihnen!“

„Verschwinde bloß, du Aufschneider!“, rief Adebar dem Bruder nach. „Ich sehe keinen Sinn darin, wie ein Wilder Füchse oder Hirsche abzu­schlachten.“

„Beneide uns, wenn wir mit ihrem Fell zurück­kehren!“, erwiderte Adama und verließ mit Andron den Saal. Bald darauf sah man sie mit einer Gruppe weiterer Männer, bewaffnet mit Pfeil und Bogen oder Armbrust, geschwind vom Hof reiten.

„Noch immer kein Zeichen von den Jungen“, mel­dete der Hofmeister nach Einbruch der Dunkelheit.

„Sie müssten seit Stunden wieder hier sein“, sagte die Mutter besorgt.

„Vielleicht sind sie auf die absurde Idee ge­kommen, draußen in der Wildnis zu übernach­ten“, überlegte Adebar.

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, sagte der Vater. „Sie haben dafür keine Ausrüstung mitge­nommen.“

„Die anderen Jäger könnten dafür etwas dabei gehabt haben“, gab Adebar zu bedenken. „Oder man hat sie vielleicht auf einen anderen Hof einge­laden zur Übernachtung.“

„Niemals hätten sie uns im Ungewissen gelas­sen“, sagte die Mutter. „Wir wissen alle um die Ge­fahren dieser Tage. Unheimliche Dinge gehen vor sich. Und erst recht dort draußen in der Wildnis.“

„Es kommt jemand!“, verkündete der Hofmeis­ter.

Kurz danach ritten Adama und ein halbes Dutzend anderer Männer in den Hof und stiegen mit Fa­ckeln in den Händen von ihren Pferden.

„Wo ist Andron?“, rief die Mutter, die mit den anderen gemeinsam in den Hof gelaufen war.

„Es ist furchtbar“, sagte Adama verzweifelt. „Wir haben stundenlang gesucht, aber nichts ge­funden. Die Füchse müssen sich Andron ge­schnappt und ihn in die tiefsten Höhlen ver­schleppt haben.“

Über zwei der Pferderücken hingen schlanke tote Leiber. Die Männer hatten zwei Füchse erlegt, deren nackte elegante Körper mit menschlichen Gliedmaßen und wildem tierischen Antlitz von zar­tem roten Fell bedeckt waren.

„Andron war über einen Hügel voraus ge­ritten“, berichtete Adama. „Dann haben wir ihn aus den Augen verloren und nicht mehr wiedergefun­den. Es ist alles meine Schuld! Wir stellen einen schwer bewaffneten Trupp zusammen und machen uns sofort wieder auf die Suche!“

„Wenn die Füchse einen Menschen greifen“, erklärte der Vater grimmig, „dann sieht man ihn nie mehr wieder. Dieses ganze wilde Gesocks ge­hört ausgerottet!“

„Sonst sind sie doch immer geflohen“, sagte Adebar. „Sie waren kaum gefährlicher als Ha­sen und Rehe. Seit Jahren wurde hier kein Mensch mehr von Füchsen angegriffen.“

„In letzter Zeit wurde öfters von seltsamem Verhalten der Unwesen berichtet“, sagte Ada­ma.

„Das kann nur eins bedeuten“, sagte der Vater. „Im Wilden Volk ist wieder ein Zauberer herange­wachsen. Das ist in der Tat seit Jahrzehnten nicht passiert. Fragt sich, ob zuerst die rote Sonne er­lischt oder die Wilden alle Menschen in diesem Landstrich vernichten.“

„Haben die Füchse Andron getötet?“, fragte Alena entsetzt.

„Sie töten für gewöhnlich keine Menschen“, erklärte die Mutter wie entgeistert. „Soweit man es von früher weiß, halten sie Menschen als Sklaven - und foltern sie auf grausame Weise!“

„Wir müssen den Kampf aufnehmen!“ stellte Adama fest und gab den anderen Männern hitzig Anweisungen.

Adebar schloss seine Augen und flüsterte eine Formel. Er wollte einen Suchzauber we­ben, aber entweder war Andron bereits zu weit entfernt oder etwas anderes verhinderte, dass der Zauber wirkte und Adebar geistig die Spur des Bruders aufneh­men konnte. Er sah vor seinem inneren Auge ledig­lich dunkle Hügel und Felder, aber keine Hinweise auf den Gesuchten.

Kurz darauf ritten die mit Schwertern, Streitäx­ten, Speeren und Hellebarden bewaffneten Männer unter Adamas Führung wieder los. Doch die Füch­se hatten sich in die tiefste Wild­nis des Nordens zurückgezogen und drei Wochen später war noch immer keine Spur des entführten Jungen gefunden.

Das nächste Jahr brachte weiteres Unheil über die Menschheit. Im Süden wurden viele Tausende in Schlachten und Raubzügen getötet, bevor es zu zahlreichen starken Erdbe­ben, mächtigen Vulkan­ausbrüchen, gewaltigen Stürmen und schrecklichen Flutkatastro­phen kam, deren todbringende Verhee­rungen hunderttausende Menschen und Tiere in kurzer Zeit das Leben kosteten. Die letzten Städte des Reiches verloren zunehmend die Verbindung zu anderen Weltgegenden und bald kam es auch hier, im vormals reichen und sicheren Atlantis, zu schweren Engpässen bei der Versorgung mit den nötigsten Lebens­mitteln. Die städtischen Einrich­tungen des früheren bürgerlichen Daseins wurden weitge­hend abgebaut, da die Bevölkerung sich vor­nehmlich um die Reste von Landwirtschaft und Viehhaltung für das nackte Überleben kümmern musste. Einzig am Hofe von Atlanti­um wurde der gewohnte Lebenswandel des Königshauses und des Hochadels vorerst noch aufrecht erhalten.

Der Landsitz von Adebars Familie und die be­nachbarten Fürstenhöfe hatten sich mit ihren ge­treuen Mannschaften bis unter die Zähne bewaffnet und ein Netzwerk zur eigenen Ver­sorgung gegrün­det, dass man in den nächsten Jahren erbittert ge­gen die zu erwartenden Begehrlichkeiten der ar­men Bevölkerung aus den nächsten Städten und Dörfern zu vertei­digen gedachte. An gesellschaftli­chen Austausch oder kulturelle Betätigung war deshalb für Adebar nicht mehr zu denken.

In die Wildnis des Nordens konnte man sich in­dessen ebenfalls nur noch in größeren be­waffneten Gruppen wagen, um Wildbrett zu jagen, da die wil­den Tiere und die lange Zeit verborgenen Unwesen sich dort so schnell wie der Wind vermehrten und auf Menschen­fleisch lauerten. Einzig von den Füchsen war vorerst kaum mehr etwas zu sehen. Die Hoffnung, Andron jemals wiederzufinden und zu befreien, hatten deshalb alle aufgegeben. Denn falls auch die roten Hybridwesen unter Hunger und anderen Bedrohungen litten, würden sie eine kräf­tige Mahlzeit den sadistischen Spielfreuden ihrer Sklavenhaltung si­cherlich vorziehen.

Die Zauberer von Atlantis

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